Mord im Gurkenbeet Alan Bradley Flavia de Luce Die junge Flavia de Luce staunt nicht schlecht, als sie im ersten Morgenlicht eine Leiche im Garten entdeckt – ausgerechnet im Gurkenbeet! Jeder hält ihren Vater für den Mörder, denn Colonel de Luce hat sich noch tags zuvor mit dem Verblichenen gestritten. Nur ein einziger Mensch glaubt felsenfest an die Unschuld des Colonels – seine neunmalkluge Tochter Flavia. Schließlich ist der Ermordete vergiftet worden, und – ganz im Gegensatz zu Flavia, die eine begnadete Giftmischerin ist – ihr Vater hat nie Interesse an der Chemie des Todes gezeigt. Also fragt Flavia in vermeintlich kindlicher Unschuld sämtlichen Zeugen Löcher in den Bauch. Hartnäckig folgt sie jeder noch so abwegigen Spur – bis sie einsehen muss, dass ihr Vater tatsächlich ein dunkles Geheimnis hütet. Und so befürchtet Flavia, dass sie vielleicht eine zu gute Detektivin ist … Gewitzt, ironisch und unwiderstehlich liebenswert – Flavia de Luce ist eine Ermittlerin, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat! Eine liebenswerte Giftmischerin. Der Debütroman von Alan Bradley sorgte bereits vor Erscheinen für eine beispiellose Sensation: Er wurde mit dem renommiertesten Krimipreis der Welt ausgezeichnet, dem „Dagger Award“ – auf der Basis eines einzigen Kapitels! Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Sweetness at the Bottom of the Pie« bei Orion, an imprint of the Orion Publishing Group Ltd., London. Für Shirley Die Streusel schmecken süß, jedoch - viel süßer schmeckt der Boden noch. William King: The Art of Cookery 1 Im Wandschrank war es so dunkel, und die Dunkelheit hat te die Farbe von altem Blut. Sie hatten mich einfach reingeschubst und abgeschlossen. Ich sog die abgestandene Luft tief durch die Nase ein und bemühte mich, ruhig zu bleiben. Ich versuchte, bei jedem Einatmen bis zehn zu zählen und bei jedem Ausatmen bis acht. Zum Glück hatten sie mir den Knebel so fest in den Mund gesteckt, dass meine Nasenlöcher frei geblieben waren und ich einen tiefen Schnaufer nach dem anderen machen konnte. Ich versuchte, die Fingernägel unter den Seidenschal zu zwängen, mit dem sie mir die Hände auf den Rücken gefesselt hatten, aber weil ich mir die Nägel immer bis auf die Kuppen abkaue, klappte es nicht. Wenigstens hatte ich daran gedacht, die Finger aufeinanderzulegen und die Handflächen auseinanderzudrücken, als sie den Knoten festgezogen hatten. Jetzt ließ ich die Handgelenke kreisen und drückte die Hände gegeneinander, bis die Fesseln ein bisschen nachgaben, worauf ich den Knoten mit den Daumen herunterziehen konnte, bis er erst in meiner Handfläche landete - und dann zwischen meinen Fingern. Wären sie so schlau gewesen, mir auch die Daumen zu fesseln, hätte ich mich nie im Leben befreien können. Diese Trottel! Als meine Hände endlich frei waren, war der Knebel schnell entfernt. Jetzt die Tür. Aber erst musste ich mich vergewissern, dass sie nicht davor auf der Lauer lagen. Ich spähte durchs Schlüsselloch auf den Dachboden hinaus. Kein Mensch war zu sehen, nur dunkle Ecken, das übliche Dachbodengerümpel und allerlei ausrangierte Möbel. Die Luft war rein. Ich griff über den Kopf nach hinten und drehte einen der drahtenen Kleiderhaken heraus. Indem ich das krumme Ende in das Schlüsselloch steckte und das andere Ende nach unten drückte, bog ich mir einen L-förmigen Haken zurecht, mit dem ich in den Tiefen des alten Schlosses herumstochern konnte. Nachdem ich eine Weile zielstrebig hier und dort probiert und gefummelt hatte, wurde ich mit einem zufriedenstellenden Klick belohnt. Es war beinahe zu einfach gewesen. Die Tür ging auf, und ich war wieder frei. Ich hüpfte die breite Steintreppe zur Eingangshalle hinunter und blieb ganz kurz vor der Esszimmertür stehen, nur so lange, wie ich brauchte, um meine Zöpfe auf den Rücken zu werfen, wo sie normalerweise immer lagen. Vater bestand nach wie vor darauf, dass das Abendessen pünktlich zur gewohnten Zeit serviert und an unserem Esstisch aus massiver Eiche eingenommen wurde. Genau wie damals, als meine Mutter noch lebte. »Sind Ophelia und Daphne noch nicht unten, Flavia?«, fragte er leicht gereizt und blickte von der neuesten Ausgabe des British Philatelist, der Zeitschrift für den Briefmarkenfreund, auf, die neben seinem Teller mit Braten und Kartoffeln lag. »Die habe ich schon ewig nicht mehr gesehen«, antwortete ich. Was der Wahrheit entsprach. Ich hatte die beiden nicht mehr gesehen - seit sie mich gefesselt und geknebelt und mit verbundenen Augen die Dachbodentreppe hochgeschleift und in den Schrank gesperrt hatten. Vater schaute mich die gesetzlich vorgeschriebenen vier Sekunden Ich schenkte ihm ein so breites Lächeln, dass er eine prächtige Aussicht auf die Zahnspange hatte, mit der mein Gebiss verdrahtet war. Obwohl ich damit wie ein Luftschiff ohne Au ßenhülle aussah, wurde mein Vater gern ab und zu daran erinnert, dass er für sein Geld auch etwas bekam. Diesmal war er jedoch viel zu beschäftigt, um darauf zu achten. Daraufhin hob ich den Deckel der mit Schmetterlingen und Brombeerranken handbemalten Terrine hoch und entnahm ihr eine großzügige Portion Erbsen. Unter Verwendung meines Messers als Lineal und meiner Gabel als Gerte dirigierte ich die Erbsen so, dass sie sich in Reih und Glied auf meinem Teller formierten. Die kleinen grünen Kugeln bildeten so exakt ausgerichtete Zweierreihen, dass der Anblick das Herz des penibelsten Schweizer Uhrmachers hätte höher schlagen lassen. Anschließend piekte ich sie von links unten nach rechts oben mit der Gabel auf und verputzte sie. Ophelia war an allem schuld. Schließlich war sie schon siebzehn, weshalb von ihr inzwischen das Mindestmaß an Reife erwartet wurde, über das sie demnächst als Erwachsene verfügen sollte. Dass sie sich mit der dreizehnjährigen Daphne verbündete, war einfach nicht fair. Zusammen waren die beiden schon dreißig! Dreißig Jahre gegen meine kümmerlichen elf! Das war nicht nur unsportlich, sondern geradezu niederträchtig. Und es schrie förmlich nach Rache. Am nächsten Morgen, als ich in meinem Labor im obersten Stock des Ostflügels gerade mit einigen Glaskolben und Reagenzgläsern beschäftigt war, kam Ophelia einfach so hereingeplatzt. »Wo ist meine Perlenkette?« Ich zuckte die Achseln. »Seit wann bin ich für deine Klunker verantwortlich?« »Ich weiß, dass du sie weggenommen hast. Die Pfefferminzbonbons aus meiner Unterwäscheschublade sind auch weg, und mir ist nicht entgangen, dass alle in diesem Haushalt vermissten Pfefferminzbonbons früher oder später im selben ungewaschenen Mund wieder auftauchen.« Ich regulierte die Flamme des Brenners, auf dem ich ein Becherglas mit einer roten Flüssigkeit erhitzte. »Wenn du damit andeuten möchtest, dass meine Körperpflege nicht denselben hohen Standards entspricht wie die deine, kannst du mir mal die Überschuhe lecken.« »Flavia!« »Und zwar kreuzweise. Ich habe es satt, immerzu als Sündenbock herzuhalten, Feely.« Aber mein berechtigter Zorn verflog im Nu, als Ophelia kurzsichtig in das rubinrote Becherglas linste, in dem es just in diesem Augenblick zu brodeln anfing. »Was ist das für ein klebriges Zeug auf dem Boden?« Sie klopfte mit einem langen, sorgsam gefeilten Fingernagel an das Glas. »Das ist ein Experiment. Vorsicht, Feely! Das ist Säure!« Ophelia wurde leichenblass. »Das ist doch meine Kette! Die hab ich von Mama geerbt!« Ophelia war die einzige von Harriets Töchtern, die von unserer Mutter als »Mama« sprach, denn sie war die einzige von uns dreien, die alt genug war, sich noch an die Frau aus Fleisch und Blut zu erinnern, die uns unter dem Herzen getragen hatte. Eine Tatsache, die uns Ophelia bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter die Nase rieb. Harriet war, als ich gerade mal ein Jahr alt war, beim Bergsteigen ums Leben gekommen, und seither wurde auf Buckshaw nicht oft von ihr gesprochen. War ich eifersüchtig auf Ophelias Erinnerungen? Nahm ich es ihr übel, dass sie sich noch an unsere Mutter erinnern konnte? Ich glaube nicht. Es ging viel tiefer. Aus unerfindlichen Gründen verabscheute ich Ophelias Erinnerungen an unsere Mutter. Ich hob ganz langsam den Kopf, damit meine runden Brillengläser Ophelia ordentlich anblitzten, denn ich wusste, dass meine Schwester dann jedes Mal das beklemmende Gefühl bekam, vor einem verrückten deutschen Wissenschaftler aus einem alten Schwarzweißfilm zu stehen. »Blöde Kuh!« »Gewitterziege!«, fauchte ich zurück. Aber erst, nachdem Ophelia auf dem Absatz kehrtgemacht hatte - übrigens ausgesprochen elegant - und hinausgerauscht war. Die Vergeltung ließ nicht lange auf sich warten. Was ich von Ophelia schon gewohnt war. Sie war, im Gegensatz zu mir, keine geduldige Planerin, die davon überzeugt war, dass man das Süppchen der Rache möglichst lange köcheln lassen musste, um es zur Perfektion reifen zu lassen. Gleich nach dem Abendessen, als sich Vater wieder in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, um über seiner Sammlung papierener Miniaturporträts zu brüten, legte Ophelia das silberne Buttermesser, in dem sie die letzte Viertelstunde wie ein Wellensittich ihr Spiegelbild betrachtet hatte, ein klein wenig zu bedächtig auf den Tisch. Dann verkündete sie unvermittelt: »Weißt du, eigentlich bin ich gar nicht deine richtige Schwester. Und Daphne auch nicht. Darum sind wir auch so ganz anders als du. Dir ist wahrscheinlich noch nie in den Sinn gekommen, dass du bloß adoptiert worden bist.« Ich ließ den Löffel fallen, dass es nur so schepperte. »Das stimmt nicht! Ich bin Harriet wie aus dem Gesicht geschnitten! Das sagen alle.« »Eben deswegen hat Mama im Heim für ledige Mütter gerade dich ausgesucht.« Ophelia schnitt eine angeekelte Grimasse. »Wie konnte ich ihr denn ähnlich sehen, wo ich doch ein Neugeborenes war und sie eine Erwachsene?« So leicht ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen. »Weil du sie an ihre eigenen Babybilder erinnert hast. Herrje, sie hat die Fotos sogar mitgeschleppt und zum Vergleich neben dich gehalten.« Ich wandte mich an Daphne, die ihre Nase tief in eine ledergebundene Ausgabe von Die Burg von Otranto steckte. »Das ist gelogen, Daffy, stimmt’s?« »Leider nein.« Daphne schlug behutsam eine zwiebelhautdünne Seite um. »Vater hat immer gesagt, dass es dich aus den Schuhen hauen wird, wenn du es eines Tages erfährst. Wir mussten ihm beide schwören, dass wir es dir nie verraten würden. Jedenfalls nicht vor deinem elften Geburtstag. Wir mussten einen richtigen Eid ablegen.« »Eine grüne Gladstone-Tasche«, mischte sich Ophelia wieder ein, »hab ich selber gesehen. Ich hab gesehen, wie Mama ihre eigenen Babyfotos in eine grüne Gladstone-Tasche gesteckt hat und in das Heim gefahren ist. Ich war damals zwar erst sechs, fast sieben, aber ich werde ihre vornehm blassen Hände niemals vergessen … wie sie mit ihren schlanken Fingern die Messingschließe zugemacht hat.« Ich brach in Tränen aus, sprang auf und rannte aus dem Esszimmer. Erst am nächsten Morgen beim Frühstück kam mir das Gift in den Sinn. Wie alle großartigen Pläne war auch dieser ganz einfach. Buckshaw war seit undenklichen Zeiten das Zuhause unserer Familie, der de Luces. Das jetzige Gebäude im georgianischen Stil wurde errichtet, nachdem das ursprüngliche elisabethanische Haus von den Dorfbewohnern, die den de Luces unterstellten, mit den Oraniern zu sympathisieren, bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden war. Dass wir vierhundert Jahre lang glühende Katholiken gewesen waren und sich daran auch nichts geändert hatte, konnte die aufgebrachten Bürger von Bishop’s Lacey nicht besänftigen. Das »Alte Haus«, wie es damals hieß, war in Flammen aufgegangen, und inzwischen Zwei spätere Familienmitglieder, Antony und William de Luce, die über den Krimkrieg in Streit geraten waren, hatten die Anlage verschandelt, indem jeder nachträglich einen Flügel hatte anbauen lassen: William den Ostflügel, Antony den Westflügel. Jeder hatte sich in sein höchsteigenes Herrschaftsgebiet zurückgezogen, und jeder hatte dem anderen untersagt, auch nur einen Fuß über den schwarzen Strich zu setzen, den sie quer durch die vordere Eingangshalle, das Vestibül und das Wasserklosett des Butlers hinter der Treppe gezogen hatten. Die beiden gelben, pustelhaft viktorianischen Ziegelanbauten, zeigten wie die steinernen Schwingen eines Friedhofsengels nach hinten, was den hohen Fenstern und Fensterläden der georgianischen Fassade in meinen Augen das affektierte, leicht verdutzte Aussehen einer alten Jungfer mit schmerzhaft straffem Haarknoten verlieh. Ein späterer de Luce - Tarquin, auch »Tar« genannt - hinterließ nach einem spektakulären Nervenzusammenbruch das, was einmal eine brillante Chemikerkarriere zu werden versprach, als Scherbenhaufen. Er wurde in dem Sommer, in dem Königin Viktoria ihr fünfundzwanzigjähriges Thronjubiläum beging, von der Universität Oxford verwiesen. Tars nachsichtiger Vater, stets besorgt um die schwache Gesundheit seines Sohnes, hatte weder Kosten noch Mühen gescheut, ihm im obersten Stock des Ostflügels ein richtiges Labor einzurichten: komplett mit Glasbehältern, Mikroskopen und einem Spektroskop aus Deutschland, Messingwaagen aus Luzern sowie einer verwirrend geformten, mundgeblasenen deutschen Geißlerröhre, an der Tar elektrische Spulen befestigen konnte, um zu untersuchen, wie verschiedene Gase fluoreszieren. Auf einem Schreibtisch vor dem Fenster stand ein Leitz-Mikroskop, Es gab sogar ein Skelett auf einem Rollständer, das Tar im zarten Alter von zwölf Jahren von dem berühmten Naturforscher Frank Buckland geschenkt bekommen hatte, dessen Vater einst das mumifizierte Herz von König Ludwig XIV. verzehrt hatte. Drei Wände waren mit deckenhohen Schränken und Vitrinen versehen, von denen wiederum zwei mit Chemikalien in gläsernen Apothekengefäßen vollgestellt waren, ein jedes mit Tar de Luces akribischer Handschrift beschriftet, denn Tar hatte dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen und sie alle überlebt. Er war 1928 im Alter von sechzig Jahren inmitten seines chemischen Königreichs gestorben, wo er eines Morgens von seinem Verwalter gefunden wurde, am Schreibtisch sitzend und mit dem gebrochenen Auge durch sein geliebtes Leitz-Mikroskop spähend. Man munkelte, er habe sich mit dem Zerfall erster Ordnung von Stickstoffpentoxid beschäftigt. Wenn das stimmt, handelt es sich um die erste belegte Forschung zu einer Reaktion, die letztendlich zur Entwicklung der Atombombe führte. Onkel Tars Schatzkammer wurde verschlossen und verharrte in staubiger ungestörter Stille, bis das, was Vater meine »skurrile Begabung« nannte, zutage trat und ich so weit war, das Labor für mich zu beanspruchen. Mich überläuft immer noch jedes Mal ein freudiger Schauer, wenn ich an den regnerischen Herbsttag denke, an dem die Chemie in mein Leben trat. Ich war beim Bergsteigerspielen in der Bibliothek an den Regalen hochgeklettert, als ich mit dem Fuß abrutschte und ein dickes Buch zu Boden polterte. Als ich es aufhob und die zerknitterten Seiten glatt streichen wollte, sah ich, dass es nicht nur Worte, sondern auch lauter Abbildungen enthielt. Zum Beispiel gossen körperlose Hände Flüssigkeiten in eigenartig geformte Glasbehälter, die außerirdischen Musikinstrumenten glichen. Der Titel des Buches lautete Grundzüge der Chemie, und ich entnahm dem Werk im Handumdrehen, dass das Wort Jod von »violett« und das Wort »Brom« vom griechischen Wort für »Gestank« abgeleitet ist. Hochspannend! Ich schob den dicken roten Wälzer unter meinen Pullover und nahm ihn mit nach oben in mein Zimmer, und erst viel später entdeckte ich, dass jemand H. de Luce auf das Vorsatzblatt geschrieben hatte. Das Buch hatte Harriet gehört. Schon bald vertiefte ich mich in jeder freien Minute in meine neue Errungenschaft. Abends konnte ich es manchmal kaum erwarten, endlich ins Bett gehen zu dürfen. Harriets Buch war inzwischen mein heimlicher Freund. Es führte sämtliche Alkalimetalle eingehend auf: Metalle mit wunderlichen Namen wie Lithium und Rubidium, außerdem Erdalkalien wie Strontium, Barium und Radium. Als ich las, dass eine Frau, nämlich Madame Curie, das Radium entdeckt hatte, stieß ich einen Freudenschrei aus. Und dann die Giftgase: Phosphin, Arsin (von dem eine einzige Blase tödlich sein kann), Stickstoffpentoxid, Schwefelwasserstoff … die Liste war schier endlos. Als ich entdeckte, dass mein Buch auch noch ausführliche Anleitungen für die Herstellung dieser Stoffe enthielt, war ich im siebten Himmel. Sobald ich mir beigebracht hatte, wie man chemische Gleichungen liest (etwa K4FeC6N6 + 2K = 6KC N + Fe, womit die Reaktion beschrieben wird, die auftritt, wenn man das gelbe Prussiat Pottasche oder auch Kalziumkarbonat erhitzt, um Kaliumzyanid Am spannendsten fand ich aber, dass alles (die ganze Schöpfung - ohne Ausnahme!) von unsichtbaren chemischen Verbindungen zusammengehalten wurde. Und ich fand es aus unerfindlichen Gründen ausgesprochen tröstlich, dass es irgendwo - selbst wenn es unsereiner nicht sehen kann - etwas unerschütterlich Dauerhaftes gibt. Anfangs kam ich nicht gleich darauf, den offenkundigen Zusammenhang zu bemerken - nämlich den zwischen dem Buch und dem verlassenen Labor; aber als der Groschen endlich fiel, erwachte mein Leben erst zum richtigen Leben, falls irgendwer versteht, wie ich das meine. Hier, in Onkel Tars Labor, standen ordentlich aufgereiht sämtliche Chemiebücher, die er einst liebevoll zusammengetragen hatte, und schon bald fand ich heraus, dass die meisten gar nicht so sehr über meinen Verstand gingen. Es folgten einfache Experimente, bei denen ich mich darin übte, die Anweisungen Wort für Wort zu befolgen. Was nicht heißen soll, dass es nicht gelegentlich zu beträchtlichem Gestank und etlichen Explosionen gekommen wäre, aber darüber wollen wir lieber den Mantel des Schweigens breiten. Meine Notizbücher wurden immer dicker. Sobald sich mir die Geheimnisse der organischen Chemie offenbart hatten, traute ich mir immer kniffligere Experimente zu und erfreute mich an meinem neuen Wissen darüber, was einem die Natur so alles großzügig zur Verfügung stellt. Meine besondere Vorliebe galt den Giften. Ich hieb mit einem Bambusspazierstock, den ich aus dem Elefantenfuß-Schirmständer in der vorderen Eingangshalle gemopst hatte, auf das Unkraut ein. Hier hinten im Küchengarten hatten die hohen roten Ziegelmauern die wärmende Ich bahnte mir einen Weg durch das wuchernde, letztes Jahr nicht mehr gemähte Gras, bis ich am Fuß der Mauer das Gesuchte entdeckte: ein Büschel hellrot schimmernder Pflanzen, deren dreiblättrige Stauden sich von den anderen Kletterpflanzen abhoben. Ich zog die baumwollenen Gartenhandschuhe an, die ich mir in den Gürtel gesteckt hatte, und machte mich, begleitet von einer schallend gepfiffenen Interpretation von Bibbidi-Bobbidi-Buu, frisch ans Werk. Später, als ich glücklich wieder in meinem Sanctum Sanctorum, meinem Allerheiligsten, saß - auf diesen Ausdruck war ich in einer Biografie Thomas Jeffersons gestoßen und hatte ihn mir sogleich angeeignet -, stopfte ich die bunten Blätter in einen Destillierkolben und achtete darauf, dass ich die Handschuhe erst auszog, nachdem ich alles bis ganz unten auf den Boden gedrückt hatte. Nun kam der Teil, der mir am meisten Spaß machte. Ich stöpselte den Destillierkolben zu, verband ihn auf einer Seite mit einem Glaskolben, in dem bereits Wasser kochte, und auf der anderen mit einer gewundenen gläsernen Kühlschlange, die in ein leeres Reagenzglas mündete. Das Wasser brodelte wie verrückt, und ich sah zu, wie sich der Dampf seinen Weg in den Kolben mit den Blättern bahnte. Die fingen schon an, weich zu werden und sich aufzurollen, während der heiße Dampf die winzigen Taschen zwischen den Zellen öffnete und die Essenz der Pflanze freisetzte. So hatten schon die alten Alchimisten ihre Kunst praktiziert: Feuer und Dampf, Dampf und Feuer. Destillation. Einfach herrlich. Destillation. Ich sprach es laut vor mich hin: »Des-til-lation!« Ehrfürchtig sah ich zu, wie sich der Dampf in der Glasspirale abkühlte und kondensierte, rieb mir verzückt die Hände, Plopp! in das Auffanggefäß fiel. Als das ganze Wasser verdampft war, drehte ich den Bunsenbrenner aus, stützte das Kinn in die Hände und beobachtete gespannt, wie die Flüssigkeit in dem Reagenzglas zwei Schichten bildete. Unten auf dem Boden sah man das klare destillierte Wasser, obendrauf schwamm eine gelbliche Flüssigkeit, der Pflanzensaft. Er wurde Urushiol genannt, eine Substanz, die unter anderem bei der Lackherstellung verwendet wird. Ich zog ein goldfarbenes Röhrchen aus der Pullovertasche, nahm die Kappe ab und musste schmunzeln, als die rote Spitze erschien. Es war Ophelias Lippenstift, aus der Schublade ihrer Frisierkommode geklaut, wie auch die Perlenkette und die Pfefferminzbonbons. Und Feely - Fräulein Rotzfahne - war nicht mal aufgefallen, dass ihr heißgeliebter Lippenstift verschwunden war. Apropos Pfefferminzbonbons - ich steckte eins in den Mund und zermalmte es krachend. Der Lippenstift selbst ließ sich ganz leicht herausdrehen. Ich zündete den Bunsenbrenner wieder an. Der wachsähnliche Stift verwandelte sich im Nu in eine klebrige Masse. Wenn Feely wüsste, dass man Lippenstifte unter anderem aus Fischschuppen herstellt, dachte ich, wäre sie vielleicht nicht ganz so erpicht darauf, sich das Zeug auf den Mund zu schmieren. Ich musste es ihr bei Gelegenheit mal erzählen. Aber das hatte Zeit. Mit einer Pipette entnahm ich dem Reagenzglas eine kleine Menge destillierten Saft, ließ ihn vorsichtig in die Lippenstiftpampe tröpfeln und rührte die Mixtur mit einem Holzspatel kräftig durch. Zu dünn, fand ich, nahm ein Gefäß aus dem Regal und fügte ein paar Klümpchen Bienenwachs hinzu, um die ursprüngliche Konsistenz zu erreichen. Jetzt war es wieder Zeit für die Handschuhe - und für die eiserne Patronengussform, die ich mir aus der recht passablen Feuerwaffensammlung von Buckshaw ausgeborgt hatte. Schon komisch, dass ein Lippenstift genauso groß ist wie ein Projektil vom Kaliber 45. Gut zu wissen, jedenfalls. Wenn ich heute Abend im warmen Bettchen lag, musste ich ausführlicher darüber nachdenken, was sich mit diesem Wissen noch alles anfangen ließ, jetzt war ich zu beschäftigt. Nachdem ich den roten Pfropf behutsam aus der Gussform gelöst und unter kaltem Wasser abgekühlt hatte, passte er wieder anstandslos in seine goldene Hülse. Ich drehte ihn mehrmals raus und rein, um mich zu vergewissern, dass der Stift einwandfrei funktionierte, dann schob ich die Kappe wieder darüber. Feely war eine Langschläferin und saß bestimmt noch beim Frühstück. »Wo ist mein Lippenstift, du Miststück? Was hast du damit gemacht?« »Der liegt in deiner Schublade«, antwortete ich. »Da hab ich ihn jedenfalls gesehen, als ich deine Perlenkette geklaut hab.« In meinem kurzen Leben war ich, als jüngste von drei Schwestern, wohl oder übel zu einer Meisterin der gespaltenen Zunge geworden. »In der Schublade ist er nicht. Da hab ich eben erst nachgeschaut.« »Hast du die Brille aufgehabt?«, fragte ich feixend. Obwohl uns Vater alle drei mit Brillen ausgestattet hatte, weigerte sich Feely hartnäckig, ihre aufzusetzen, und meine enthielt kaum mehr als Fensterglas. Ich trug sie fast nur im Labor, als Augenschutz, und sonst hin und wieder auch mal, um Mitleid zu erregen. Feely schlug auf den Tisch und stürmte in ihr Zimmer. Ich widmete mich seelenruhig wieder den unergründlichen Tiefen meiner zweiten Schüssel Weetabix. Später schrieb ich in mein Notizheft: Freitag, 2. Juni 1950, 9.42 Uhr. Verhalten der Versuchsperson normal, wenn auch missmutig. (Aber so ist sie eigentlich immer.) Eintritt der Wirkung kann zwischen 12 und 72 Stunden betragen. Ich konnte warten. Mrs Mullet, die untersetzt und grau und rund wie ein Mühlstein war und die, da bin ich mir sicher, sich für eine Gestalt aus einem Gedicht von A. A. Milne hielt, war in der Küche mit einem ihrer eitergelben Schmandkuchen beschäftigt. Wie gewöhnlich kämpfte sie mit dem riesigen AGA-Herd, der die kleine, vollgestopfte Küche schier erschlug. »Ach, du bist’s, Miss Flavia! Hilf mir doch bitte mal mit dem Herd, mein Schatz.« Noch ehe mir eine passende Erwiderung einfiel, stand Vater hinter mir. »Ich muss dich kurz sprechen, Flavia.« Sein Ton war gewichtig wie die Bleistücke an den Stiefeln eines Tiefseetauchers. Ich schielte zu Mrs Mullet hinüber. Die pflegte sich nämlich beim kleinsten Anzeichen von Missstimmigkeiten aus dem Staub zu machen. Einmal hatte sie sich sogar, als Vater die Stimme erhoben hatte, in einen Teppich eingerollt und sich geweigert, wieder herauszukommen, bis man nach ihrem Mann geschickt hatte. Sie schloss die Backofentür so behutsam, als wäre sie aus kostbarstem Kristallglas. »Ich muss los«, verkündete sie. »Das Mittagessen steht in der Wärmeklappe.« »Vielen Dank, Mrs Mullet«, sagte Vater. »Das kriegen wir schon hin.« Wir kriegten es immer hin. Sie öffnete die Küchentür - und stieß unvermittelt einen Schrei aus wie ein in die Enge getriebener Dachs. »Ach herrje! Entschuldigen Sie vielmals, Colonel de Luce, aber … um Himmels willen!« Vater und ich mussten uns an ihr vorbeidrängeln. Es war ein Vogel. Eine Zwergschnepfe. Und zwar eine tote. Sie lag rücklings auf der Treppe, die steifen Flügel wie ein kleiner Flugsaurier ausgebreitet, die Augen mit einem ziemlich unschönen Film überzogen, und der lange schwarze nadelartige Schnabel zeigte senkrecht in die Luft. Etwas war darauf aufgespießt und wehte im Morgenwind - ein Fitzelchen Papier. Nein, kein Papierfitzelchen, sondern eine Briefmarke. Vater bückte sich und rang plötzlich nach Luft. Er griff sich an die Kehle, seine Hände zitterten wie Espenlaub im Herbst, und sein Gesicht war aschfahl.  2 Es überlief mich, wie es so schön heißt, eiskalt. Erst dachte ich, er hätte einen Herzanfall, wie es Vätern mit sitzender Lebensweise öfters passiert. Eben noch bläuen sie dir ein, du sollst jeden Bissen mindestens neunundzwanzigmal kauen, am nächsten Tag stehen sie schon im Daily Telegraph: Calderwood, Jabez, wohnhaft in The Parsonage, Frinton. Samstag, den 14ten d. Monats, mit zweiundfünfzig Jahren plötzlich verstorben … Ältester Sohn von etcetera … etcetera … hinterlässt die Töchter Anna, Diana und Trianna … Calderwood, Jabez und seinesgleichen haben die Angewohnheit, aus heiterem Himmel in ebenjenen aufzufahren und etliche untröstliche Töchter zurückzulassen, die von Stund an allein zurechtkommen müssen. Hatte ich nicht selbst schon ein Elternteil verloren? Vater würde doch gewiss nicht derart gemein sein! Oder doch? Nein. Schon schnaufte er wieder geräuschvoll wie ein Droschkengaul und streckte die Hand nach dem toten Federvieh aus. Seine langen, blassen Finger zupften die Briefmarke wie eine Pinzette von dessen Schnabel, dann steckte er den durchlöcherten Schnipsel rasch in die Westentasche. Anschließend deutete er mit dem zittrigen Zeigefinger auf den kleinen Kadaver. »Schaffen Sie das Vieh weg, Mrs Mullet!«, sagte er mit einer »Oje oje, Colonel de Luce«, erwiderte Mrs Mullet.«Oje oje, Colonel … ich kann doch nicht … ich glaube … ich meine …« Aber Vater hatte bereits stampfend und schnaufend wie ein Güterzug den Rückzug in sein Arbeitszimmer angetreten. Als Mrs M. mit der Hand vor dem Mund das Kehrblech holen lief, verdrückte ich mich ebenfalls in mein Zimmer. Die Schlafzimmer auf Buckshaw waren riesige, düstere Zeppelin-Hangare, und meines, das sich im Süd-, beziehungsweise »Tar«-Flügel befand, war das allergrößte. Die frühviktorianische Tapete (senfgelb mit einem sonderbaren Muster, das an blutrote Garnklumpen erinnerte) ließ es noch größer wirken: eine kalte, uferlose, zugige Einöde. Sogar im Sommer war der Gang quer durchs Zimmer zum fernen Waschtisch am Fenster ein Abenteuer, vor dem jeder Polarforscher zurückgeschreckt wäre. Nicht zuletzt deswegen schob ich diesen Gang auf und kletterte schnurstracks auf mein Himmelbett, wo ich im Schneidersitz und in eine Wolldecke gehüllt bis in alle Ewigkeit hocken und über mein Leben nachsinnen konnte. So dachte ich beispielsweise daran, wie ich versucht hatte, mit einem Buttermesser Kratzproben von meiner nach Gelbsucht aussehenden Tapete zu entnehmen. Dazu angeregt hatte mich Daffy, als sie einmal mit vor Schreck geweiteten Augen eine Geschichte von A. J. Cronin nacherzählt hatte, in der irgendein armer Teufel erst krank wurde und dann starb, weil sein Schlafzimmer mit arsenhaltiger Wandfarbe gestrichen war. Hoffnungsvoll brachte ich die abgeschabten Brösel hoch ins Labor zur Analyse. Aber bei mir gab es keinen langweiligen Marsh-Test, vielen Dank auch! Ich zog die Methode vor, bei der Arsen erst in Du kannst dir meine Enttäuschung sicher vorstellen, als ich herausfand, dass meine Probe keinerlei Arsen enthielt. Die Farbe bestand aus irgendeinem stinknormalen Pflanzensaft, vermutlich von der gemeinen Salweide (Salix caprea) gewonnen oder von einem anderen harmlosen, todlangweiligen Gewächs. Irgendwie lenkte das meine Gedanken wieder zurück zu Vater. Warum hatte ihm die Entdeckung vor der Küchentür solche Angst eingejagt? War es überhaupt Angst gewesen, was ich auf seinem Gesicht gelesen hatte? Doch, daran bestand eigentlich kaum ein Zweifel. Was sollte es sonst gewesen sein? Mit Vaters Jähzorn, seiner Ungeduld, seiner Übermüdung, seiner unvermittelten Niedergeschlagenheit war ich nur allzu vertraut. Alle diese Stimmungen zogen hin und wieder über sein Gesicht wie Wolkenschatten über unsere englischen Hügel. Dabei fürchtete sich Vater ganz gewiss nicht vor toten Vögeln. Ich hatte schon oft zugesehen, wie er einer dicken, runden, gebratenen Weihnachtsgans zu Leibe gerückt war und dabei sein Besteck geschwungen hatte wie ein orientalischer Mordbube. Im vorliegenden Fall durfte es ihm ja wohl kaum einen Schrecken eingejagt haben, dass das Tier noch Federn gehabt hatte. Oder war es das tote Auge gewesen? Und die Briefmarke konnte es auch nicht gewesen sein. Vater liebte Briefmarken mehr als seine eigenen Kinder. Das Einzige, was er noch inniger geliebt hatte als diese bunten Papierchen, war Harriet gewesen. Und die war, wie schon erwähnt, tot. So tot wie die Schnepfe. War Vater deshalb so erschüttert gewesen? »Nein! Nein! Geht weg!« Die barsche Stimme drang durch mein offenes Fenster und schnitt meinen Gedankenfaden - Schnips! - mitten durch. Ich warf die Decke ab, sprang aus dem Bett, lief ans Fenster und spähte in den Küchengarten hinunter. Es war Dogger, der da gerufen hatte. Er stand mit dem Rücken an der Gartenmauer aus verwitterten roten Ziegeln und spreizte die wettergegerbten Finger. »Kommt mir ja nicht zu nahe! Haut ab!« Dogger war Vaters Bediensteter, sein Faktotum. Und er war allein im Garten. Man munkelte - beziehungsweise Mrs Mullet munkelte -, Dogger habe zwei Jahre in japanischer Kriegsgefangenschaft geschmachtet, gefolgt von über einem Jahr der Folter, des Hungers, der Mangelernährung und Zwangsarbeit an der Eisenbahnlinie des Todes, zwischen Thailand und Burma, wo er, so hieß es, gezwungen gewesen war, sich von Rattenfleisch zu ernähren. »Du musst nachsichtig mit ihm sein, Schatz«, hatte sie gemeint. »Er ist völlig mit den Nerven runter.« Ich schaute zu ihm hinab, wie er so im Gurkenbeet stand, die vorzeitig weiß gewordenen Haare nach allen Seiten abstehend und den Blick, allem Anschein nach ohne etwas zu sehen, gen Himmel gerichtet. »Ist schon gut, Dogger«, rief ich. »Ich hab sie von hier oben aus im Griff.« Ich dachte schon, er hätte mich nicht gehört, doch da wandte »Alles klar, Dogger«, rief ich. »Sie sind weg.« Da sackte er in sich zusammen, als hätte man ihm den Strom abgeschaltet. »Miss Flavia?« Seine Stimme bebte. »Bist du das, Miss F lavia?« »Ich komm runter!«, rief ich. »Bin gleich da.« Ich sauste wie ein geölter Blitz die Hintertreppe hinunter in die Küche. Mrs Mullet war nach Hause gegangen, aber der Schmandkuchen stand zum Abkühlen am offenen Fenster. Nein, dachte ich, Dogger braucht jetzt etwas zu trinken. Vater verwahrte seinen Whisky in einem verschlossenen Bücherschrank in seinem Arbeitszimmer. Außerdem durfte ich ihn dort nicht stören. Zum Glück entdeckte ich in der Speisekammer einen Krug kalter Milch. Ich goss ein großes Glas ein und rannte in den Garten. »Bitteschön!« Dogger nahm das Glas mit beiden Händen entgegen, starrte es lange an, als wüsste er nicht recht, was er damit anfangen sollte, dann setzte er es zitternd an die Lippen. Er trank es mit langen Zügen aus und gab es mir zurück. Er sah beinahe glückselig aus, wie ein Engel von Raffael, aber dieser Eindruck verflüchtigte sich rasch wieder. »Du hast einen weißen Schnurrbart«, stellte ich fest, bückte mich zu den Gurken hinab, riss ein großes grünes Blatt ab und wischte ihm damit über die Oberlippe. Sein leerer Blick belebte sich. »Milch und Gurken …«, stammelte er. »Gurken und Milch …« »Gift!«, rief ich, vollführte Luftsprünge und schlug mit den Armen wie ein Huhn mit den Flügeln, um ihm zu zeigen, dass Er blinzelte. »Meine Güte!«, sagte er und sah sich im Garten um, wie eine Prinzessin, die soeben aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht, »also, wenn das kein schöner Tag wird …!« Vater erschien nicht zum Mittagessen. Probehalber legte ich das Ohr an die Tür zu seinem Arbeitszimmer und wartete so lange, bis ich hörte, wie drinnen die Seiten der philatelistischen Zeitschrift umgeblättert wurden und die väterliche Kehle sich räusperte. Die Nerven, dachte ich mir. Am Tisch war Daphne, die Nase tief in ihrem Horace Walpole, ihr Gurkensandwich lag aufgeweicht und in Vergessenheit geraten vor ihr. Ophelia seufzte unablässig vor sich hin, schlug die Beine übereinander, dann wieder auseinander und schließlich wieder übereinander und starrte ins Leere, sodass ich nur vermuten konnte, dass sie in Gedanken mit Ned Cropper, dem Hansdampf in allen Gassen aus dem Dreizehn Erpel, flirtete. Sie war viel zu versunken in ihren überheblichen Tagtraum, um mitzubekommen, dass ich mich vorbeugte und einen prüfenden Blick auf ihre Lippen warf, als sie geistesabwesend nach einem Rohrzuckerwürfel langte, ihn in den Mund steckte und draufloslutschte. »Mensch«, verkündete ich aufs Geratewohl, »morgen früh werden die Pickel aber prächtig sprießen.« Sie stürzte sich auf mich, aber ich war schneller als sie mit ihren Flossen. Oben schrieb ich in mein Labortagebuch: Freitag, 2. Juni 1950, 13.07 Uhr. Noch keine erkennbare Reaktion. »Ohne Geduld keine Genialität« - Disraeli Ich konnte nicht einschlafen. Meistens schlafe ich wie ein Stein, kaum dass das Licht aus ist, aber an diesem Abend war es anders. Ich lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und ließ den Tag noch einmal an mir vorüberziehen. Da war zunächst der Vorfall mit Vater. Nein, das war nicht ganz richtig. Zuerst hatte der tote Vogel auf der Schwelle gelegen - dann hatte Vater auf den Anblick reagiert. Ich glaubte zwar, Angst in seinem Gesicht gelesen zu haben, aber mich plagte trotzdem ein klitzekleiner Zweifel. In meinen Augen - in unser aller Augen - kannte Vater keine Furcht. Er hatte im Krieg viel Schreckliches erlebt, dermaßen Schreckliches, dass man ihn am besten nicht darauf ansprach. Er hatte Harriets Verschwinden und die Nachricht von ihrem Tod verkraftet. Und stets war er tapfer, standhaft, zäh und unerschütterlich gewesen. Unglaublich britisch. Immer Haltung bewahren! Aber diesmal … Zum anderen der Vorfall mit Dogger: Arthur Wellesley Dogger, um ihn »vollständig samt seinem Vatersnamen« (wie er es an seinen besseren Tagen nannte) zu bezeichnen. Dogger war ursprünglich als Vaters Diener zu uns gekommen; aber dann, als »die äußerst vielfältigen Pflichten« (seine Worte, nicht meine), die diese Stellung mit sich brachte, ihn gar zu sehr drückten, fand er es »opportuner«, erst zum Butler ernannt zu werden, dann zum Chauffeur, dann zum Haushandwerker und zu guter Letzt wieder zum Chauffeur. In den letzten paar Monaten war er die Karriereleiter wie ein welkes Blatt sanft hinuntergetrudelt, bis er auf seinem gegenwärtigen Posten als Gärtner zur Ruhe gekommen war und Vater unseren Hillman Kombi der Tombola von St. Tankred gestiftet hatte. Armer Dogger! So dachte ich, obwohl mich Daphne ermahnt hatte, so dürfe man über niemanden denken oder sprechen. »Das ist nicht nur herablassend, sondern schließt obendrein jede künftige Verbesserung aus.« Trotzdem. Wer hätte den Anblick vergessen können, wie Dogger an der Mauer gestanden hatte? Ein einfältiger Bär von einem Mann, der hilflos dasteht, die Haare ebenso in Unordnung wie sein Werkzeug, und einer Miene, als ob … als ob … Ein leises Rascheln lenkte mich ab. Ich drehte den Kopf lauschend zur Seite. Nichts. Es ist nun mal so, dass ich zufälligerweise unglaublich gut höre, dass ich, wie Vater einmal meinte, die Spinnweben an den Wänden klappern höre wie Hufeisen. Auch Harriet hat so gut gehört, und manchmal stelle ich mir vor, dass ich in gewisser Hinsicht ein absurdes Überbleibsel von ihr bin: zwei geisterhafte Ohren, die durch die heiligen Hallen von Buckshaw spuken und Dinge hören, die vielleicht lieber ungehört blieben. Aber da war es wieder! Der Widerhall einer Stimme, dumpf und tonlos, als raunte jemand in eine leere Keksdose. Ich schlüpfte aus dem Bett und huschte auf Zehenspitzen ans Fenster. Ohne den Vorhang beiseitezuziehen, spähte ich in den Küchengarten hinunter, gerade als der Mond zuvorkommenderweise hinter einer Wolke hervorglitt und die Szenerie in ein Licht tauchte, wie es gut zu einer erstklassigen Aufführung von Ein Sommernachtstraum gepasst hätte. Aber mehr als seine silbernen Strahlen, die zwischen Gurken und Rosen umhertanzten, war nicht zu erkennen. Dann hörte ich jemanden reden: eine Art zorniges Brummen wie von einer Biene im Spätsommer, die gegen eine Fensterscheibe fliegt. Ich warf einen von Harriets seidenen japanischen Morgenmänteln über (einen von zweien, die ich vor der großen Säuberung gerettet hatte), schlüpfte in die perlenbestickten indianischen Mokassins, die mir als Hausschuhe dienten, und schlich zum Treppenabsatz. Die Stimme kam von irgendwo aus dem Haus. Auf Buckshaw gab es zwei Haupttreppen, die sich spiegelbildlich Ich legte das Ohr an die Tür. »Abgesehen davon, Schnäppi«, sagte eine schurkische Stimme hinter der Täfelung, »wie konntest du mit dieser Erkenntnis weiterleben? Wie konntest du einfach so weitermachen?« Einen beklemmenden Augenblick lang dachte ich schon, der Schauspieler Georg Sanders wäre nach Buckshaw gekommen und würde Vater hinter verschlossenen Türen eine Gardinenpredigt halten. »Verschwinde«, sagte Vater. Sein Ton war zwar nicht ärgerlich, aber so ruhig und beherrscht, dass ich genau wusste, wie zornig er war. Ich sah seine gefurchte Stirn, seine geballten Fäuste und die wie Bogensehnen gespannten Kiefermuskeln vor mir. »Reg dich ab, alter Junge«, entgegnete die ölige Stimme. »Wir stecken da gemeinsam drin. Ein für alle Mal. Das weißt du genauso gut wie ich.« »Twining hatte Recht«, sagte Vater. »Du bist wirklich eine widerwärtige Kreatur.« »Twining? Der olle Teebeutel ist doch inzwischen seit drei ßig Jahren tot, Schnäppi, genau wie Jacob Marley. Und ebenso wie Marleys treibt auch sein Geist noch immer sein Unwesen. Wie dir vielleicht aufgefallen ist.« »Und wir haben ihn umgebracht«, sagte Vater tonlos. Hatte ich mich verhört? Das konnte doch nicht … Ich nahm das Ohr von der Tür, beugte mich zum Schlüsselloch hinunter und verpasste deshalb Vaters nächste Worte. Er stand neben dem Schreibtisch mit dem Gesicht zur Tür. Der Ich spitzte wieder die Ohren. »… Schande verjährt nicht«, sagte der Fremde. »Was sind schon ein paar Tausender für dich, Schnäppi? Du musst nach Harriets Tod doch einen ordentlichen Reibach gemacht haben. Mensch, allein die Versicherung …« »Halt dein dreckiges Maul!«, rief Vater. »Und verschwinde, sonst …« Da packte mich jemand von hinten und drückte mir eine raue Hand auf den Mund. Mir blieb fast das Herz stehen. Der Griff war so fest, dass ich nicht mal zappeln konnte. »Geh wieder ins Bett, Miss Flavia«, raunte mir jemand heiser ins Ohr. Es war Dogger. »Das hier geht dich nichts an«, flüsterte er. »Geh wieder ins Bett.« Er lockerte seinen Griff. Ich riss mich los und warf ihm einen giftigen Blick zu. Obwohl kein Licht brannte, konnte ich erkennen, dass sein Blick ein bisschen milder wurde. »Zisch ab!«, raunte er. Also zischte ich ab. In meinem Zimmer ging ich eine ganze Weile wütend auf und ab, wie immer, wenn mir jemand einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Ich ließ mir das Gehörte noch einmal durch den Kopf gehen. Vater ein Mörder? Ausgeschlossen! Wahrscheinlich gab es eine ganz harmlose Erklärung. Hätte ich doch nur den Rest der Unterhaltung mit angehört … Hätte mich Dogger bloß nicht erwischt! Was bildete der Kerl sich überhaupt ein? Dir werd ich’s zeigen, dachte ich. »Und zwar ohne viel Federlesens!«, verkündete ich laut. Ich ließ José Iturbi aus seiner grünen Papierhülle gleiten, zog mein tragbares Grammophon tüchtig auf, legte die zweite Seite von Chopins Polonaise in As-Dur auf den Plattenteller, warf mich aufs Bett und sang schallend: »DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah …« Es klang wie die Begleitmusik zu einem Film, in dem jemand einen alten Bentley ankurbelt, der andauernd stotternd wieder ausgeht. Nicht gerade das, womit man sich sanft ins Land der Träume wiegen lässt … Als ich die Augen aufschlug, stahl sich perlgrau die Morgendämmerung zum Fenster herein. Die Zeiger meines Messingweckers standen auf 3:44 Uhr. Mit der Sommerzeit wurde es immer sehr früh hell, und in nicht mal einer Viertelstunde würde die Sonne aufgehen. Ich reckte mich gähnend und kletterte aus dem Bett. Der Plattenspieler war längst stehen geblieben, mitten in der Polonaise; die Nadel lag reglos auf der Rille. Ich erwog flüchtig, ihn wieder aufzuziehen und das Haus mit einem polnischen Weckruf zu beglücken, aber dann fiel mir ein, was erst vor wenigen Stunden geschehen war. Ich ging zum Fenster und schaute in den Garten hinunter. Dort lag der Geräteschuppen mit seinen taubeschlagenen Scheiben, und der kantige Umriss dort drüben war Doggers umgekippte Schubkarre, die er in der Aufregung des Vortags einfach hatte liegen lassen. Ich beschloss, die Schubkarre zur Wiedergutmachung richtig hinzustellen, auch wenn ich selbst nicht recht wusste, was ich eigentlich bei Dogger wiedergutzumachen hatte. Trotzdem zog ich mich an und ging leise die Hintertreppe zur Küche hinunter. Als ich am Fenster vorbeikam, fiel mir auf, dass jemand Mrs Mullets Kuchen angeschnitten hatte. Merkwürdig, dachte ich, denn von uns de Luces war es bestimmt niemand gewesen. Falls es irgendetwas gab, worin wir uns einig waren, etwas, das uns als Familie zusammenhielt, dann war es die einmütige Abneigung gegenüber Mrs Mullets Schmandkuchen. Jedes Mal, wenn sie statt der von uns geschätzten Rhabarberoder Stachelbeerkuchen einen ihrer gefürchteten Schmandkuchen produzierte, ließen wir uns entschuldigen, täuschten irgendwelche familiären Seuchen vor und schickten sie mitsamt dem Kuchen sowie unseren allerbesten Grüßen schnurstracks nach Hause zu ihrem Gatten Alf, damit sie ihr Machwerk an selbigen verfütterte. Als ich ins Freie trat, sah ich, dass das silbrige Licht der Morgendämmerung den Garten in ein Zauberland verwandelt hatte, dessen nächtliche Schatten vom schmalen Streifen des Tages jenseits der Mauern noch vertieft wurden. Über allem lag funkelnder Tau, und es hätte mich nicht im Geringsten gewundert, wenn hinter einem Rosenstrauch ein Einhorn hervorgetreten wäre und mir den Kopf in den Schoß gelegt hätte. Dicht vor der Schubkarre stolperte ich und plumpste auf Hände und Knie. »Scheiße!«, fluchte ich und sah mich sofort um, ob mich womöglich jemand gehört hatte. Ich war mit feuchtem schwarzem Lehm verschmiert. »Scheiße!«, wiederholte ich etwas gedämpfter. Als ich mich umdrehte, um nachzuschauen, was mich da zu Fall gebracht hatte, fiel mein Blick sogleich auf etwas Weißes, das aus dem Gurkenbeet ragte. Ganz kurz gestattete ich mir die verzweifelte Hoffnung, es möge sich vielleicht um einen kleinen weißen, dreisten Rechen handeln. Letztendlich siegte jedoch die Vernunft, und ich musste mir Und dort, am Ende des Armes, von den zart leuchtenden Blättern in ein scheußliches, taufeuchtes Gurkengrün getaucht, war ein Gesicht - und es glich aufs Haar der Fratze des Grünen Mannes aus unseren Sagen und Legenden. Einem Drang gehorchend, der starker als mein Wille war, ließ ich mich auf alle viere neben meiner Entdeckung nieder: teils aus Ehrfurcht, teils, weil ich das Gesicht näher betrachten wollte. Als ich wir schon beinahe mit den Nasen zusammenstießen, klappten die Augenlider mit einem Mal auf. Ich bekam einen solchen Schreck, dass ich mich nicht rühren konnte. Der Liegende holte röchelnd Luft … und hauchte dann, mit Blubberbläschen vor den Nasenlöchern, ein einziges Wort, bedächtig und ein wenig traurig, mir mitten ins Gesicht: »Vale«, sagte er. Ich rümpfte unwillkürlich die Nase, als ich den Anflug eines ganz bestimmten Geruchs wahrnahm - ein Geruch, dessen Bezeichnung mir, wenn auch nur einen Augenblick lang, auf der Zunge lag. Die Augen, blau wie die Vögel auf unserem chinesischen Porzellan, schauten zu mir auf, als käme ihr Blick aus einer unbestimmten, fernen Vergangenheit - und als läge ganz tief in ihnen so etwas wie eine Erkenntnis. Dann brachen sie. Ich würde gerne behaupten, dass ich tief ergriffen war, aber das wäre gelogen. Ich würde gern behaupten, dass mir mein siebter Sinn befahl, schleunigst die Flucht zu ergreifen, aber auch das würde nicht der Wahrheit entsprechen. Stattdessen sah ich fasziniert hin und prägte mir alles ganz genau ein: die krampfartig zuckenden Finger, die kaum erkennbare bronzefarbene, Und dann diese absolute Stille. Ich würde gerne behaupten, dass ich mich gefürchtet hätte, aber das stimmt nicht. Ganz im Gegenteil. Es war das mit Abstand Spannendste, was ich je erlebt hatte.  3 Ich rannte die Westtreppe hoch. Mein erster Gedanke war, Vater zu wecken, aber eine Art unsichtbarer Riesenmagnet hielt mich zurück. Daffy und Feely brauchte ich gar nicht erst zu holen; auf sie war in Notfällen sowieso kein Verlass. Darum huschte ich möglichst geräuschlos in den hinteren Trakt und klopfte leise an die Tür des kleinen Zimmers am oberen Ende der Küchentreppe. »Dogger!«, raunte ich. »Ich bin’s, Flavia.« Von drinnen war nichts zu hören, darum klopfte ich noch mal. Nach schätzungsweise zweieinhalb Ewigkeiten hörte ich Doggers Pantoffeln schlurfen. Das Türschloss klickte und knirschte, dann wurde die Tür argwöhnisch ein paar Zentimeter geöffnet. Im fahlen Morgenlicht sah Doggers eingefallenes Gesicht aus, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan. »Unten im Garten liegt eine Leiche«, verkündete ich. »Ich glaub, es ist besser, wenn du mal mitkommst.« Während ich von einem Fuß auf den anderen trat und an den Fingernägeln kaute, warf mir Dogger einen Blick zu, den man nur vorwurfsvoll nennen konnte; dann verschwand er im dunklen Zimmer, um sich etwas überzuziehen. Fünf Minuten später standen wir nebeneinander auf dem Gartenweg. Man merkte, dass Dogger schon mehr als eine Leiche gesehen hatte. Er kniete sich hin und tastete mit Zeige- und Mittelfinger Er stand schwerfällig auf und wischte sich die Hände an der Hose ab, als wollte er sich nicht anstecken. »Ich sag dem Colonel Bescheid«, brummte er. »Müssen wir denn nicht die Polizei rufen?«, wandte ich ein. Dogger strich sich mit den langen Fingern über das unrasierte Kinn, als grübelte er über eine Frage von weltbewegenden Konsequenzen nach. Was die Benutzung des Telefons anging, herrschten auf Buckshaw strenge Vorschriften. »Hm«, machte er schließlich, »da hast du wohl Recht.« Wir gingen wieder ins Haus und ließen uns dabei viel, viel Zeit. Dogger griff zum Telefon und hielt den Hörer ans Ohr, aber ich sah, dass er den Finger fest auf die Gabel drückte. Er machte ein paarmal den Mund auf und zu, dann wurde er weiß wie ein Laken. Sein Arm zitterte und ich fürchtete schon, er würde das »Instrument«, wie wir es nannten, fallen lassen. Er sah mich hilflos an. »Lass mich das machen.« Ich nahm ihm das Gerät weg. »Bishop’s Lacey 221«, sagte ich in die Sprechmuschel und dachte beim Warten, dass Sherlock Holmes angesichts dieser Übereinstimmung bestimmt geschmunzelt hätte. »Polizei«, antwortete eine amtliche Stimme. »Wachtmeister Linnet? Hier ist Flavia de Luce, aus Buckshaw.« Ich rief zum ersten Mal bei der Polizei an und musste mich auf das verlassen, was ich im Radio gehört und im Kino gesehen hatte. »Bei uns gibt es einen Toten«, fuhr ich fort. »Können Sie bitte einen Inspektor herschicken?« »Brauchen Sie einen Krankenwagen, Miss Flavia? Wir schicken nicht gleich jedes Mal einen Inspektor los, es sei denn, die Todesumstände sind irgendwie verdächtig. Warten Sie, ich hole rasch einen Stift …« Eine unerträglich lange Pause entstand, und ich durfte ihm zuhören, wie er auf seinem Schreibtisch herumfuhrwerkte. Dann konnte es endlich weitergehen: »So, jetzt. Geben Sie mir bitte als Erstes den Namen des Verstorbenen durch, langsam und deutlich, und den Nachnamen zuerst.« »Ich weiß nicht, wie der Betreffende heißt«, entgegnete ich. »Ich kenne ihn nämlich nicht.« Ersteres entsprach der Wahrheit: Wie er hieß, wusste ich nicht. Aber ich wusste sehr wohl, und zwar nur allzu gut, dass der Tote im Garten - der Tote mit den roten Haaren, der Tote im grauen Anzug - derselbe Mann war, den ich durchs Schlüsselloch im Arbeitszimmer meines Vaters gesehen hatte. Der Mann, den Vater … Aber das konnte ich der Polizei ja schlecht verraten. »Ich weiß nicht, wie er heißt«, wiederholte ich. »Ich habe ihn noch nie im Leben gesehen.« Damit hatte ich die Grenze überschritten. Mrs Mullet und die Polizei trafen gleichzeitig ein, sie zu Fuß aus dem Dorf, die Polizisten in einer blauen Vauxhall-Limousine. Als der Wagen knirschend auf dem Kies zum Stehen gekommen war, öffnete sich knarrend der Wagenschlag, und ein Mann stieg aus. »Miss de Luce!«, begrüßte er mich, als könnte er mich allein durch die Nennung meines Namens gefügig machen. »Darf ich Flavia zu dir sagen?« Ich nickte. »Ich bin Inspektor Hewitt. Ist dein Vater zu Hause?« Der Inspektor war ein durchaus gut aussehender Mann mit Illustrierte Geschichte des Krieges gesehen hatte, die in Stapeln wie weiße Schneewehen im Salon lagerten. »Schon«, antwortete ich, »aber er ist gerade indisponiert.« Das Wort hatte ich mir von Ophelia ausgeliehen. »Aber ich kann Sie auch zu der Leiche hinführen.« Mrs Mullet fiel die Kinnlade herunter, und die Augen wollten ihr schier aus dem Kopf treten. »Ach du Heiliger! Entschuldige vielmals, Miss Flavia, aber … ach du Heiliger!« Hätte sie eine Schürze umgehabt, hätte sie sich selbige über den Kopf gezogen und die Beine in die Hand genommen. Da sie keine Schürze trug, wankte sie durch die offene Tür ins Haus. Nun kletterten zwei Männer in blauen Anzügen umständlich aus dem Polizeiwagen, die bislang, als hätten sie auf nähere Anweisungen gewartet, auf der Rückbank sitzen geblieben waren. »Detective Sergeant Woolmer und Detective Sergeant Graves«, stellte Inspektor Hewitt die beiden vor. Sergeant Woolmer war ungeschlacht und vierschrötig und hatte eine eingedrückte Nase wie ein Preisboxer, Sergeant Graves war ein munteres blondes Männlein mit Grübchen, das mich angrinste, als es mir die Hand schüttelte. »Wenn du jetzt so nett wärst …«, sagte Inspektor Hewitt. Die Detective Sergeants holten ihre Ausrüstung aus dem Kofferraum des Vauxhall, und ich führte die schweigende Prozession durch das Haus bis nach hinten in den Garten. Nachdem ich ihnen gezeigt hatte, wo die Leiche lag, schaute ich interessiert zu, wie Sergeant Woolmer eine Kamera auspackte und auf ein hölzernes Stativ schraubte, wobei seine Wurstfinger erstaunlich geschickt mit den silbernen Einstellrädchen Vor Neugier geradezu sabbernd trat ich näher. »Ob es wohl zu viel verlangt wäre, Flavia …«, Inspektor Hewitt trat schwungvoll ins Gurkenbeet, »… wenn du jemanden bitten würdest, uns ein Tässchen Tee zu bringen?« Ich muss wohl vielsagend dreingeschaut haben. »Wir mussten heute Morgen furchtbar früh raus. Meinst du, du könntest für uns etwas Heißes zu trinken auftreiben?« Typisch. Ob Geburt oder Todesfall - stets wird die einzige anwesende Frau losgeschickt, um den Kessel aufzusetzen. Hielt mich der Kerl etwa für ein Dienstmädchen? »Mal sehen, was sich machen lässt, Herr Inspektor«, erwiderte ich ausgesprochen unterkühlt, wie ich hoffte. »Vielen Dank«, erwiderte Inspektor Hewitt. Und als ich schon fast an der Küchentür war, rief er mir nach: »Ach ja, Flavia …« Ich drehte mich erwartungsvoll um. »Wir holen uns den Tee ab. Du brauchst ihn nicht extra hier nach draußen zu bringen.« Der Kerl hatte vielleicht Nerven! Nicht zu fassen! Ophelia und Daphne saßen schon am Frühstückstisch. Mrs Mullet hatte die schlimmen Neuigkeiten sofort ausgeplaudert, sodass die beiden genug Zeit gehabt hatten, eine gespielt gleichgültige Haltung einzunehmen. Ophelias Mund hatte immer noch nicht auf mein kleines Präparat reagiert. Ich nahm mir vor, die Uhrzeit der Begutachtung und das Ergebnis später nachzutragen. »Ich hab im Gurkenbeet eine Leiche gefunden«, verkündete ich. »Das sieht dir mal wieder ähnlich.« Ophelia zupfte sich ungerührt weiter die Augenbrauen. Daphne hatte Die Burg von Otranto ausgelesen und war schon mittendrin in Nicholas Nickleby. Aber mir fiel auf, dass sie sich beim Lesen auf die Unterlippe biss: ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie abgelenkt war. Eine theatralische Stille trat ein. »War denn viel Blut zu sehen?«, erkundigte sich Ophelia schließlich. »Nein. Nicht ein Tropfen.« »Wessen Leiche ist es denn?« »Keine Ahnung.« Ich packte dankbar die Gelegenheit beim Schopf, mich hinter der Wahrheit zu verstecken. »Tod eines Wildfremden«, deklamierte Daphne, als kündigte sie ein Kriminalhörspiel an. Sie nahm die Nase aus ihrem Dickens, ließ aber den Finger zwischen den Seiten. »Woher willst du wissen, dass es ein Fremder ist?«, fragte ich. »Ist doch sonnenklar«, erwiderte Daffy. »Du bist es nicht, ich bin’s nicht und Feely ist es auch nicht. Mrs Mullet ist in der Küche, Dogger ist mit den Bullen im Garten und Vater hat noch vor wenigen Minuten oben im Bad rumgeplanscht.« Ich wollte sie schon dahingehend berichtigen, dass ich es gewesen war, die sie im Bad gehört hatte, ließ es aber bleiben. Jedes Mal, wenn ich das Badezimmer erwähnte, führte das unweigerlich zu gehässigen Bemerkungen hinsichtlich meiner Reinlichkeit. Aber nach den frühmorgendlichen Ereignissen im Garten hatte ich das dringende Bedürfnis nach Wasser und Seife verspürt. »Er ist wahrscheinlich vergiftet worden«, sagte ich. »Der Fremde, meine ich.« »Es ist immer Gift, oder?« Feely warf ihr Haar in den Nacken. Als sie angewidert den Teller mit den Resten ihres pochierten Eis von sich schob, sprang in meinem Geist etwas auf wie ein Stück Glut, das vom Rost auf die Herdplatte hüpft, aber ehe ich mich dem zuwenden konnte, wurde meine Gedankenkette leider unterbrochen. »Hört euch das an!« Daphne fing an, laut vorzulesen. »Fanny Squeers schreibt einen Brief: … mein Bapa ist im gansen Leibe nur eine Beile, bald blau bald grön; auch sind zwei Benke mit seinem Blute be flegt. Wir sahen uns genetigt, ihn in die Kiche hinunter zu bringen, woer jetzt ligt. Sie werden hieraus selber urteilen, dass er sehr heruntergekommen ist. Nachdem Ihr Newö, den Sie als einen Leerer recommandirten, meinem Bapa dieß angedan und mit baren Füsen auf seinem Leib herumgesprungen hate und auch schempfte mit was ich die Beschreibung meiner Feder nicht beschmutzen mag, so grif er Mama auf eine firchderliche Weise an, schleuderte sie zu Boden und schlug ihr den Kam einige Zol tief in den Kopf, ein klein wenig weider und es were in den Schedel gegangen. Wir haben ein medizinisches Zerdifikat, das, wenn dieß geschehen wäre, der Schildkrot das Hirn verletzt haben würde. Und jetzt hört euch den nächsten Absatz an: Dann wurde ich und mein Bruder die Opfer seiner Wut und wir haben seitdem ser viele schmerzen ausgestanden, was uns zu der peinlichen Vermutung leitet, dass wir irgendwo innerlich Schaden genommen haben, besonders da euserlich keine Spuren der Gewaldsamkeit sichtbar sind. Ich muss die ganse Zeit über, das ich schreibe, immer laud aufschreien …« Für mich hörte sich das wie ein klassischer Fall von Zyankali-Vergiftung an, aber ich hatte keine Lust, die beiden dummen Ziegen an meiner Erkenntnis teilhaben zu lassen. »Ich muss die ganse Zeit beim Schreiben laud schreien«, wiederholte Daffy. »Stellt euch das bloß mal vor!« »Das Gefühl kenn ich.« Ich schob meinen Teller weg und ging, ohne mein Frühstück auch nur angerührt zu haben, langsam die Treppe zu meinem Labor hoch. Immer wenn ich durcheinander war, zog ich mich in mein Sanctum Sanctorum zurück. Hier, zwischen den Flaschen und Reagenzgläsern, gestattete ich mir den Luxus, in dem zu schwelgen, was ich insgeheim den »Geist der Chemie« zu nennen pflegte. Entweder vollzog ich Schritt für Schritt die Entdeckungen der großen Chemiker nach, oder ich zog andächtig einen Band von Tar de Luces kostbaren Büchern aus dem Regal, etwa die englische Übersetzung von Antoine Lavoisiers Chemische Elemente, erschienen 1790, dessen Blätter aber noch nach hundertsechzig Jahren so fest wie Metzgereipapier waren. Ich erfreute mich an den altmodischen Namen und Bezeichnungen, die nur darauf warteten, von den Seiten gepflückt zu werden: Antimonbutter … Arsenblumen. »Übel riechende Gifte«, nannte sie Lavoisier, aber ich suhlte mich im Klang ihrer Namen wie ein Schwein im Kurbad. »Königsgelb!«, sagte ich laut, kostete die Worte aus und labte mich trotz ihrer giftigen Wirkung daran. »Venuskristalle! Boyles dampfende Flüssigkeiten! Ameisen öl!« Aber diesmal wollte es nicht klappen. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Ich musste an Vater denken und daran, was ich gesehen und gehört hatte. Wer war dieser Twining - der »olle Teebeutel« -, der Mann, von dem Vater behauptet hatte, er und der Fremde hätten ihn umgebracht? Und Auch der Auszug aus Dickens, den uns Daphne vorgelesen hatte, ging mir im Kopf herum: die Stelle mit den blauen und grünen Flecken. Hatte sich Vater mit dem Fremden geprügelt und konnte wegen seiner Blessuren nicht bei Tisch erscheinen? Oder hatte er innere Verletzungen davongetragen, wie sie Fanny Squeers beschrieb: Verletzungen, die keinerlei äu ßere Gewalteinwirkung erkennen ließen? Vielleicht war der Rothaarige ja daran gestorben. Das würde erklären, warum ich kein Blut gesehen hatte. War Vater womöglich ein Mörder? Gar ein zweifacher? Mir schwirrte der Kopf, und um mich wieder zu beruhigen, fiel mir nichts Besseres ein als Das Große Wörterbuch der Englischen Sprache. Ich holte mir den Band mit dem Buchstaben »V«. Was hatte mir der Fremde ins Gesicht geröchelt? Richtig: »Vale«! Hastig blätterte ich die Seiten um: vakant … Vakuum … Vakzination … da war es - Vale: Gehab dich wohl, Auf Wiedersehen, Adieu. Imperativ des lateinischen Verbs valere: wohl ergehen. Merkwürdig, dass ein Sterbender so etwas zu jemandem sagt, den er gar nicht kennt. Ein plötzlicher Lärm in der Eingangshalle ließ mich hochfahren. Jemand drosch auf den Gong ein, und zwar nicht eben zimperlich. Die große Metallscheibe, die aussah wie aus dem Vorspann eines Kinofilms von J. Arthur Rank, war schon seit Menschengedenken von niemandem mehr betätigt worden, was erklären mag, weshalb mich das Geschepper dermaßen zusammenzucken ließ. Ich stürmte aus dem Labor und die Treppe hinunter. Unten »Der Leichenbeschauer«, stellte er sich mir kurz und knapp vor. Obwohl er sich nicht die Mühe machte, mir seinen Namen zu nennen, erkannte ich ihn sofort. Es war Dr. Darby, einer der beiden Ärzte aus der einzigen Praxis in Bishop’s Lacey. Dr. Darby glich John Bull wie ein Ei dem anderen: das puterrote Gesicht, das Dreifachkinn und der Bauch, der sich wie ein geblähtes Segel vorwölbte. Er trug einen braunen Anzug und eine gelb karierte Weste und hatte die typische schwarze Arzttasche dabei. Falls er sich noch an das Mädchen erinnerte, dessen Hand er im Vorjahr nach dem Zwischenfall mit einem widerspenstigen Laborglas genäht hatte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Er stand einfach nur da, erwartungsvoll wie ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hat. Vater ließ sich immer noch nicht blicken, auch Dogger machte sich rar. Mir war klar, dass Feely und Daffy sich niemals herablassen würden, auf den Ton einer Glocke zu reagieren (»Das ist mir zu pawlowsch«, würde Feely sagen), und Mrs Mullet verließ ihre Küche so gut wie nie. »Die Beamten sind im Garten«, sagte ich darum. »Ich bringe Sie hin.« Als wir nach draußen in den Sonnenschein traten, blickte Inspektor Hewitt auf. Er betrachtete gerade die Schnürsenkel eines schwarzen Schuhs, der ziemlich unästhetisch zwischen den Gurken hervorlugte. »Moin, Fred«, sagte er. »Dachte mir, du schaust dir das hier am besten mal an.« »Mhm«, brummte Dr. Darby, klappte seine Tasche auf, kramte darin herum und förderte schließlich eine weiße Papiertüte zutage. Er griff hinein, holte ein Gletschereisbonbon heraus, steckte es in den Mund und lutschte laut und genüsslich daran. Dann stapfte er durch Gras und Blätter und kniete sich schwerfällig neben die Leiche. »Irgendwer, den wir kennen?«, nuschelte er. »Glaub nicht«, antwortete Inspektor Hewitt. »Leere Taschen … keine Papiere … Grund genug für die Annahme, dass er erst kürzlich aus Norwegen gekommen ist.« Kürzlich aus Norwegen gekommen? Wenn diese Schlussfolgerung nicht des großen Holmes würdig war! Und ich hatte sie mit eigenen Ohren vernommen! Beinahe hätte ich dem Inspektor sein voriges unverschämtes Benehmen verziehen. Aber nur beinahe. »Die Anfragen laufen bereits … Überseehäfen und so weiter.« »Diese verflixten Norweger!« Dr. Darby griff nach seiner Tasche und machte sie zu. »Versammeln sich bei uns wie die Vögel auf einem Leuchtturm, dann hauchen sie hier ihren Geist aus, und wir dürfen die Sauerei wegmachen. Ich finde das nicht anständig.« »Was soll ich als Todeszeitpunkt eintragen?«, erkundigte sich Inspektor Hewitt. »Schwer zu sagen. Ist immer knifflig. Na ja, nicht immer, aber oft.« »Pi mal Daumen.« »Lässt sich bei Zyanose schwer feststellen; das dauert immer’ne Weile, bis man mit Sicherheit sagen kann, ob sie kommt oder geht. Acht bis zwölf Stunden, würde ich sagen. Mehr kann ich Ihnen erst sagen, wenn wir unseren Freund auf dem Tisch haben.« »Soll heißen …?« Dr. Darby schob die Manschette zurück und sah auf die Uhr. »Warten Sie mal … jetzt haben wir 8.22 Uhr, demnach … nicht früher als gestern Abend um 20 Uhr und nicht später als um, sagen wir … Mitternacht.« Um Mitternacht! Ich muss wohl nach Luft geschnappt haben, denn sowohl Inspektor Hewitt als auch Dr. Darby drehten sich zu mir um. Sollte ich ihnen sagen, dass mir der Fremde aus Norwegen erst vor ein paar Stunden seinen letzten Atemzug ins Gesicht gehaucht hatte? Auf diese Frage gab es nur eine Antwort. Ich nahm die Beine in die Hand. Ich traf Dogger beim Beschneiden der Rosen unter dem Bibliotheksfenster an. Ihr intensiver Duft lag schwer in der Luft und erinnerte an das köstliche Aroma orientalischer Teekisten. »Ist Vater noch nicht runtergekommen, Dogger?«, erkundigte ich mich. »Die Lady Hillingdons sind in diesem Jahr besonders schön, Miss Flavia«, erwiderte er, als könnte er kein Wässerchen trüben, als hätte unsere heimliche Begegnung in der Nacht nie stattgefunden. Bitte sehr, dachte ich, das Spielchen kannst du haben. »Allerdings«, bestätigte ich. »Und Vater?« »Ich glaube, der hat heute Nacht unruhig geschlafen. Wahrscheinlich bleibt er ein bisschen länger liegen.« Ein bisschen länger? Wie konnte Vater im Bett liegen bleiben, wenn es auf unserem Anwesen von Polizisten nur so wimmelte? »Wie hat er es aufgenommen, als du ihm das mit … du weißt schon … das mit dem Garten erzählt hast?« Dogger drehte sich um und sah mir in die Augen. »Ich hab’s ihm nicht erzählt, Flavia.« Mit einem raschen Knips der Gartenschere schnitt er eine nicht ganz makellose Blüte ab. Sie fiel mit leisem Plopp auf den Boden, von wo aus sie uns vielblättrig und fragend anschaute. Wir erwiderten den Blick der geköpften Rose und überlegten »Kann ich dich mal kurz sprechen, Flavia?«, fragte er. »Drinnen«, setzte er noch hinzu.  4 Und mit wem hast du da draußen gesprochen?«, wollte Inspektor Hewitt wissen. »Mit Dogger.« »Vorname?« »Flavia.« Ich konnte es mir nicht verkneifen. Wir saßen auf einem der Regency-Sofas im Rosenzimmer. Der Inspektor drückte die Mine seines Kugelschreibers heraus und drehte sich zu mir herum. »Falls es dir noch nicht klar sein sollte, Fräulein de Luce - nicht dass ich daran zweifeln würde -, sage ich dir gern noch einmal in aller Deutlichkeit, dass es sich hier um die Ermittlungen in einem Mordfall handelt. Da dulde ich keine Albernheiten. Ein Mensch ist tot, und es ist meine Aufgabe, herauszufinden, warum, wann, wie und vielleicht auch durch wessen Hand. Und wenn mir das gelungen ist, besteht meine nächste Aufgabe darin, besagten Fall der Krone klipp und klar darzulegen. Soll heißen, König Georg VI., und König Georg VI. ist kein alberner Mensch. Haben wir uns verstanden?« »Ja, Sir. Mit Vornamen heißt er Arthur. Arthur Dogger.« »Und er ist Gärtner hier auf Buckshaw?« »Momentan ja.« Der Inspektor hatte ein schwarzes Büchlein aufgeschlagen und machte sich in winzig kleiner Handschrift Notizen. »Also nicht schon immer?« »Dogger ist Mädchen für alles«, erläuterte ich. »Bis er es mit den Nerven gekriegt hat, war er unser Chauffeur …« Obwohl ich in die andere Richtung schaute, spürte ich den forschenden Blick des Kriminalisten auf mir. »Das kommt vom Krieg«, ergänzte ich. »Er war Kriegsgefangener. Vater fand … Er wollte ihm wieder …« »Verstehe.« Inspektor Hewitts Ton war mit einem Mal deutlich milder. »Dogger fühlt sich im Garten am wohlsten.« »Er fühlt sich im Garten am wohlsten.« »Du bist ein ungewöhnliches Mädchen«, sagte der Inspektor. »Eigentlich würde ich mich lieber in Anwesenheit eines Elternteils mit dir unterhalten, aber da dein Vater ja leider indisponiert ist …« Indisponiert? Ach ja! Beinahe hätte ich meine eigene Ausrede vergessen. Trotz meines vorübergehend verwirrten Gesichtsausdrucks fuhr der Inspektor fort: »Du hast Doggers Zwischenspiel als Chauffeur erwähnt. Besitzt dein Vater immer noch ein Automobil?« Ja, er hatte noch eins: einen alten Rolls-Royce Phantom II, der nun in der alten Remise stand. Eigentlich war es Harriets Auto gewesen. Seit die Nachricht von ihrem Tod auf Buckshaw eingetroffen war, ist es nicht mehr gefahren worden. Obwohl Vater selbst nicht fahren konnte, gestattete er niemandem, den Wagen anzurühren. So kam es, dass die Karosserie dieses prächtigen alten Vollbluts mit der langen schwarzen Motorhaube, dem hohen vernickelten Kühlergrill mit der Figur der Pallas Athene darauf und dem ineinander verschlungenen Doppel-R längst von vorwitzigen Feldmäusen in Beschlag genommen worden war. Die Tierchen hatten sich durch die hölzernen Bodenbretter Einlass verschafft und nisteten nun im Handschuhfach aus Mahagoniholz. Trotz seines erbärmlichen Zustands hieß der Wagen bei uns immer noch manchmal »unser Royce«, wie so manche Leute von Rang und Namen diese Vehikel nennen. »›Rolls‹ sagen nur die Bauern«, hatte Feely behauptet, als ich mich in ihrer Anwesenheit einmal versprochen hatte. Immer wenn ich ungestört sein wollte, kletterte ich in Harriets eingestaubten, schummrigen Royce Roller und saß stundenlang in der Bruthitze auf durchgesessenen Plüschpolstern, umgeben von sprödem, angenagtem Leder. Die unerwartete Frage des Inspektors ließ mich an einen dunklen, stürmischen Tag im letzten Herbst denken, einen Tag, an dem ein heftiger Sturm den Regen sturzbachartig auf das Haus hatte niedergehen lassen. Da es wegen womöglich abbrechender Äste zu gefährlich war, im Wald oberhalb von Buckshaw spazieren zu gehen, hatte ich mich aus dem Haus geschlichen und mich durch den Wind in die Remise gekämpft, um dort in aller Ruhe meinen Gedanken nachzuhängen. Drinnen blinkte der Phantom matt im Dämmerlicht, während der Sturm wie eine Horde mordlustiger Berghexen vor dem Fenster heulte, kreischte und klapperte. Erst als meine Hand schon auf dem Türgriff lag, bemerkte ich, dass im Wagen jemand saß. Ich wäre vor Schreck beinahe tot umgefallen. Dann erkannte ich Vater. Er saß ganz still da, die Tränen liefen ihm übers Gesicht, und er schien von dem Unwetter überhaupt nichts mitzubekommen. Eine ganze Weile rührte ich mich nicht von der Stelle, wagte weder mich zu bewegen noch zu atmen. Aber als Vater langsam die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, ließ ich mich geräuschlos wie ein Turner in die Hocke sinken und rollte mich unter das Auto. Aus dem Augenwinkel sah ich einen blitzblank gewienerten Schaftstiefel vom Trittbrett steigen, und als Vater davonschlurfte, hörte ich, wie ihm eine Art heiseres Schluchzen entfuhr. Ich blieb noch lange dort liegen und betrachtete den Wagenboden von Harriets Rolls-Royce von unten. »Ja«, sagte ich, »draußen in der Remise steht ein alter Phantom.« »Aber dein Vater fährt ihn nicht.« »Nein.« »Aha.« Der Inspektor legte Stift und Notizbuch so behutsam auf den Tisch, als wären sie aus Muranoglas. »Flavia«, sagte er (mir fiel natürlich sofort auf, dass ich nicht mehr »Miss de Luce« war), »ich muss dir jetzt eine sehr wichtige Frage stellen. Deine Antwort ist von entscheidender Bedeutung, klar?« Ich nickte. »Ich weiß, dass du den … Vorfall gemeldet hast. Aber wer hat die Leiche gefunden?« Ich kam gedanklich ins Schwimmen. Würde es Vater belasten, wenn ich die Wahrheit sagte? Wusste die Polizei bereits, dass ich Dogger gebeten hatte, mich zum Gurkenbeet zu begleiten? Anscheinend nicht, denn der Inspektor hatte ja eben erst von Doggers Vorhandensein erfahren, weshalb es nur folgerichtig war, dass er ihn noch nicht vernommen hatte. Was aber würde er ihnen gegebenenfalls alles erzählen? Wen von uns beiden würde er decken - Vater oder mich? Gab es eventuell eine neue Untersuchungsmethode, mittels derer man feststellen konnte, dass das Opfer noch am Leben gewesen war, als ich es gefunden hatte? »Ich!«, platzte ich heraus. »Ich hab die Leiche gefunden.« Ich kam mir vor wie Cock Robin aus dem Zeichentrickfilm von Walt Disney. »Das hab ich mir schon gedacht«, lautete Inspektor Hewitts Erwiderung. Daraufhin trat eine peinliche Stille ein, die erst durch das Eintreten von Sergeant Woolmer beendet wurde, der mithilfe seines massigen Leibes Vater vor sich her ins Zimmer schob. »Wir haben ihn draußen im Wagenschuppen entdeckt, Sir«, verkündete der Sergeant. »Hatte sich in einem alten Automobil verkrochen.« »Wer, wenn ich fragen darf, sind Sie, Sir?«, fragte Vater. Er »Ich bin Inspektor Hewitt, Sir.« Der Inspektor stand auf. »Vielen Dank, Sergeant Woolmer.« Der Sergeant ging rückwärts, bis er durch die Tür war, dann drehte er sich um und verschwand. »Nun?«, fragte Vater. »Gibt es irgendein Problem, Inspektor?« »Leider ja, Sir. In Ihrem Garten wurde eine Leiche gefunden.« »Eine Leiche? Sie meinen, ein … Toter?« Inspektor Hewitt nickte. »Jawohl, Sir.« »Wer denn? Ich meine, wer ist es?« Da erst fiel mir auf, dass Vater weder blaue Flecken noch Kratzer hatte, weder Schnitt- noch Schürfwunden aufwies … zumindest keine sichtbaren. Mir fiel auch auf, dass er ganz allmählich erbleichte, bis auf die Ohren, die den Farbton von knallrosa Knetmasse annahmen. Auch dem Inspektor war das nicht entgangen. Er beantwortete Vaters Frage nicht gleich, sondern ließ sie im Raum stehen. Vater drehte sich um und wanderte in großem Bogen zur Hausbar, wobei er im Gehen mit den Fingern über jedes Möbel strich. Er mischte sich einen Votrix mit Gin und kippte ihn auf einen Zug hinunter, und zwar mit einer eleganten Zielstrebigkeit, die mehr an diesbezüglicher Praxis verriet, als ich für möglich gehalten hätte. »Wir haben den Betreffenden noch nicht identifiziert, Colonel de Luce. Eigentlich hatten wir gehofft, Sie könnten uns in dieser Hinsicht weiterhelfen.« Vater wurde womöglich noch blasser, und seine Ohren leuchteten noch röter. »Tut mir leid, Inspektor«, erwiderte er kaum hörbar. »Bitte Nicht gut umgehen? Vater war ein altgedienter Soldat, und bei Soldaten gehörte der Tod zum Leben dazu, ja, sie lebten für den Tod, lebten vom Tod. Für einen Berufssoldaten war der Tod, so sonderbar das klingen mag, sein Leben. Das wusste ja sogar ich. Und ich wusste auch sofort, dass Vater gelogen hatte, und in diesem Augenblick riss unvermittelt irgendwo in mir ein kleiner Faden. Als sei ich auf einen Schlag erwachsener geworden und etwas Altes in mir zerbrochen. »Verstehe, Sir«, entgegnete Inspektor Hewitt. »Aber solange sich uns keine anderen Möglichkeiten anbieten …« Vater holte ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn - und dann den Hals. »Wissen Sie, ich bin doch einigermaßen erschüttert«, entschuldigte er sich. »Das Ganze …« Er machte eine fahrige Geste, und Inspektor Hewitt griff wieder zu seinem Notizbuch, blätterte um und fing an zu schreiben. Vater ging langsam zum Fenster, tat so, als schaute er in die Landschaft hinaus, die ich in allen Einzelheiten vor mir sah: der künstliche See, die Insel mit der künstlichen Ruine, die Brunnen, die seit Kriegsausbruch abgestellt waren, dahinter die Hügel. »Sind Sie den ganzen Morgen zu Hause gewesen?«, fragte der Inspektor unvermittelt. »Wie bitte?« Vater fuhr herum. »Haben Sie seit gestern Abend irgendwann das Haus verlassen?« Vater ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ja«, sagte er schließlich. »Heute früh. Da war ich in der Remise.« Ich verkniff mir ein Grinsen. Sherlock Holmes hatte einmal über seinen Bruder Mycroft gesagt, ihn außerhalb des Diogenes »Wann war das ungefähr, Colonel?« »Gegen vier. Vielleicht ein bisschen früher.« »Und Sie waren … wie lange in der Remise?« Der Inspektor sah wieder auf die Armbanduhr. »Fünfeinhalb Stunden? Von vier Uhr früh bis gerade eben?« »Ja, bis gerade eben«, bestätigte Vater. Er war es nicht gewohnt, vernommen zu werden, und auch wenn der Inspektor nichts zu merken schien, ich hörte meinem Vater an, dass er immer gereizter wurde. »Aha. Gehen Sie oft um diese Tageszeit aus dem Haus?« Die Frage des Inspektors klang beiläufig, war beinahe im Plauderton gehalten, aber ich spürte, dass dem mitnichten so war. »Nein, eigentlich nicht, nein«, erwiderte Vater. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« Inspektor Hewitt tippte sich mit dem Kugelschreiber auf die Nasenspitze, als müsste er seine nächste Anfrage an einen Parlamentsausschuss formulieren. »Sind Sie draußen irgendjemandem begegnet?« »Nein, natürlich nicht. Keiner Menschenseele.« Der Inspektor nahm den Kugelschreiber kurz von der Nase und notierte sich etwas. »Niemandem?« »Nein.« Als hätte er es schon die ganze Zeit gewusst, nickte der Inspektor bedächtig und enttäuscht und steckte sein Büchlein seufzend ein. »Ach, eine Frage noch, Colonel, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte er dann, als wäre ihm gerade noch etwas eingefallen. »Was haben Sie denn da draußen in der Remise gemacht?« Vater ließ den Blick zum Fenster hinausschweifen und mahlte mit dem Unterkiefer. Dann wandte er sich um und sah dem Inspektor ins Gesicht. »Ich bin wohl nicht verpflichtet, Ihnen darüber Auskunft zu erteilen.« »Auch gut«, entgegnete der Inspektor. »Ich glaube, ich …« Da schob Mrs Mullet mit ihrem ausladenden Hinterteil die Tür auf und kam mit einem schwer beladenen Tablett hereingewatschelt. »Ich bringe Ihnen etwas Gewürzkuchen!«, verkündete sie. »Gewürzkuchen, Tee und ein schönes Glas Milch für Miss Flavia.« Gewürzkuchen und Milch! Ich verabscheute Mrs Mullets Gewürzkuchen ebenso wie der heilige Paulus die Sünde. Vielleicht sogar noch mehr. Am liebsten wäre ich auf den Tisch geklettert und hätte, mit einer auf die Gabel gespießten Wurst als Zepter, in meinem besten Laurence-Olivier-Tonfall deklamiert: »Will uns denn niemand von dieser aufdringlichen Bäckerin erlösen?« Aber ich beherrschte mich und blieb ganz friedlich. Mit einem angedeuteten Knicks stellte Mrs Mullet ihre Last vor Inspektor Hewitt ab, dann erst erblickte sie Vater, der noch am Fenster stand. »Huch! Da sind Sie ja, Colonel de Luce! Ich wollte Ihnen doch noch sagen, dass ich den Vogel von der gestrigen Türschwelle weggeschafft hab.« Von irgendwoher hatte Mrs Mullet die fixe Idee, solche verqueren Sätze seien nicht nur sehr eigen, sondern geradezu poetisch. Ehe Vater auf diese unerwartete Wendung der Unterhaltung »Ein toter Vogel auf der Schwelle? Erzählen Sie mir mehr davon, Mrs Mullet?« »Na ja, Sir, der Colonel und ich und Miss Flavia waren in der Küche. Ich hatte gerade einen schönen Schmandkuchen aus dem Ofen geholt und zum Abkühlen ans Fenster gestellt. Es war um die Zeit, wo ich für gewöhnlich dran denke, mich auf den Heimweg zu Alf zu machen. Alf ist nämlich mein Mann, Sir, und er kann’s gar nicht leiden, wenn ich um die Abendbrotzeit woanders rumtrödele. Er meint immer, es macht ihn ganz kribbelig, wenn seine Verdauung aus dem Rhythmus kommt. Wenn seine Verdauung nämlich erst mal Kobolz schießt, dann ist wirklich Matthäi am Letzten, dann helfen nur noch Mopp und Eimer und so weiter.« »Und um welche Uhrzeit war das nun, Mrs Mullet?« »Ungefähr um sieben oder Viertel nach sieben. Ich komm nämlich immer vier Stunden am Vormittag, von acht bis zwölf, und drei am Nachmittag, von eins bis vier.« Dabei warf sie Vater einen überraschend finsteren Blick zu, aber der schaute immer noch scheinbar gebannt aus dem Fenster und bekam nichts mit. »Aber meistens werd ich noch wegen diesem oder jenem aufgehalten.« »Und was war nun mit dem Vogel?« »Der lag mausetot auf der Schwelle. Eine Schnepfe war’s, eine Zwergschnepfe. Weiß Gott, von denen hab ich mein Lebtag so manche gespickt und gebraten. Der Vogel hat mir einen Heidenschrecken eingejagt, als ich ihn da auf der Schwelle hab liegen sehen, und die Federn haben sich im Wind bewegt, als wären sie noch lebendig, obwohl das Herz längst nicht mehr geschlagen hat. Das hab ich auch zu Alf gesagt. ›Alf‹, sag ich, ›der Vogel hat dagelegen, als wärn die Federn noch lebendig …‹« »Ihnen entgeht offenbar nichts, Mrs Mullet«, lobte Inspektor »Na ja, Sir, auf dem Schnäbelchen steckte’ne Briefmarke, als hätt das arme Ding sie uns bringen wollen, wie der Storch die kleinen Kinder bringt, wenn Sie verstehen, was ich meine, aber eigentlich natürlich ganz anders.« »Eine Briefmarke, Mrs Mullet? Was für eine Briefmarke?« »Eine Briefmarke halt, aber nicht so eine, wie sie heute auf die Briefe geklebt werden, o nein. Die Königin war drauf abgebildet. Nicht unsre jetzige Königin, Gott schütze sie, sondern unsre alte … wie hieß sie doch gleich … Königin Viktoria! Jedenfalls wär sie drauf abgebildet gewesen, wenn der Vogel nicht den Schnabel durch ihr Gesicht gepiekt hätte.« »Sind Sie ganz sicher?« »Hand aufs Herz, Sir! Alf hat als junger Kerl mal Briefmarken gesammelt, und er hebt heute noch ein paar von den Dingern in einer alten Keksdose unter dem Sofa oben in der Diele auf. Er holt sie nicht mehr so oft raus wie früher, als wir beide noch jung waren, weil er dann immer ganz traurig wird, sagt er. Aber trotzdem erkenn ich eine Schwarze Queen Victoria, die sogenannte Penny Black, immer und überall auf den ersten Blick, ob sie nun auf’nem Vogelschnabel steckt oder nicht.« »Vielen Dank, Mrs Mullet.« Inspektor Hewitt nahm sich ein Stück Kuchen. »Sie haben uns sehr geholfen.« Mrs Mullet knickste noch einmal und ging zur Tür. »Ist doch komisch, hab ich zu Alf gesagt, eigentlich lassen sich hier bei uns in England bis September gar keine Zwergschnepfen blicken. Und ich hab weiß Gott schon viele Zwergschnepfen gebraten und auf Toast serviert. Mrs Harriet, Gott sei ihrer Seele gnädig, hat nichts lieber gegessen als einen schönen …« Hinter mir ächzte jemand, und als ich mich umdrehte, sah ich gerade noch, wie Vater zusammenklappte wie ein Campingstuhl und zu Boden plumpste. Ich muss sagen, der Inspektor machte das sehr gut. Mit einem Satz war er bei Vater, legte ihm das Ohr auf die Brust, lockerte ihm die Krawatte und prüfte mit dem Finger, ob irgendetwas Vaters Atem behinderte. Allem Anschein nach hatte er im E rste-Hilfe-Kurs nicht geschlafen. Dann riss er das Fenster auf und pfiff so gekonnt und schrill auf den Fingern, dass ich ihm etwas dafür bezahlt hätte, wenn er es mir beigebracht hätte. »Dr. Darby!«, rief er. »Kommen Sie bitte schnell! Und bringen Sie Ihre Tasche mit!« Ich stand immer noch mit vor den Mund geschlagener Hand da, als Dr. Darby mit langen Schritten hereinkam und sich neben Vater kniete. Nach einer kurzen, systematischen Untersuchung holte er ein kleines blaues Arzneifläschchen aus seiner Tasche. »Eine Synkope«, wandte er sich an Inspektor Hewitt, und zu Mrs Mullett und mir sagte er: »Soll heißen, er ist ohnmächtig. Nichts Schlimmes.« Uff! Der Doktor entstöpselte das Fläschchen, und ehe er es Vater unter die Nase hielt, erkannte ich den vertrauten Duft: Es war mein guter alter Freund Ammoniumcarbonat beziehungsweise Hirschhornsalz, oder, wie ich es nannte, wenn wir im Labor unter uns waren, Sal Volatile oder manchmal einfach nur Sal. »Ammonium« deswegen, weil die Substanz zuerst unweit vom Schrein des altägyptischen Gottes Ammon entdeckt wurde, und zwar als Inhaltsstoff des Urins von Kamelen. Später hatte in London ein von mir sehr geschätzter Kollege eine Methode entwickelt, mittels der man Riechsalz aus patagonischem Guano extrahieren konnte. Chemie! Ach, ich liebe Chemie über alles! Als Dr. Darby ihm das Fläschchen unter die Nase hielt, schnaubte Vater wie ein Bulle auf der Weide, und seine Augenlider schnappten auf wie Jalousien. Aber er sagte kein Wort. »Na, bitte! Jetzt weilen Sie wieder unter den Lebenden«, verkündete der Doktor, als mein ganz verwirrter Vater versuchte, sich auf den Ellenbogen zu stützen und sich im Zimmer umzusehen. Trotz seines jovialen Tons hielt Dr. Darby ihn im Arm wie ein Neugeborenes. »Warten Sie noch einen Augenblick, bis Sie wieder ganz da sind. Bleiben Sie noch ein bisschen auf dem guten alten Axminster-Teppich.« Inspektor Hewitt stand mit ernster Miene daneben, bis der Doktor es für angeraten hielt, Vater aufzuhelfen. Schwer auf Dogger gestützt (den man inzwischen gerufen hatte), wankte Vater die Treppe zu seinem Zimmer empor. Auch Daphne und Feely ließen sich kurz blicken, aber von denen sah man eigentlich nicht mehr als zwei bleiche Gesichter hinter dem Treppengeländer. Mrs Mullet blieb auf dem Weg in die Küche neben mir stehen und legte mir mitfühlend die Hand auf den Arm. »Hat dir der Kuchen denn geschmeckt, mein Schatz?«, erkundigte sie sich. Der Kuchen! Den hatte ich ganz vergessen. Ich nahm mir ein Beispiel an Dr. Darby und brummelte nur ein unbestimmtes »Mhm« vor mich hin. Inspektor Hewitt und Dr. Darby waren wieder in den Garten gegangen, als ich die Treppe zu meinem Labor hochstieg. Durchs Fenster beobachtete ich ein bisschen traurig und fast von einem Gefühl des Verlustes begleitet, wie zwei Sanitäter ums Haus herumkamen und die sterblichen Überreste des Unbekannten auf eine Segeltuchtrage hievten. Ein Stück weiter hinten umrundete Dogger den Balaklawa-Brunnen, wo er eifrig damit beschäftigt war, weitere Lady Hillingdons zu enthaupten. Alle hatten zu tun. Mit ein wenig Glück konnte ich ungestört Ich schlich die Treppe hinab und zur Haustür hinaus, holte Gladys, mein braves altes BSA-Fahrrad, an der Steinurne ab, an die ich »sie« gelehnt hatte, und kurz darauf fuhr ich wild strampelnd in Bishop’s Lacey ein. Welchen Namen hatte Vater da erwähnt? Twining. Richtig: ›der olle Teebeutel‹. Und ich wusste genau, wo ich ihn finden würde.  5 Die Leihbücherei von Bishop’s Lacey befand sich in der Cow Lane, einer schmalen, schattigen, von Bäumen gesäumten Gasse, die von der Hauptstraße zum Fluss hinunterführte. Das ursprüngliche Gebäude war ein bescheidener, schwarzer georgianischer Ziegelbau, dessen Farbfoto einmal sogar auf der Titelseite von Country Life erschienen war. Ein gewisser Lord Margate hatte es der Gemeinde vermacht, ein Spross des Dorfes, der in die Welt hinausgezogen war, um sein Glück zu machen, und zu Wohlstand gekommen war, indem er während des Burenkrieges als Königlicher Hoflieferant mit Exklusivvertrag Beef-Chips an die Regierung Ihrer Majestät liefern durfte - ein Corned Beef in Dosen, das er selbst erfunden hatte. Seit 1939 schon war die Bücherei eine Oase der Stille. Einmal, als sie wegen Renovierungsarbeiten geschlossen gewesen war, hatte es darin gebrannt. Ein Haufen Malerlumpen hatte sich von selbst entzündet, gerade als Mr Chamberlain dem britischen Volk seine berühmte Rede »Solange der Krieg noch nicht begonnen hat, besteht die Hoffnung, dass er noch verhindert werden kann« hielt. Da sich alle erwachsenen Einwohner von Bishop’s Lacey um die Rundfunkempfänger versammelt hatten, war der Brand von niemandem, nicht einmal von der sechsköpfigen Freiwilligen Feuerwehr, rechtzeitig entdeckt worden. Als die Feuerwehrleute schließlich mit ihrer handbetriebenen Pumpe anrückten, war das Haus nur noch ein glimmendes Aschehäuflein. Den Büchern war zum Glück Kurz darauf brach der Krieg aus, und weil auch nach Kriegsende überall die Mittel knapp waren, wurde das Haus nicht wieder aufgebaut. An der Stelle, wo es gestanden hatte, in der Cater Street, befand sich jetzt lediglich eine unkrautüberwucherte Brache, gleich um die Ecke vom Dreizehn Erpel. Da das Grundstück den Dorfbewohnern auf unbegrenzte Zeit vermacht worden war, durfte es nicht verkauft werden, und die eigentlich nur übergangsweise eingerichteten Räumlichkeiten in der Cow Lane, in denen die Buchbestände lagerten, boten der Bücherei inzwischen eine dauerhafte Heimat. Als ich von der Hauptstraße abbog, sah ich das Gebäude schon, einen niedrigen Kasten aus Glasbausteinen und Wandfliesen, der in den 1920er Jahren als Ausstellungsraum für Automobile errichtet worden war. Etliche Original-Emailleschilder mit den Namen ausgestorbener Automarken wie »Wolseley« und »Sheffield-Simplex« hingen noch an einer Wand unter der Decke und somit zu hoch für Diebe und Vandalen. Heute, fünfundzwanzig Jahre nachdem der letzte Lagonda zum Tor hinausgerollt war, war das Gebäude, wie das ausrangierte Geschirr in einem Dienstbotentrakt, in einen altersschwachen Zustand des Verfalls übergegangen. Dahinter, zwischen dem ehemaligen Ausstellungsraum und dem verwaisten Treidelpfad längs des Flusses, duckte sich ein Labyrinth verfallener Nebengebäude ins hohe Gras wie Grabsteine um eine Dorfkirche. Mehrere dieser Gebäude, die noch nicht mal einen richtigen Fußboden hatten, beherbergten den Überschuss an Büchern aus dem längst vernichteten, viel grö ßeren georgianischen Vorgängerbau. Nun boten die provisorischen, schlecht beleuchteten Baracken, in denen sich einst die Reparaturwerkstätten des Autohauses befunden hatten, reihenweise ungewollten Büchern Platz, auf deren Rücken man Daran dachte ich, als ich vor dem Eingang stand und am Türknauf drehte. »Scheibenkleister!«, entfuhr es mir. Es war abgeschlossen. Erst als ich beiseitetrat, um durchs Fenster zu spähen, erblickte ich das Schild hinter der Scheibe, auf das jemand mit schwarzem Stift »Geschlossen« gekritzelt hatte. Geschlossen? Heute war Samstag! Die Bücherei war donnerstags bis samstags von 10 bis 14.30 Uhr geöffnet. So stand es auch unmissverständlich auf dem schwarz gerahmten Schild an der Tür. War Miss Pickery etwas zugestoßen? Ich rüttelte erst an der Tür, dann trommelte ich mit der Faust dagegen. Schließlich legte ich die Hände noch einmal an die Scheibe und spähte hindurch, aber bis auf einen einsamen Sonnenstrahl, der sich seinen Weg durch die Staubflusen bahnte, ehe er sich auf den Regalen mit den Romanen niederließ, war nichts zu erkennen. »Miss Pickery!«, rief ich, bekam aber keine Antwort. »Scheibenkleister!«, schimpfte ich noch einmal. Dann würde ich meine Recherchen wohl auf ein anderes Mal verschieben müssen. Als ich dort in der Cow Lane vor verschlossener Tür stand, kam mir der Gedanke, dass die Büchereien im Himmel bestimmt rund um die Uhr offen hatten, und das sieben Tage die Woche. Nein … acht Tage die Woche! Miss Pickery wohnte in der Shoe Street. Ich ließ mein Fahrrad vor der Bücherei stehen und nahm eine Abkürzung. Wenn Dreizehn Erpel entlangging, kam man gleich neben ihrem Häuschen heraus. Ich stapfte durch das hohe, nasse Gras und gab Acht, dass ich nicht über irgendwelche rostigen Maschinenteile stolperte, die hier und da wie Dinosaurierknochen in der Wüste Gobi aus dem Boden ragten. Daphne hatte mich über Wundstarrkrampf aufgeklärt. Ein Kratzer von einem alten Autogetriebe, und mir würde im Handumdrehen Schaum vor dem Mund stehen, ich würde bellen wie ein Hund und mich beim Anblick von Wasser in Krämpfen auf dem Boden winden. Ich sammelte schon einmal probehalber Spucke in der Backe. Da hörte ich jemanden reden. »Warum hast du ihn bloß reingelassen, Mary?« Es war die Stimme eines jungen Mannes. Sie kam aus dem Hof des Wirtshauses. Ich huschte hinter einen Baum und spähte hinter dem Stamm hervor. Wer da gesprochen hatte, war Ned Cropper, der im Dreizehn Erpel alle möglichen Hilfsarbeiten verrichtete. Ned! Nur an ihn zu denken, wirkte bei Ophelia wie eine Novokainspritze. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass er Dirk Bogarde wie aus dem Gesicht geschnitten war, aber die einzige Ähnlichkeit, die ich persönlich feststellen konnte, bestand darin, dass sie alle beide je zwei Arme, zwei Beine und pfundweise Brillantine im Haar hatten. Ned hockte vor der Hintertür des Wirtshauses auf einem Bierfass, und ein Mädchen, Mary Stoker, wie ich im Näherkommen erkannte, saß auf einem anderen. Sie sahen einander nicht an. Ned malte mit dem Stiefelabsatz ein verzwicktes Labyrinth auf den Boden, Mary hatte die Hände im Schoß gefaltet und starrte geradeaus. Obwohl Ned die Stimme gesenkt hatte, konnte ich alles verstehen. Die verputzte Wand des Dreizehn Erpel wirkte wie ein Verstärker. »Ich hab dir doch schon gesagt, Ned Cropper, dass mir nix »Warum haste nicht geschrien? Ich weiß, dass du Tote aufwecken kannst … wenn dir danach ist.« »Du kennst meinen Pa wohl nicht! Wenn er wüsste, was der Kerl gemacht hat, würd er mir das Fell über die Ohren ziehen!« Sie spuckte in den Staub. »Mary!« Der Ruf kam von drinnen, trotzdem dröhnte er durch den Hof wie Donnerhall. Der da rief, war Marys Vater, der Gastwirt Tully Stoker, und sein ungewöhnliches Organ spielte in einigen der skandalösesten Tratschgeschichten des Dorfes eine Hauptrolle. »Mary!« Jetzt sprang Mary auf. »Komme schon!«, rief sie. »Bin schon unterwegs!« Sie verharrte unschlüssig, dann stürzte sie sich mit einem Mal wie eine zustoßende Viper auf Ned, verpasste ihm einen schnellen Kuss auf den Mund und war im nächsten Moment mit flatternder Schürze - wie ein Zauberer mit wehendem Umhang - in der düsteren Schankstube verschwunden. Ned blieb noch einen Augenblick sitzen, dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund, stand auf und rollte das Fass zu den anderen leeren Fässern auf die gegenüberliegende Hofseite. Ich rief: »Tag, Ned!«, und er drehte sich halb verlegen um. Er überlegte unverkennbar, ob ich ihn und Mary belauscht und vielleicht sogar den Kuss beobachtet haben konnte. Ich beschloss, ihn im Unklaren zu lassen. »Schönes Wetter heute, was?« Ich grinste ihn dümmlich an. Ned erkundigte sich danach, wie es mir ging, und anschlie ßend, immer schön der Reihe nach, nach dem Befinden meines Vaters und dem von Daphne. »Den beiden geht’s prima«, antwortete ich. »Und wie geht’s Miss Ophelia?«, fragte er zu guter Letzt. »Miss Ophelia? Na ja, um die machen wir uns ehrlich gesagt ziemlich Sorgen.« Ned fuhr zusammen, als wäre ihm eine Wespe in die Nase gekrabbelt. »Ach ja? Was hat sie denn? Hoffentlich nichts Ernstes.« »Sie ist am ganzen Leib knallgrün geworden«, verkündete ich. »Ich vermute, sie hat Chlorose. Dr. Darby ist derselben Meinung.« In seinem Wörterbuch der Vulgärsprache von 1811 nennt Francis Grose die Chlorose auch: »Liebesfieber« beziehungsweise »Jungfrauenkrankheit«. Mir war natürlich klar, dass Ned Captain Groses Werk nicht so geläufig war wie mir, und ich klopfte mir in Gedanken auf die Schulter. »Ned!« Tully Stokers Organ. Ned tat einen Schritt in Richtung Tür. »Richte deiner Schwester aus, dass ich mich nach ihr erkundigt habe«, bat er. Ich machte das Victory-Zeichen, wie einst der wackere Churchill. Das war ja wohl das Mindeste. Wie die Cow Lane geht auch die Shoe Street von der Hauptstraße ab und führt zum Fluss hinunter. Miss Pickerys auf halber Höhe gelegenes Tudorhäuschen sah aus wie aus einer Abbildung vom Deckel einer Puzzleschachtel. Mit seinem Strohdach und den weiß getünchten Wänden, den rautenf örmig bleiverglasten Fenstern und der rot gestrichenen quergeteilten Tür ließ es jedes Künstlerherz höherschlagen. Die Fachwerkwände ragten wie ein malerisches altes Schiff aus einem Meer altmodischer Blumen: Anemonen, Stockmalven, Levkojen, Glockenblumen und andere, von denen ich nicht wusste, wie sie hießen. Miss Pickerys rotbrauner Kater Roger aalte sich auf der »Bist ein ganz Braver, Roger«, sagte ich. »Wo ist denn Miss Pickery?« Roger schlenderte davon und hielt nach etwas Spannenderem Ausschau. Ich klopfte. Niemand öffnete. Ich ging ums Haus herum in den Garten. Keiner da. Als ich auf der Hauptstraße entlangging und, nachdem ich im Schaufenster der Apotheke flüchtig die immer gleichen mit Fliegendreck beklecksten Glasgefäße betrachtet hatte, gerade die Cow Lane überquerte, blickte ich zufällig nach links und sah jemanden in der Bücherei verschwinden. Mit ausgebreiteten Armen flog ich eine Steilkurve und bog in die Gasse ein, aber als ich vor der Bücherei stand, war der Betreffende längst im Haus verschwunden. Ich drehte am Türknauf, und diesmal hatte ich Erfolg. Die Frau, die ihr Portemonnaie in die Schublade legte und sich hinter dem Tresen niederließ, hatte ich noch nie gesehen. Ihr Gesicht war so runzlig wie einer von den Äpfeln, die man manchmal noch vom vergangenen Winter in seiner Manteltasche findet. »Ja, bitte?« Sie spähte über ihre Brille. Das bringen sie einem alles an der Königlichen Akademie für Bibliothekswissenschaften bei. Mir fiel auf, dass die Brille einen grauen Schleier hatte, als hätte sie über Nacht in Essig gelegen. »Wo ist denn Miss Pickery?«, erkundigte ich mich. »Miss Pickery ist wegen einer dringenden Familienangelegenheit verhindert.« »Ach so.« »Ja, es ist wirklich traurig. Ihre Schwester Hetty, die in Nether-Wolsey wohnt, hatte einen tragischen Nähmaschinenunfall. Zuerst sah es noch ganz so aus, als sei es gerade noch mal gutgegangen, aber dann verschlechterte sich ihr Zustand unversehens, und nun sieht es aus, als ob sie womöglich den Finger »Natürlich.« »Ich bin die Vertretung. Ich heiße Miss Mountjoy und bin Ihnen gern behilflich.« Miss Mountjoy! Die pensionierte Miss Mountjoy! Ich hatte schon viele Geschichten über »Miss Mountjoy und ihr Terrorregime« vernommen. Sie war schon Hauptbibliothekarin der Leihbücherei von Bishop’s Lacey gewesen, als Noah noch als Matrose zur See fuhr. Nach außen hin zuckersüß, aber innerlich »eine Bastion der Bosheit«. So hatte man es mir jedenfalls geschildert. (»Man« war in diesem Fall Mrs Mullet, die gern Kriminalromane las.) Die Dorfbewohner hielten immer noch mehrtägige Bittgottesdienste ab und beteten darum, dass sie bloß nicht aus dem Ruhestand zurückkehrte. »Und wie kann ich dir helfen, mein Liebes?« Wenn ich etwas gründlich verabscheue, dann ist es die Anrede »mein Liebes«. Wenn ich einmal mein Opus Magnum mit dem Titel Eine Abhandlung über sämtliche Gifte schreibe und bei »Zyankali« ankomme, vermerke ich unter »Anwendung« garantiert: Besonders wirksam bei der Behandlung all derjenigen, die einen »mein Liebes« nennen. Andererseits habe auch ich meine Grundsätze, und einer davon lautet: Wenn du etwas willst, sei nett und freundlich. Ich lächelte matt und erwiderte: »Ich wollte etwas im Zeitungsarchiv nachschlagen.« »Im Zeitungsarchiv!«, erwiderte sie belustigt. »Du bist ja ganz schön weit für dein Alter, mein Liebes.« »Ja«, sagte ich und gab mir Mühe, bescheiden dreinzuschauen. »Die Zeitungen ab vorletztem Jahr findest du nach Jahrgängen geordnet auf den Regalen im Drummond-Raum. Das ist ganz hinten, nach links, die Treppe hoch.« »Dankeschön.« Ich schlenderte in Richtung Treppe. »Es sei denn, du suchst etwas Älteres. Das wäre dann im Magazin. Welchen Jahrgang suchst du denn?« »Das weiß ich auch nicht so genau.« Aber halt - ich wusste es doch! Was hatte der Fremde gesagt? Twining - der olle Teebeutel ist doch inzwischen schon … wie lange tot? Ich hörte die ölige Stimme wieder: … dreißig Jahre … »1920«, sagte ich kaltblütig. »Ich würde gern einen Blick in den Jahrgang 1920 werfen.« »Das müsste alles noch in der Garage liegen, also in dem Schuppen, in dem früher die Reparaturwerkstatt mit der Grube war. Wenn die Ratten es in der Zwischenzeit nicht aufgefressen haben.« Dabei schielte sie boshaft über ihre Brille, als erwartete sie, dass ich bei der bloßen Erwähnung von Ratten einen Schreikrampf bekommen und wegrennen würde. »Ach, ich finde mich schon zurecht«, erwiderte ich stattdessen. »Brauche ich einen Schlüssel?« Miss Mountjoy kramte in der Schublade und holte einen gewaltigen Schlüsselbund heraus, der aussah, als hätte er einst den Wärtern des Grafen von Monte Cristo gehört. Ich klimperte vergnügt mit den Schlüsseln und verließ das Hauptgebäude. Die sogenannte Garage war die am weitesten vom Hauptgebäude entfernte Baracke. Sie stand bedenklich nah am Flussufer, ein aus morschen Brettern und rostigem Wellblech zusammengezimmerter und von Moos und Kletterranken überwucherter Schuppen. In der Blütezeit des Ausstellungsraums war hier die Garage gewesen, in der Reifen- und Ölwechsel durchgeführt sowie Achsen gefettet und andere intime Verrichtungen an der Unterseite der Wagen vorgenommen wurden. Inzwischen hatten Vernachlässigung und Verwitterung dafür gesorgt, dass der Schuppen eher an eine Einsiedlerhütte erinnerte. Ich drehte den Schlüssel, und die Tür flog mit rostigem Ächzen auf. Beim Eintreten schob ich mich vorsichtig an der tiefen Es roch streng und muffig und eindeutig nach Ammoniak, als hausten irgendwelche Tierchen unter den Dielen. In der zur Cow Lane weisenden Wand gab es ein breites Garagentor, das sich einst aufschieben ließ, damit die Automobile herein- und über die Grube fahren konnten, jetzt aber abgeschlossen war. Die Scheiben aller vier Fenster hatte man aus unerfindlichen Gründen mit dicker blutroter Farbe zugepinselt, weshalb in der Baracke ein gruseliges Zwielicht herrschte. An den übrigen drei Wänden standen lauter Holzregale wie Etagenbetten, und darauf lagen Stöße vergilbter Zeitungen: der Hinley-Kurier, der West-County-Anzeiger und das Posthorn am Morgen, alle fein säuberlich nach Jahrgängen geordnet und mit handschriftlichen Signaturen versehen. Es war nicht schwer, den Jahrgang 1920 zu finden. Ich hob den obersten Stapel herunter und wäre beinahe in der Staubwolke erstickt, die mir mitten ins Gesicht schlug wie eine Mehlstaubexplosion. Angenagte Papierfitzelchen rieselten wie Schnee zu Boden. Heute Abend heißt es Badewanne und Schwamm, dachte ich, ob du willst oder nicht. Vor einem verdreckten Fenster stand ein kleiner Tisch. Es gab gerade genug Licht und genug Platz, um die Zeitungen auszubreiten und nacheinander durchzublättern. Das Posthorn am Morgen stach mir vor allem ins Auge, ein Revolverblatt, dessen Titelseite wie bei der Londoner Times voll mit Anzeigen, Kurzmeldungen und privaten Kleinanzeigen war: Verloren: brauner, verschnürter Pappkarton. Für Besitzer von großem Erinnerungswert. Hohe Belohnung! Antwort an »Smith«, z. Zt. im Weißen Herzen, Wolverston Oder: Mein Liebling: Er hat uns beobachtet. Gleiche Zeit nächsten Donnerstag. Bring Speckstein mit. Bruno. Da fiel es mir wieder ein! Vater war in Greyminster zur Schule gegangen … und war Greyminster nicht ganz in der Nähe von Hinley? Ich legte das Posthorn am Morgen wieder auf seine Totenbahre und holte mir die vordersten vier Stapel des Hinley-Kurier. Es handelte sich um eine Wochenzeitung, die jeweils freitags erschienen war. 1920 war der erste Freitag auf Neujahr gefallen, sodass die erste Ausgabe das Datum des folgenden Freitags trug: 8. Januar 1920. Seite um Seite voller Feiertagsnachrichten: Weihnachtsbesuch vom Kontinent, eine verschobene Sitzung des krichlichen Frauenkreises, der für den Altarschmuck zuständig war, ein »gut gewachsenes Schwein« war zu verkaufen, im Grange hatte ein Weihnachtsbüfett stattgefunden, eine Bierkutsche hatte ein Rad verloren. Die Polizeinachrichten vom März waren eine deprimierende Auflistung von Diebstählen, Wilderei und Tätlichkeiten. Ich blätterte unermüdlich weiter; meine Hände waren schon ganz schwarz von der zwanzig Jahre vor meiner Geburt getrockneten Druckerschwärze. Der Sommer brachte noch mehr Besucher vom Kontinent, Markttage, Stellenanzeigen für Hilfsarbeiter, Pfadfinderlager, zwei Wohltätigkeitsbasare und mehrere Eingaben für notwendige Straßenbauarbeiten. Nach einer Stunde war ich kurz davor zu verzweifeln. Wer das alles lesen wollte, musste über übermenschliche Sehkraft verfügen, denn die Schrift war elend klein. Wenn das noch Dann entdeckte ich es: Beliebter Lehrer tödlich verunglückt Bei einem tragischen Unfall am Montagmorgen stürzte Grenville Twining, MA (Oxn.), 72, allgemein beliebter und geachteter Lateinlehrer und Hausleiter im Grey minster-Internat bei Hinley, vom Glockenturm des Anson House zu Tode. Gut informierte Quellen bezeichnen den Unfall als »reinweg unerklärlich«. »Er ist auf die Brüstung geklettert, hat seinen Umhang um sich gezogen und mit den Handflächen nach unten den römischen Gruß an uns gerichtet. ›Vale!‹, hat er zu den Jungen in den Hof hinabgerufen«, schildert uns Timothy Greene aus der sechsten Klasse von Greyminster den Her gang. »Dann ist er auch schon runtergesaust!« »Vale«? Mir stockte das Herz. Genau dieses Wort hatte mir der Sterbende ins Gesicht geröchelt! »Gehab dich wohl.« Das konnte doch kein Zufall sein! Dazu war es viel zu absurd. Es musste irgendeinen Zusammenhang geben - aber welchen? Mist! Mir schossen hundert Gedanken durch den Kopf, aber mein Verstand trat auf der Stelle. Die Garage war kein geeigneter Ort zum Nachdenken, das musste ich auf später verschieben. Ich las weiter: »Mit dem flatternden Umhang sah er aus wie ein fallender Engel«, schluchzte der rotwangige Toby Lonsdale, der von seinen Kameraden weggeführt werden musste, ehe er kurz darauf völlig zusammenbrach. Mr Twining war erst kürzlich im Zusammenhang mit ei ner gestohlenen Briefmarke von der Polizei vernommen worden. Dabei hatte es sich um eine einzigartige und ex trem wertvolle Variante der Penny Black, der Schwarzen Queen Victoria gehandelt. »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, behauptet Dr. Isaac Kissing, der seit 1915 Direktor von Greyminster ist. »Nicht im Mindesten. Mr Twining war ein geschätzter Kollege, und alle, die ihn kannten, hatten ihn, wenn ich das so sagen darf, tief ins Herz geschlossen.« Der Hinley-Kurier hat in Erfahrung gebracht, dass die Ermittlungen der Polizei sowohl in Mr Twinings Fall als auch in dem der gestohlenen Briefmarke fortgeführt werden. Die Ausgabe war vom 24. September 1920. Ich legte die Zeitung wieder ins Regal zurück, ging nach draußen und schloss ab. Als ich den Schlüssel zurückbrachte, saß Miss Mountjoy immer noch untätig am Tresen. »Na, bist du fündig geworden, mein Liebes?«, erkundigte sie sich. »Ja«, antwortete ich und tat so, als müsste ich mir übertrieben viel Staub von den Händen wischen. »Darf ich fragen, was du eigentlich gesucht hast?«, fragte sie verschämt. »Vielleicht kann ich dir ja irgendwelche ergänzende Literatur empfehlen.« Sollte heißen: Sie platzte vor Neugier. »Nein, danke, Miss Mountjoy«, antwortete ich. Aus unerfindlichen Gründen kam ich mir plötzlich vor, als hätte man mir das Herz herausgerissen und durch einen Bleiklumpen ersetzt. »Geht’s dir nicht gut, mein Liebes? Du siehst ein bisschen spitzmäusig aus.« Spitzmäusig? Mir war speiübel! Vielleicht war es die Aufregung, vielleicht auch der unbewusste Versuch, gegen die Übelkeit anzukämpfen, aber ich Sie schnappte nach Luft. Ihr Gesicht wurde erst rot und dann grau, als wäre sie vor meinen Augen in Flammen aufgegangen und zu einem Häufchen Asche verbrannt. Dann zog sie ein Spitzentaschentuch aus dem Ärmel, zerknüllte es und stopfte es sich in den Mund. So saß sie einen Augenblick lang stumm da, wiegte sich hin und her und biss auf ihr Spitzentaschentuch wie ein Seemann im 18. Jahrhundert, dem man gerade das Bein unterhalb des Knies amputiert. Irgendwann sah sie mich mit tränenerfüllten Augen an und entgegnete mit zittriger Stimme: »Mr Twining war der Bruder meiner Mutter.«  6 Wir tranken Tee. Miss Mountjoy hatte irgendwo einen zerbeulten Wasserkessel ausgegraben und nach einer Expedition in ihre voluminöse Handtasche ein schmuddeliges Päckchen Schokokekse zutage gefördert. Ich saß auf der Bibliotheksleiter und nahm mir noch einen Keks. »Es war tragisch«, erzählte Miss Mountjoy. »Mein Onkel war seit Menschengedenken, so kam es einem jedenfalls vor, Hausleiter im Anson House. Er war sehr stolz auf sein Haus und seine Jungen. Keine Mühe war ihm zu viel, wenn es darum ging, sie anzuspornen, damit sie ihr Bestes gaben, und sie auf den Ernst des Lebens vorzubereiten. Er machte immer seine Späße darüber, dass er besser Latein spreche als Julius Cäsar persönlich, und seine Lateinische Grammatik, Twinings Lingua Latina, die übrigens veröffentlicht wurde, als er gerade mal vierundzwanzig war, galt in allen Schulen der Welt als Standardwerk. Ich habe heute noch eine Ausgabe neben dem Bett liegen, und obwohl ich das meiste nicht lesen kann, halte ich das Buch manchmal gern in der Hand, weil es mir Trost spendet: qui, quae, quod und so weiter. Ich finde, die Worte klingen so beruhigend. Der gute alte Grenville hat immerzu irgendetwas Neues auf die Beine gestellt: Er hat die Jungen ermuntert, einen Debattierklub, einen Schlittschuhklub, einen Radsportverein oder eine Cribbage-Runde zu gründen. Er war ein begeisterter Amateurzauberer, wenn auch kein besonders guter. Man Ich hörte auf zu kauen und sah sie erwartungsvoll an. Miss Mountjoy war in eine Art Tagtraum verfallen und machte den Eindruck, als würde sie ohne Aufforderung nicht weiterreden. Während sie erzählte, war ich ganz allmählich in ihren Bann geraten. Sie hatte mit mir von Frau zu Frau geredet, und ich hatte nicht widerstehen können. Sie tat mir leid … ehrlich! »Zum Verhängnis?«, hakte ich nach. »Er beging den entscheidenden Fehler, etlichen charakterlich verderbten jungen Burschen, die sich bei ihm eingeschmeichelt hatten, Vertrauen zu schenken. Sie taten so, als interessierten sie sich brennend für seine kleine Briefmarkensammlung, und täuschten ein noch brennenderes Interesse für die Sammlung von Dr. Kissing vor; er war damals der Rektor der Schule. Dr. Kissing galt zu seiner Zeit als der größte Kenner der Penny Black, der schwarzen Königin-Viktoria-Marke in allen ihren Varianten. Die Penny Black war die erste Briefmarke der Welt. Kissings Sammlung erregte viel Neid, und zwar überall, weltweit, und das sage ich ganz bewusst. Diese schäbigen Subjekte konnten Onkel Grenville überreden, sich für sie einzusetzen und einen Privattermin mit dem Rektor zu vereinbaren, damit sie sich dessen Sammlung ansehen konnten. Während die Burschen sich die Kronjuwelen der Sammlung betrachteten, nahm eine Penny Black Schaden, und zwar irgendeine ganz Besondere, richtig weiß ich das auch nicht mehr.« »Schaden?« »Die Marke ist verbrannt. Einer der Burschen hat sie angezündet. Es sollte wohl ein Scherz sein.« Miss Mountjoy nahm ihre Teetasse und wehte wie ein Windhauch zum Fenster, wo sie lange stehen blieb und hinausschaute. Als ich schon glaubte, sie hätte mich vergessen, sprach sie weiter. »Natürlich machte man meinen Onkel für das Unglück verantwortlich …« Sie drehte sich um und sah mich an. »Den Rest der Geschichte hast du heute Morgen in der Garage erfahren.« »Ihr Onkel hat Selbstmord begangen?« »Er hat keinen Selbstmord begangen!«, stieß sie schrill hervor. Tasse und Untertasse fielen ihr aus der Hand und zersprangen auf dem Fliesenboden. »Jemand hat ihn umgebracht!« »Wer denn?« Ich musste mich sehr zusammennehmen, um diesen Zweiwortsatz korrekt herauszubringen. Miss Mountjoy ging mir allmählich wieder auf die Nerven. »Einer von diesen Ungeheuern!«, stieß sie hervor. »Einer von diesen abscheulichen Ungeheuern!« »Welche Ungeheuer denn?« »Diese jungen Burschen, wer sonst? Die haben ihn so gewiss umgebracht, als hätten sie ihm einen Dolch ins Herz gebohrt.« »Wer waren denn diese Burschen … ich meine, Ungeheuer? Erinnern Sie sich noch an ihre Namen?« »Was geht dich das an? Wie kommst du überhaupt dazu, diese alten Geister wieder aufzuschrecken?« »Ich interessiere mich eben für Geschichte.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wollte sie sich aus einer tiefen Trance zurückrufen, und sprach dann schleppend weiter, wie unter Drogen. »Das ist alles lange her. Sehr, sehr lange. Eigentlich will ich »Umgebracht wurde?« »Ganz recht, ehe er umgebracht wurde. Merkwürdig, oder? Den einen Namen habe ich immer noch im Kopf …« Sie stieß ein ersticktes, nervöses Lachen aus. »Schnäppi«, sagte ich. Miss Mountjoy ließ sich auf den Stuhl plumpsen. Sie war wie vor den Kopf geschlagen und sah mich mit großen Augen an, als wäre ich soeben aus einer anderen Dimension vor ihr materialisiert. »Wer bist du, Kleine?«, fragte sie tonlos. »Warum bist du hergekommen? Wie heißt du?« »Flavia.« An der Tür blieb ich kurz stehen. »Flavia Sabina Dolores de Luce.« »Sabina« stimmte, aber »Dolores« hatte ich mir gerade eben ausgedacht. Bevor ich es aus seiner rostigen Vergessenheit erlöste, hatte mein treues altes BSA-Rad jahrelang zwischen Blumentöpfen und hölzernen Schubkarren in einem Geräteschuppen gestanden. Wie manch anderes bei uns auf Buckshaw hatte es einmal Harriet gehört. Sie hatte es seinerzeit l’Hirondelle genannt: die Schwalbe. Ich hatte es umgetauft, und jetzt hieß es Gladys. Gladys’ Reifen waren platt gewesen, ihre Gangschaltung hatte nach Öl gelechzt, aber mit der zugehörigen Luftpumpe und der schwarzen Lederwerkzeugtasche hinter dem Sattel war sie bestens ausgerüstet. Mit Doggers Hilfe hatte ich sie alsbald tipptopp aufgemöbelt. Obendrein hatte ich in dem Schuppen eine Broschüre mit dem Titel Fahrradfahren für Frauen jeglichen Alters gefunden, verfasst von einer gewissen Prunella Stack, »Vorsitzende des Damenvereins zur Pflege von Gesundheit und Schönheit«. Auf dem Einband stand mit schwarzer Tinte und in einer schönen, geschwungenen Handschrift: Harriet de Luce, Buckshaw. Manchmal war Harriet gar nicht tot - dann war sie überall. Als ich im Affentempo vorbei an den schiefen, moosbewachsenen Grabsteinen im überfüllten Friedhof von St. Tankred durch enge, baumbestandene Sträßchen, über die kreidige Hauptstraße und dann über Land heimwärts radelte, ließ ich Gladys freien Lauf. Sie sauste bergab, dass die Hecken nur so vorbeiflitzten, wobei ich mir immer vorstellte, ich sei die Pilotin einer jener Spitfires, die noch vor fünf Jahren wie Schwalben über dieselben Hecken hinweggesaust waren, um drüben in Leathcote zu landen. Der Broschüre hatte ich entnommen, dass ich, wenn ich in kerzengerader Haltung radelte wie Miss Gulch im Film Der Zauberer von Oz, mir eine abwechslungsreiche Gegend aussuchte und nie vergaß, tief durchzuatmen, vor Gesundheit glühen würde wie der Leuchtturm von Eddystone und niemals Pickel bekäme. Diesen überaus wertvollen Hinweis hatte ich natürlich unverzüglich an Ophelia weitergegeben. Ob es wohl auch eine Broschüre mit dem Titel Fahrradfahren für Männer jeglichen Alters gab oder gegeben hatte? Und wenn ja, ob sie wohl vom Vorsitzenden des »Herrenvereins für Gesundheit und Attraktivität« verfasst worden war? Ich tat oft so, als sei ich der Sohn, den sich Vater bestimmt immer gewünscht hatte: der Sohn, den er zum Lachsfischen und zur Moorhuhnjagd nach Schottland mitnehmen konnte, den er nach Kanada schicken konnte, damit er dort Eishockey spielen lernte. Nicht dass Vater selbst irgendetwas dergleichen unternommen hätte, aber ich malte mir gern aus, dass er es vielleicht als Vater eines Sohnes getan hätte. Mit zweitem Vornamen hätte ich wie er Laurence geheißen, und unter uns Männern hätte er mich gewiss Larry genannt. Wie enttäuscht er gewesen sein musste, als er ein Mädchen nach dem anderen bekam. War ich zu gemein zu dieser Schreckschraube Miss Mountjoy »Zum Teufel, niemals!«, brüllte ich dem Wind entgegen und sang aus voller Kehle: Umba-tschukka! Umba-tschukka Umba-tschukka-Buum! Trotzdem fühlte ich mich Lord Baden Powells idiotischen Pfadfindern nicht mehr verbunden als Prinz Ali aus dem Morgenland. Ich war ich. Ich war Flavia. Und ich fand mich toll, auch wenn ich da die Einzige war. »Hoch lebe Flavia! Flavia für immer und ewig!«, johlte ich, als Gladys und ich mit Höchstgeschwindigkeit durchs Mulford-Tor und in die von Kastanienbäumen gesäumte Auffahrt nach Buckshaw sausten. Das prächtige, kunstvoll aus schwarzem Schmiedeeisen gefertigte Tor mit den dräuenden Greifen hatte einst das Nachbaranwesen namens ›Batchley‹ geziert, Stammsitz der »Elenden Mulfords«. Um 1760 gelangte das Tor nach Buckshaw, als ein gewisser Brandwyn de Luce - nachdem einer der Mulfords mit seiner Ehefrau durchgebrannt war - es bei den Nachbarn abbauen ließ und einfach mitnahm. Mit diesem Tausch Eheweib gegen Eingangstor (»Das prächtigste diesseits des Paradieses«, hatte Brandwyn in seinem Tagebuch vermerkt) schien die Angelegenheit beigelegt zu sein, denn die Mulfords und die de Luces blieben weiterhin gute Freunde und Nachbarn, bis der letzte Mulford, Tobias, zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs sein Anwesen verkaufte und sich nach Übersee aufmachte, um seinen Vettern in den Südstaaten beizustehen. »Hast du noch mal kurz Zeit, Flavia?«, fragte Inspektor Hewitt, der soeben aus der Haustür trat. Hatte er auf mich gewartet? »Klar«, erwiderte ich huldvoll. »Wo kommst du her?« »Bin ich verhaftet, Herr Inspektor?« Es war ein Scherz. Hoffentlich kapierte er das. »Ich bin bloß neugierig.« Er holte eine Pfeife aus der Jackentasche, stopfte sie und riss ein Streichholz an. Ich sah zu, wie es bis auf seine eckigen Fingerkuppen herunterbrannte. »Ich war in der Bücherei«, verkündete ich. Er zündete die Pfeife an und zeigte mit dem Stiel auf Gladys. »Ich sehe aber keine Bücher.« »Die Bücherei hatte geschlossen.« »Ach so.« Der Mann strahlte eine Ruhe aus, die einen wahnsinnig machen konnte. Noch mitten in einem Mordfall war er so gelassen, als spazierte er durch einen Park. »Ich habe mit Dogger gesprochen«, sagte er. Mir fiel auf, dass er mich dabei scharf beobachtete. »Ach ja?«, entgegnete ich, aber im Hinterkopf vernahm ich einen Ton wie von der Alarmglocke in einem U-Boot kurz vor dem Tauchgang. Achtung!, dachte ich. Aufgepasst. Was hat ihm Dogger erzählt? Von dem sonderbaren Fremden? Von seinem Streit mit Vater? Den Drohungen? Das war das Blöde an Leuten wie Dogger. Er konnte jederzeit aus irgendeinem nichtigen Grund einknicken. Hatte er die ganze Geschichte mit dem Fremden in Vaters Arbeitszimmer ausgeplaudert? Verflixt! Der Teufel sollte ihn holen! »Dogger hat berichtet, du hättest ihn heute gegen vier Uhr früh geweckt und ihm mitgeteilt, dass im Garten ein Toter liegt. Stimmt das?« Ich verkniff mir einen erleichterten Seufzer und erstickte beinahe dran. Danke, Dogger, danke! Der Herr segne und behüte dich und lasse sein Angesicht leuchten über dir! Treuer alter Dogger. Ich hab’s doch gewusst, dass man sich auf dich verlassen kann. »Ja«, bestätigte ich, »das stimmt.« »Was geschah dann?« »Wir gingen nach unten und durch die Küche hinaus in den Garten. Ich habe Dogger gezeigt, wo der Tote liegt. Er hat sich neben ihn gekniet und ihm den Puls gefühlt.« »Wie hat er das gemacht?« »Er hat ihm die Finger an den Hals gelegt … unters Ohr.« »Hm«, machte der Inspektor. »Und? Ich meine: War noch ein Puls festzustellen?« »Nein.« »Woher weißt du das? Hat Dogger das gesagt?« »Nein.« »Hm«, machte er noch mal. »Hast du dich auch neben den Toten gekniet?« »Kann sein. Aber ich glaube nicht … ich weiß es nicht mehr.« Der Inspektor schrieb sich etwas auf. Ich wusste auch was, nämlich: Unklar: Hat D. (1) F. gesagt, dass kein Puls? (2) Hat F. nL (neben Leiche) gekniet? »Das kann ich gut nachvollziehen«, sagte er. »Du warst bestimmt ganz verstört.« Ich rief mir den Anblick des Fremden ins Gedächtnis zurück, wie er im Morgengrauen im Gurkenbeet lag: das stoppelige Kinn, die roten Haarsträhnen, die leise hin und her wehten, die bleichen Wangen, das ausgestreckte Bein, die bebenden Finger, der letzte, röchelnde Atemzug. Und das Wort, das er mir zuhauchte … »Vale.« Hach, was für ein Nervenkitzel! »Ja«, sagte ich. »Ich war ganz schön baff.« Allem Anschein nach hatte ich den Test bestanden. Inspektor Hewitt war wieder in der Küche verschwunden, wo die Sergeanten Woolmer und Graves eifrig dabei waren, unter einem Sperrfeuer aus Mrs Mullets Klatschgeschichten und Salatsandwiches ihre Ermittlungen weiterzuführen. Als Ophelia und Daphne zum Mittagessen runterkamen, nahm ich enttäuscht zur Kenntnis, dass Ophelia heute besonders reine Haut hatte. War mein teuflischer Anschlag nach hinten losgegangen? Hatte ich durch einen launischen Zufall in der Geschichte der Chemie versehentlich eine Wundergesichtscreme entwickelt? Mrs Mullet kam geschäftig angelaufen und stellte uns mit mürrischer Miene Suppe und Sandwiches hin. »So was aber auch!«, schimpfte sie. »Ich bin sowieso schon über die Zeit und dann noch dieser ganze Wirbel, dabei wartet Alf schon zu Hause und überhaupt! Die haben vielleicht Nerven, lassen mich die tote Schnepfe aus der Mülltonne wühlen.« Sie schüttelte sich. »Bloß damit sie sich das Vieh noch mal ansehen können. So was aber auch! Ich hab ihnen gezeigt, wo die Mülltonne steht, und gesagt, wenn sie so scharf auf den Vogel sind, sollen sie ihn sich gefälligst selber rausholen, ich muss nämlich Mittagessen machen. Esst eure Brote, meine Lieben. Im Juni gibt es nichts Besseres als kalten Braten. Fast so gut wie ein Picknick.« »Eine tote Schnepfe?« Daphne verzog angeekelt die Oberlippe. »Der tote Vogel, der gestern vor der Küchentür sein Leben ausgehaucht hat. Miss Flavia und der Colonel haben’s auch gesehen. Ich krieg immer noch’ne Gänsehaut, wenn ich dran denke, wie das Vieh da lag, die Augen ganz starr, den Schnabel hoch in die Luft und dann noch das Papierfitzelchen draufgesteckt.« »Ned!« Ophelia schlug auf den Tisch. »Du hattest tatsächlich Recht, Daffy. Es ist ein Liebespfand!« Daphne hatte über Ostern Der Goldene Zweig gelesen und Ophelia erzählt, dass sich manche primitiven Bräuche aus der Südsee hinsichtlich der Brautwerbung bis in unsere aufgeklärten Zeiten erhalten hätten. Man musste einfach nur Geduld haben, hatte sie gemeint. Ich schaute verdutzt von einer zur anderen. Es gab ganze Ewigkeiten, in denen ich meine Schwestern schlicht nicht verstand. »Ein toter Vogel, steif wie ein Brett, der den Schnabel in die Luft reckt? Was soll das bitteschön für ein Liebespfand sein?«, fragte ich. Daphne versteckte sich hinter ihrem Buch, Ophelia errötete diskret. Ich stand auf und ließ die beiden in ihre Suppe kichernd zurück. »Mrs Mullet«, fragte ich, »haben Sie Inspektor Hewitt nicht erzählt, dass es hier eigentlich vor September nie Schnepfen gibt?« »Schnepfen, Schnepfen, Schnepfen! Gibt’s denn kein anderes Thema mehr? Geh mal bitte aus dem Weg. Du stehst da, wo ich grade wischen will.« »Wie kommt das eigentlich? Wieso gibt es bei uns vor September keine Schnepfen?« Mrs Mullet richtete sich auf, ließ die Bürste in den Eimer plumpsen und trocknete sich die seifigen Hände an der Schürze ab. »Weil sie woanders sind«, verkündete sie triumphierend. »Wo denn?« »Na ja … da, wo die anderen Zugvögel auch sind. Irgendwo im Norden. Vielleicht besuchen sie ja den Weihnachtsmann in der Sommerfrische.« »Was meinen Sie mit ›Norden‹? Wo im Norden? In Schottland?« »Schottland! Meine Güte, nein. Sogar Margaret, die zweite Sie lachte. In meinen Ohren rauschte es, und etwas machte Klick. »Was ist mit Norwegen?«, fragte ich. »Glauben Sie, die Zwergschnepfen verbringen den Sommer vielleicht in Norwegen?« »Könnte schon sein, mein Schatz. Schlag’s am besten nach.« Richtig! Hatte Inspektor Hewitt nicht zu Dr. Darby gesagt, dass sie Grund zu der Annahme hätten, der tote Fremde sei aus Norwegen gekommen? Wie kam er darauf? Würde er es mir verraten, wenn ich ihn danach fragte? Eher nicht. In diesem Fall musste ich es eben selbst herausfinden. »Und jetzt ab mit dir«, sagte Mrs Mullet. »Ich kann erst heimgehen, wenn ich den Boden fertig gewischt habe, und es ist schon eins. Die Verdauung von meinem armen Alf schlägt wahrscheinlich jetzt schon Kobolz.« Ich ging durch die Hintertür nach draußen. Die Polizisten und der Arzt waren schon weg und hatten die Leiche mitgenommen. Der Garten kam mir seltsam leer vor. Dogger war nirgends zu sehen, darum setzte ich mich auf einen niedrigen Abschnitt der Gartenmauer und dachte ein bisschen nach. Sollte tatsächlich Ned die tote Schnepfe als Liebesgabe für Ophelia vor unsere Tür gelegt haben? Ophelia schien jedenfalls davon überzeugt. Wenn es aber Ned gewesen war, wo hatte er den Vogel her? Zweieinhalb Sekunden später schnappte ich mir Gladys, schwang mich in den Sattel und sauste, zum zweiten Mal an diesem Tag, wie der Wind ins Dorf. Höchste Eile war geboten. Bis jetzt wusste in Bishop’s Lacey noch keiner vom Tod des Fremden. Die Polizei hatte bestimmt noch niemandem etwas davon erzählt - und ich auch nicht. Das Getratsche würde erst losgehen, wenn Mrs Mullet mit Wischen fertig und nach Hause ins Dorf gegangen war. Aber dann würde sich die Kunde von dem Mord so rasend schnell ausbreiten wie der Schwarze Tod. Und ich musste unbedingt vorher noch etwas sehr Wichtiges herausfinden.  7 Ich bremste scharf und lehnte Gladys an einen verwitterten Bauholzstapel. Ned war noch im Hof des Wirtshauses beschäftigt. Er hatte alle Bierfässer weggerollt und war nun dabei, Käseräder so groß wie Mühlsteine von einem geparkten Laster abzuladen, wobei er großspurig die Muskeln spielen ließ. »Hoy, Flavia«, begrüßte er mich und nutzte sogleich die Gelegenheit, seine Arbeit zu unterbrechen. »Magst’n Stück Käse?« Ehe ich antworten konnte, hatte er ein brutal aussehendes Klappmesser aus der Tasche geholt und erschreckend mühelos eine dicke Scheibe Stilton abgeschnitten. Er selbst schnitt sich auch eine ab und biss mit »geräuschvollem Gusto« (so hätte Daphne das genannt) herzhaft hinein. Daphne will Schriftstellerin werden, darum notiert sie sich in einem alten Kontobuch alle möglichen Redewendungen, die ihr bei der täglichen Lektüre auffallen. Mir war der »geräuschvolle Gusto« noch vom letzten Mal, als ich heimlich in ihrem Buch gelesen hatte, in Erinnerung. »Warste daheim?«, erkundigte sich Ned und warf mir einen verlegenen Seitenblick zu. Was jetzt kommen würde, konnte ich mir denken. Ich nickte. »Und wie geht’s Miss Ophelia? War der Doktor schon bei ihr?« »Ja, ich glaube, er hat heute Morgen bei uns reingeschaut.« Ned schluckte den Schwindel anstandslos. »Ist sie immer noch überall grün?« »Sie ist inzwischen gelblicher«, sagte ich. »Und zwar eher schwefelgelb als kupfrig.« Ich hatte festgestellt, dass eine Lüge, wenn man sie in möglichst viele Einzelheiten verpackt, besser rutscht, so, wie man kranken Pferden ihre Tablette in einen Apfel steckt. Diesmal merkte ich jedoch, kaum dass ich es ausgesprochen hatte, dass ich zu weit gegangen war. »Ha, Flavia!«, sagte Ned. »Du willst dich bloß über mich lustig machen.« Ich schenkte ihm mein bestes Spätzünder-Landei-Lächeln. »Du hast mich ertappt, Ned«, erwiderte ich. »Schuldig im Sinne der Anklage.« Er revanchierte sich mit einem schiefen Abbild meines Grinsens. Ich argwöhnte schon, er wollte mich nachäffen, und mir kam die Galle hoch, doch dann begriff ich, dass er sich ehrlich freute, mich durchschaut zu haben. Das war die Gelegenheit! »Du, Ned«, sagte ich, »würdest du mir antworten, wenn ich dir eine ungeheuer persönliche Frage stellen würde?« Ich wartete, bis mein Ansinnen bei ihm angekommen war. Mit Ned zu kommunizieren war in etwa so, als wechselte man Telegramme mit einem mongolischen Leseanfänger. »Ich würd’ schon antworten«, erwiderte er schließlich. Das verschlagene Glitzern in seinen Augen verriet, was er gleich hinzufügen würde: »Aber ich würd vielleicht nicht ehrlich sein, ist doch klar.« Nachdem wir darüber tüchtig gelacht hatten, kam ich zur Sache. Ich fuhr gleich die ganz schweren Geschütze auf. »Du bist doch superscharf auf Ophelia, stimmt’s?« Ned steckte nachdenklich die Zunge in die Backe und fuhr sich mit dem Finger um den Hals unter dem Hemdkragen. »Deine Schwester ist’n echt nettes Mädchen, das steht mal fest.« »Würdest du dich nicht gern eines Tages mit ihr in einem hübschen strohgedeckten Häuschen niederlassen wollen und einen Stall voll Kinder aufziehen?« Inzwischen glich Neds Hals einer Säule aufsteigender Röte wie ein dickes Alkoholthermometer. Im Handumdrehen sah er aus wie einer jener Vögel, die bei der Balz den Kropf aufplustern. Ich erbarmte mich seiner. »Nur mal angenommen, sie würde sich gern mit dir treffen, aber ihr Vater würde das nicht erlauben. Nur mal angenommen, eine ihrer Schwestern könnte euch ein wenig behilflich sein.« Sein roter Kropf wurde schon flacher. Er kämpfte mit den Tränen. »Ist das dein Ernst, Flavia?« »Großes Indianerehrenwort.« Ned hielt mir die schwieligen Finger hin und schüttelte mir verblüffend sanft die Hand. Ich kam mir vor, als hätte ich einer Ananas die Hand gegeben. »Hand gegeben, Brüder fürs Leben«, verkündete er, was immer das heißen sollte. Hand gegeben, Brüder fürs Leben? Hatte ich eben den geheimen Handschlag irgendeiner bäuerlichen Bruderschaft empfangen, die sich bei Mondschein auf Friedhöfen und in verschwiegenen Wäldchen traf? War ich nunmehr offiziell aufgenommen und musste künftig an unaussprechlich blutigen mitternächtlichen Zeremonien in Wiesen und Feldern teilnehmen? Nicht die schlechteste Aussicht, wie ich fand. Ned grinste mich an wie der Totenschädel auf einer Piratenflagge. Ich bekam wieder Oberwasser. »Also aufgepasst!«, sagte ich. »Erste Lektion: Niemals tote Vögel vor die Tür legen. Das machen nur liebeskranke Kater.« Ned machte ein verständnisloses Gesicht. »Ich hab bloß ein-, zweimal Blumen hingelegt, damit Ophelia »Aber tote Vögel? Noch nie. Du kennst mich doch, Flavia. So was würd’ ich nie machen.« Ich überlegte kurz und kam zu dem Schluss, dass er Recht hatte. Es passte nicht zu ihm. Meine nächste Frage stellte sich jedoch als echter Glückstreffer heraus. »Weiß Mary Stoker eigentlich, dass du in Ophelia verschossen bist?« Den Ausdruck hatte ich aus irgendeinem amerikanischen Kinofilm, aus Heimweh nach St. Louis oder Vier Schwestern, und endlich hatte ich mal Gelegenheit, ihn anzubringen. Wie Daphne prägte ich mir bestimmte Ausdrücke und Redewendungen ein, benötigte allerdings kein Kontobuch, um sie mir aufzuschreiben. »Was hat denn Mary damit zu tun? Sie ist Tullys Tochter, und damit hat sich’s.« »Komm schon, Ned, ich hab genau gesehen, wie ihr euch heute Vormittag geküsst habt, als ich … zufällig vorbeikam.« »Ich wollte sie bloß’n bissel trösten. Mehr war nicht.« »Weil irgendwer sie von hinten überrascht hatte?« Ned sprang auf. »Du blöde …!«, rief er. »Das soll keiner wissen!« »Als sie seine Bettwäsche gewechselt hat?« »Du bist eine Hexe, Flavia de Luce!«, brüllte Ned. »Hau ab! Fahr heim!« »Erzähl’s ihr ruhig, Ned«, sagte da jemand leise. Als ich mich umdrehte, stand Mary in der Tür. Mit einer Hand stützte sie sich am Türrahmen ab, mit der anderen fasste sie sich an den Kragen wie Tess von den d’Urbervilles leibhaftig. Von Nahem sah man, dass sie grobe, rot aufgesprungene Hände hatte und fürchterlich schielte. »Erzähl’s ihr ruhig«, wiederholte sie. »Jetzt isses sowieso egal, oder?« Ich merkte sofort, dass sie mich nicht leiden konnte. Das ist nämlich ein weiblicher Urinstinkt, dass ein Mädchen sofort merkt, ob ein anderes Mädchen es leiden kann oder nicht. Feely behauptet, im Gegensatz dazu sei zwischen Männern und Frauen die Telefonverbindung unterbrochen, und man wisse nie, wer von beiden aufgelegt hätte. Bei einem Jungen wüsste man nie, ob er in einen verknallt ist oder einen nur veräppeln will; wie ein Mädchen einen findet, weiß man nach drei Sekunden. Zwischen Mädchen gibt es einen unaufhörlichen Strom unhörbarer und unsichtbarer Signale, wie die Hochfrequenzradiosignale zwischen Schiffen auf hoher See und der Küste, und diese geheime Abfolge von Punkten und Strichen signalisierte mir, dass Mary mich nicht leiden konnte. »Na los, erzähl’s ihr!«, forderte Mary ihn auf. Ned schluckte schwer und klappte den Mund auf, aber kein Laut kam heraus. »Du bist doch Flavia de Luce, oder?«, fragte Mary. »Eine von denen oben aus Buckshaw.« Sie schleuderte es mir wie eine Torte ins Gesicht. Ich nickte brav, als wäre ich ein vernachlässigter adliger Inzuchtbalg, der ein bisschen liebgehabt werden muss. Lieber mitspielen, dachte ich. »Dann komm mal mit!« Mary winkte mich heran. »Aber beeil dich - und sei ja leise!« Ich folgte ihr in eine dunkle gemauerte Speisekammer aus Stein und eine gezimmerte, steile Treppe hinauf. Oben huschten wir in eine Art Wäschekammer, eine Art hohen Wandschrank, in dem inzwischen Regale mit Putzmitteln, Seife und Bohnerwachs standen. In der Ecke lehnten kreuz und quer mehrere Aufnehmer und Besen, und es stank betäubend nach Karbol. »Pst!« Mary kniff mich fest in den Arm. Schwere Schritte »Der Tag wird kommen, an dem ein Cotswold-Pferd die Siegerprämie einheimst. An deiner Stelle würde ich ein paar Kröten auf Seastar setzen, und scheiß auf die Tipps, die dir irgendwelche Londoner Angeber aufschwatzen wollen. Die können doch alle ihren Arsch nicht von ihrem Ellenbogen unterscheiden!« Das war Tully, der mit irgendwem Wetttipps austauschte, und das in so vertraulichem Ton, dass man ihn noch in Epsom Downs hören konnte. Die leise Erwiderung auf seine kleine Ansprache endete in »Har-Har!«, dann verklangen die Schritte in dem Labyrinth holzgetäfelter Flure. »Hier lang«, zischelte Mary und zog mich am Ärmel. Wir bogen in einen engen Gang ab. Mary holte einen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss geräuschlos die letzte Tür links auf. Wir standen in einem Zimmer, das sich seit 1592, als Königin Elisabeth Bishop’s Lacey auf einer ihrer Sommer reisen durchs Land besuchte, nicht wesentlich verändert hatte. Balkendecke, Stuckpaneele, ein winziges, bleiverglastes Fenster, das zum Lüften offen stand, und breite Dielen, die sich wie ein sanft wogendes Meer wellten - so mein erster Eindruck. An einer Wand stand ein lädierter Tisch mit dem ABC Zugfahrplan (Oktober 1946) unter dem einen Bein, damit er nicht kippelte. Obendrauf standen und lagen ein nicht zueinanderpassendes Waschgeschirr aus Krug und Schüssel in Rosa und Blassgelb, ein Kamm, eine Bürste und ein kleines schwarzes Lederetui. In der Ecke neben dem offenen Fenster sah ich ein einzelnes Gepäckstück: ein billig aussehender Überseekoffer aus Vulkanfiber, der über und über mit bunten Aufklebern gepflastert war. Daneben stand ein einfacher Stuhl, dem in der Lehne eine Strebe fehlte. Auf der anderen Seite gab es einen »Das isses!«, verkündete Mary. Als sie uns einschloss, betrachtete ich sie zum ersten Mal richtig. In dem grauen Spülwasserlicht, das durch das schmutzige Fenster hereinfiel, wirkte sie älter, härter und spröder als das Mädchen mit den verarbeiteten Händen aus dem sonnenbeschienenen Hof. »Wahrscheinlich hast du noch nie im Leben so ein kleines Zimmer gesehen«, sagte sie spöttisch. »Ihr da oben auf Buckshaw besucht doch gern die Irrenanstalt, was? Begafft die Bekloppten - wollt mal sehen, wie unsereiner in seinen Käfigen so haust. Werft uns einen Keks durchs Gitter.« »Ich weiß nicht, wovon du redest.« Mary wandte sich nach mir um, damit mich die ganze Wucht ihres vernichtenden Blicks traf. »Tu nicht so unschuldig! Deine Schwester, diese Ophelia, hat dich doch mit’ner Nachricht für Ned hergeschickt. Sie hält mich wohl für’n Flittchen oder so was, aber das stimmt nicht!« Da kam ich zu dem Schluss, dass ich Mary mochte, auch wenn das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Wer den Ausdruck »Flittchen« benutzte, war eine Freundschaft wert. »Hör zu«, erwiderte ich, »das mit der Nachricht stimmt nicht. Das hab ich nur zur Tarnung gesagt. Du musst mir helfen, Mary! Das machst du bestimmt. Bei uns auf Buckshaw wurde nämlich jemand umgebracht …« Zack! Jetzt war es raus! »… und niemand weiß davon, nur du und ich … und der Mörder natürlich.« Sie hatte sich gleich wieder im Griff und fragte: »Und wer?« »Keine Ahnung. Darum bin ich ja hergekommen. Ich hab mir gedacht, wenn ein Toter in unserem Gurkenbeet liegt und nicht mal die Polizei ihn identifizieren kann, ist er höchstwahrscheinlichDreizehn Erpel abgestiegen - falls er überhaupt irgendwo abgestiegen ist. Kannst du mir das Gästebuch beschaffen?« »Nicht nötig. Wir haben zurzeit sowieso nur einen Gast, und das ist Mr Sanders.« Je länger ich mich mit Mary unterhielt, desto sympathischer wurde sie mir. »Und das hier ist sein Zimmer«, setzte sie zuvorkommend hinzu. »Und wo kommt Mr Sanders her?«, fragte ich. Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Keine Ahnung.« »Hat er schon mal hier übernachtet?« »Nicht dass ich wüsste.« »Dann muss ich unbedingt im Gästebuch nachsehen. Bitte, Mary, es ist wichtig! Die Polizei kommt bestimmt bald zu euch, und dann ist es zu spät.« »Na schön.« Sie schloss wieder auf und schlich in den Gang hinaus. Kaum war sie draußen, öffnete ich die Schranktür. Bis auf zwei hölzerne Kleiderbügel war er leer. Daraufhin widmete ich mich dem Überseekoffer, der mit Aufklebern besetzt war wie ein Schiffsrumpf mit Seepocken. Diese farbenfrohen Krustentiere trugen jedoch Aufschriften: Paris, Rom, Stockholm, Amsterdam, Kopenhagen, Stavanger und viele andere. Ich betätigte die Schließe, und zu meiner Verblüffung schnappte sie auf. Der Koffer war nicht abgeschlossen! Er ließ sich mühelos aufklappen und ich sah mich Mr Sanders’ Garderobe gegenüber: ein blauer Sergeanzug, zwei Hemden, ein Paar braune Schnürschuhe (zu blauem Serge? Das wusste ja sogar ich, dass das nicht zusammenpasste!), und ein Schlapphut wie aus dem Theater, der mich an gewisse Fotos von G. K. Chesterton aus der Radio Times erinnerte. Ich zog die Kofferschubladen auf, wobei ich darauf achtete, dass ich den Inhalt nicht durcheinanderbrachte: eine Haarbürste H B? Wohnte hier nicht ein Mr Sanders? Wofür konnte HB stehen? Die Tür flog auf, und jemand fauchte: »Was machst du da?« Mir blieb fast das Herz stehen. Es war Mary. »Das Gästebuch konnte ich nicht holen, Dad war … Flavia! Du kannst doch nicht im Gepäck von’nem Gast rumwühlen! Wir kriegen beide einen Riesenärger! Lass das!« »Schon gut«, sagte ich und griff noch rasch in die Anzugtaschen. Sie waren sowieso leer. »Wann hast du Mr Sanders zuletzt gesehen?« »Gestern. Gestern Mittag.« »Hier? In diesem Zimmer?« Sie schluckte, nickte und wandte den Blick ab. »Ich hab die Bettwäsche gewechselt, da stand er plötzlich hinter mir und hat mich betatscht. Hat mir die Hand auf’n Mund gedrückt, damit ich nicht schreie. Ein Glück, dass Dad im Hof war und mich gerufen hat. Da hat er’s dann doch mit der Angst zu tun gekriegt. Aber ich hab ihn tüchtig getreten, sogar zweimal! So ein Ferkel! Ich hätt ihm die Augen ausgekratzt, wenn ich drangekommen wär!« Sie sah mich mit einem Mal verlegen an, als hätte sich jäh ein riesiger gesellschaftlicher Abgrund zwischen uns aufgetan. »Also ich an deiner Stelle hätte ihm die Augen ausgekratzt und hinterher die Höhlen ausgesaugt«, sagte ich. Sie riss entsetzt die Augen auf. »John Marston«, erklärte ich rasch. »Die holländische Kurtisane. Sechzehn-Null-Vier.« Nach einer ungefähr zweihundert Jahre dauernden Pause prustete Mary los. »Du bist mir vielleicht eine!«, sagte sie. Der Abgrund war überbrückt. »Zweiter Akt«, fügte ich hinzu. Und schon krümmten wir uns beide vor unterdrücktem Lachen, hüpften, die Hände auf den Mund gedrückt, durchs Zimmer und schnaubten zweistimmig wie ein Pärchen dressierter Seehunde. »Feely hat es uns damals mit der Taschenlampe unter der Bettdecke vorgelesen«, berichtete ich, worauf wir aus unerfindlichen Gründen noch viel mehr lachen mussten, so lange, bis wir uns kaum noch rühren konnten. Mary umarmte mich so stürmisch, dass ich keine Luft mehr bekam. »Du bist echt’ne Marke, Flavia«, sagte sie. »Ganz ehrlich. Komm her - sieh dir das mal an.« Sie ging zum Tisch, knotete den dünnen Riemen des schwarzen Lederetuis auf und öffnete den Deckel. In dem Etui befanden sich zwei Reihen jeweils sechs kleiner Glasfläschchen, insgesamt also zwölf. Elf waren mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt, das zwölfte war nur ein Viertel voll. Zwischen den Reihen mit den Behältern war eine halbrunde Vertiefung, als gehörte dort ein Röhrchen oder etwas Ähnliches hinein. »Was hältst du davon?«, flüsterte sie, als Tullys Organ von fern erscholl. »Glaubst du, das ist Gift? Ist unser Mr Sanders so’ne Art Dr. Crippen?« Ich entkorkte das nur teilweise gefüllte Fläschchen und führte es an die Nase. Der Inhalt roch, als hätte jemand Essig auf die Rückseite eines Heftpflasters geträufelt, ein beißender Eiweißgeruch, als ob im Nebenzimmer jemand Haare von einem Alkoholiker in Brand gesteckt hätte. »Insulin«, konstatierte ich. »Euer Mr Sanders ist Diabetiker.« Mary sah mich verständnislos an, und ich konnte plötzlich nachvollziehen, wie sich Archimedes gefühlt haben musste, als er in der Badewanne saß und »Heureka!« jubelte. Ich packte Mary am Arm. »Hat Mr Sanders rote Haare?« »Karottenrote. Woher weißt du das?« Sie staunte mich an, als wäre ich Madame Zolanda von der Kirmes, mit Turban, Kopftuch, Kristallkugel und allem Drum und Dran. »Hexerei«, antwortete ich.  8 »Mensch!« Mary fischte einen runden Metallpapierkorb unter dem Tisch hervor. »Den hätt ich ja fast vergessen! Dad macht mir die Hölle heiß, wenn er erfährt, dass ich das Ding nicht geleert hab. Er hat’s immer so mit den Bazillen, Dad meine ich, auch wenn man das nicht denken sollte, so wie er aussieht. Zum Glück ist es mir noch eingefallen, bevor … meine Güte! Schau dir bloß diese Sauerei an!« Sie verzog das Gesicht und hielt den Papierkorb mit ausgestrecktem Arm von sich weg. Ich spähte - ziemlich misstrauisch - hinein. Man weiß nie, worauf man sich einlässt, wenn man seine Nase in anderer Leute Müll steckt. Der Boden des Papierkorbs war mit Gebäckresten und -krümeln übersät: keine Tüte, einfach Reste, als sei der Betreffende satt gewesen oder hätte genug gehabt. Es sah aus wie die Reste einer Pastete. Als ich in den Korb griff und ein Stück davon herausholte, stieß Mary einen Würgelaut aus und wandte den Kopf ab. »Hier!«, sagte ich. »Das Stück ist vom Rand, siehst du? Hier ist es goldbraun, und hat auf einer Seite kleine Teigbröckchen, wie eine Verzierung. Die übrigen Stücke stammen vom Boden, sie sind heller und dünner. Kein besonders duftiger Blätterteig.« Ich machte eine Pause und setzte hinzu: »Trotzdem, ich habe einen Bärenhunger! Wenn man den ganzen Tag nichts gegessen hat, sieht alles lecker aus.« Ich machte den Mund auf, als wollte ich den Teigrest hinunterschlingen. »Flavia!« Ich hielt mit meiner bröckeligen Beute auf halbem Weg zum Mund inne. »Hm?« »Lass den Blödsinn!«, sagte Mary. »Gib’s her, ich schmeiß es weg.« Eine innere Stimme sagte mir, dass das keine gute Idee war. Die Stimme sagte mir auch, dass die Pastetenreste ein Beweisstück waren, das ich lieber für Inspektor Hewitt und die beiden Sergeanten zurücklassen sollte. Ich erwog es allen Ernstes. »Hast du ein Stück Papier?«, fragte ich. Mary schüttelte den Kopf. Ich öffnete den Schrank, stellte mich auf die Zehenspitzen und tastete im obersten Regalfach umher. Wie vermutet, war dort eine Zeitung als Abdeckung ausgebreitet. Gott segne Sie, Tully Stoker! Behutsam legte ich die größeren Pastetenbrocken auf die Daily Mail und faltete die Zeitung fein säuberlich zu einem Päckchen. Mary sah mir beklommen zu, äußerte aber keine Einwände. »Für den Labortest«, erklärte ich vielsagend. Offen gestanden hatte ich keine Ahnung, was ich mit dem ekligen Zeug anstellen wollte. Ich würde mir nachher etwas einfallen lassen, jetzt wollte ich Mary nur vorführen, wer hier das Sagen hatte. Ich stellte den Papierkorb wieder hin und erschrak, als sich darin etwas regte. Ich schäme mich nicht zu gestehen, dass mein Magen instinktiv einen doppelten Salto vollführte. Was war das? Maden? Eine Ratte? Ausgeschlossen - ein so großes Tier hätte ich auf keinen Fall übersehen. Argwöhnisch linste ich noch einmal in den Papierkorb, und tatsächlich - da ganz auf dem Boden regte sich etwas. Eine Feder! Sie wehte sanft, fast unmerklich, in der Zugluft hin und War er wirklich erst heute Morgen gestorben? Das unerfreuliche Zusammentreffen im Garten schien schon ewig her zu sein. Unerfreulich? Jetzt lügst du aber, Flavia! Mary sah entgeistert zu, wie ich noch einmal in den Papierkorb griff und die Feder mitsamt einem Pastetenrest, der auf den unbefiederten Kiel gespießt war, herausholte. »Siehst du?« Ich hielt ihr die Feder unter die Nase. Sie wich zurück, so wie Dracula angeblich, wenn man ihn mit einem Kreuz bedrohte. »Wenn die Feder im Papierkorb auf das Gebäck gefallen wäre, wäre das Stück nicht so aufgespießt. »Vierundzwanzig Amseln in einen Kuchen gebacken war’n …«, rezitierte ich das Kinderlied. »Kapiert?« »Meinst du echt?« Marys Augen waren groß wie Untertassen. »Keine Frage, Sherlock! Die Pastete hatte eine Vogelfüllung, und ich ahne auch schon, um was für eine Vogelart es sich handelt.« Ich hielt ihr das Pastetenstück noch einmal unter die Nase. »Ja, gibt es denn ein köstlich’res Mahl, dem König zu kredenzen?«, deklamierte ich, und diesmal grinste sie mich an. Genauso würde ich es mit Inspektor Hewitt halten. Jawoll! Ich würde den Fall lösen und ihm die Lösung in Geschenkpapier verpackt überreichen. »Du brauchst ihn nicht extra hier nach draußen zu bringen«, so hatte er mich aus dem Garten geschickt, diese Knalltüte. Was der sich rausnahm! Na, dem würde ich zeigen, wo der Bartl den Most holt! Ich hatte so eine Ahnung, dass Norwegen dabei eine entscheidende Rolle spielte. Ned war nie in Norwegen gewesen, abgesehen davon hatte er Stein und Bein geschworen, dass er Der Fremde war aus Norwegen gekommen, das hatte ich aus erster Hand! Ergo (das bedeutet: folglich) hatte der Fremde die Schnepfe womöglich von dort mitgebracht. Und zwar in eine Pastete eingebacken. Jawoll! Das war schlüssig! Eine ausgeklügelte List, um den toten Vogel an den neugierigen Zollbeamten Seiner Majestät vorbeizuschmuggeln. Nur noch ein Schritt, und das Schlimmste war geschafft: Wenn ich den Inspektor nicht fragen konnte, wie er auf Norwegen gekommen war, und den Fremden (da der leider tot war) auch nicht mehr, wen dann? Mit einem Mal sah ich die Lösung mir zu Füßen liegen, so, wie man von einem hohen Berg herabblickt. So wie Harriet … So, wie ein Adler seine Beute erblickt. Ich beglückwünschte mich. Wenn der Fremde aus Norwegen gekommen war, noch vor dem Frühstück einen toten Vogel vor unsere Tür gelegt hatte und nach Mitternacht in Vaters Arbeitszimmer aufgetaucht war, musste er sich ganz in der Nähe einquartiert haben. In Laufweite von Buckshaw. Zum Beispiel im Wirtshaus zu den Dreizehn Erpeln. Es war klar wie Kloßbrühe. Der Tote im Gurkenbeet war tatsächlich Mr Sanders. Anders konnte es gar nicht sein. »Mary!« Tully brüllte wie ein Bullenkalb, und diesmal klang es, als stünde er vor der Tür. »Komme, Dad!« Mary griff sich den Papierkorb. »Du musst hier verschwinden«, raunte sie. »Warte fünf Minuten, dann lauf die Hintertreppe runter. Wie wir raufgekommen sind.« Damit war sie zur Tür hinaus, und schon hörte man, wie sie ihrem Vater draußen im Flur erklärte, dass sie den Papierkorb »Wir wollen doch nicht, dass jemand an irgendwelchen Bazillen stirbt, die er sich im Dreizehn Erpel geholt hat, oder?« Sie lernte schnell. Um die Wartezeit zu überbrücken, sah ich mir noch mal den Koffer an. Ich strich über die bunten Aufkleber und versuchte, mir vorzustellen, wo der Koffer schon überall gewesen war und was Mr Sanders in all diesen Städten wohl getrieben hatte, in Paris, Rom, Stockholm, Amsterdam, Kopenhagen, Stavanger. Der Aufkleber aus Paris war in Rot, Weiß und Blau gehalten, der aus Stavanger auch. Liegt Stavanger in Frankreich?, überlegte ich. Es klang ja nicht besonders französisch - es sei denn, man sprach es »Sta-wong-scheee« aus, so ähnlich wie den Nachnamen von Laurence Olivier. Als ich den Aufkleber befühlte, schob er sich zusammen wie Wasser vor einem Schiffsbug. Ich probierte die anderen Aufkleber durch, aber die klebten alle bombenfest. So fest wie das Etikett auf einer Flasche Zyankali. Noch einmal Stavanger. Der Aufkleber fühlte sich ein bisschen uneben an, als klebte noch etwas darunter. Mir rauschte das Blut durch die Adern wie Wasser über ein Mühlrad. Ich öffnete den Koffer noch einmal und holte den Rasierer aus der einen Schublade. Als ich die Klinge aufklappte, dachte ich, wie herrlich es doch war, dass wir Frauen - abgesehen von Ausnahmen wie Miss Pickery aus der Bücherei - uns nicht zu rasieren brauchten. Es war auch so schon schwer genug, eine Frau zu sein, da brauchte man nicht auch noch solche Utensilien mitzuschleppen. Ich hielt die Klinge vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger (nach dem Unfall mit dem Laborglas hatte ich mir eine strenge Predigt über den Umgang mit scharfkantigen Gegenständen Als ich dann mit der stumpfen Seite der Klinge unter den Aufkleber fuhr und ihn anhob, rutschte etwas heraus und fiel raschelnd zu Boden. Es war ein Umschlag aus Pergamin. Solche Umschläge hatte ich auch in Sergeant Graves’ Aktentasche gesehen. Durch das halb durchsichtige Papier erkannte ich etwas Rechteckiges, Dunkles. Ich öffnete den Umschlag und drehte ihn um. Der Gegenstand fiel in meine flache Hand; genauer gesagt waren es zwei Gegenstände. Zwei Briefmarken. Zwei leuchtend orangefarbene Briefmarken, jede in einer gesonderten durchscheinenden Hülle. Abgesehen von der Farbe waren sie der Penny Black auf dem Schnabel der Zwergschnepfe zum Verwechseln ähnlich. Von beiden blickte mir Königin Viktoria entgegen. Ich war schwer enttäuscht! Vater wäre sicherlich angesichts des unversehrten Zustands der Marken in Verzückung geraten, hätte sich an der großartigen Gravierkunst, der zauberhaften Zähnung und der kunstvollen Klebschicht ergötzt. Für mich waren es zwei Banalitäten, wie man sie auf einen Brief an die grässliche Tante Felicity in Hampshire pappte, wenn man sich für ihr liebevoll ausgesuchtes Weihnachtsgeschenk in Gestalt eines Neddy, das kleine Eichhörnchen-Jahrbuchs bedanken musste. Andererseits - warum sollte ich die Marken eigentlich wieder zurücktun? Wenn Mr Sanders und die Leiche in unserem Garten, wie ja wohl inzwischen geklärt war, ein und dieselbe Person waren, brauchte der gute Mann jetzt keine Briefmarken mehr. Nein, dachte ich, die behalte ich! Irgendwann kommen sie mir bestimmt mal sehr gelegen, wenn ich etwas angestellt habe und Vater besänftigen muss, denn Vater ist nicht in der Lage, Ich steckte den Umschlag mit den Marken ein, leckte meinen Zeigefinger an, befeuchtete die Innenseite des Kofferaufklebers und bügelte ihn mit dem Daumen wieder fest. Nicht einmal Inspektor Fabian von Scotland Yard würde auf den Gedanken verfallen, dass jemand den Aufkleber aufgeschlitzt hatte. Zeit, zu verschwinden. Ich sah mich ein letztes Mal im Zimmer um, schlich in den schummrigen Flur hinaus und strebte, wie Mary mich angewiesen hatte, auf die Hintertreppe zu. »Du bist so unnütz wie Strumpfhosen für’nen Stier, Mary! Wie zum Teufel sollen wir je auf einen grünen Zweig kommen, wenn du die Papierkörbe dermaßen versaubeuteln lässt?« Tully kam die Hintertreppe hoch. Noch eine Treppenbiegung und wir würden uns Auge in Auge gegenüberstehen! Ich huschte auf Zehenspitzen in die entgegengesetzte Richtung durch den Irrgarten der Korridore: hier zwei Stufen hoch, dort zwei runter. Dann stand ich keuchend am oberen Ende einer L-förmigen Treppe, die zum Vordereingang hinunterführte. Soweit ich es erkennen konnte, hielt sich dort unten niemand auf. Ich trippelte die Treppe auf Zehenspitzen hinunter, immer ein Schrittchen nach dem anderen. Ein langer, mit dunklen, stockfleckigen Jagdstichen gepflasterter Flur diente als Empfangshalle. Der jahrhundertealte Geruch von geräucherten Heringen tränkte die Tapeten. Nur der Fleck Sonnenschein, der durch die offene Haustür hereinfiel, belebte die Düsternis ein wenig. Zu meiner Linken stand ein kleiner Schreibtisch mit einem Telefon, einem Telefonbuch, einer kleinen Glasvase mit roten und malvenfarbenen Stiefmütterchen und einem dicken, ledergebundenen Wälzer. Das Gästebuch! Offensichtlich ging es im Dreizehn Erpel nicht eben zu wie im Taubenschlag. Die aufgeschlagenen Seiten enthielten die Da stand es: 2. Juni, 10.25 Uhr, F. X. Sanders, London Kein anderer Gast war verzeichnet, weder am Tag davor noch am heutigen Tag. Aber London? Inspektor Hewitt hatte doch gemeint, der Verstorbene sei aus Norwegen gekommen, und Inspektor Hewitt sagte nun ganz gewiss nicht etwas einfach nur so dahin, darin glich er König Georg. Obwohl … genau genommen hatte der Inspektor gesagt, der Verstorbene sei kürzlich aus Norwegen gekommen, und das war ja nun eine ganz andere Kiste. Doch ehe ich weiter überlegen konnte, erscholl von oben ein Scheppern. Tully mal wieder, der allgegenwärtige Tully! Man hörte an seinem Ton, dass er Mary immer noch auszankte. »Gaff mich nicht so an, Mädel, sonst geb ich dir gleich Grund zum Gaffen.« Und jetzt kam er auch noch die Vordertreppe heruntergepoltert! Gleich würde er mich erblicken. Doch als ich eben zur Tür hinausstürmen wollte, hielt ein verbeultes schwarzes Taxi vor dem Wirtshaus. Gepäckstücke stapelten sich auf dem Dach, aus einem Fenster ragte das Holzgestell eines Fotografenstativs. Das lenkte Tully für einen Augenblick ab. »Da kommt Mr Pemberton«, tuschelte er vernehmlich. »Er ist früh dran. Jetzt aber los, Mädel, ich hab es dir doch angekündigt! Beweg dich und bring die schmutzige Wäsche weg, und ich geh rasch Ned holen.« Ich flitzte los! Vorbei an den Jagdstichen, quer durch die düstere Halle und in den Hinterhof hinaus. »Ned! Komm, Mr Pembertons Gepäck holen!« Tully war mir dicht auf den Fersen. Obwohl mich das grelle Sonnenlicht blendete, konnte ich Ned nirgends sehen. Offenbar hatte er den Käse vom Laster geladen und widmete sich jetzt anderen Aufgaben. Ohne lange nachzudenken, sprang ich auf die Ladefläche des Lasters und duckte mich hinter die aufgestapelten Käselaibe. Als ich zwischen den Säulen hervorspähte, sah ich Tully in den Hof marschieren. Er sah sich um und trocknete sich das rote Gesicht mit der Schürze ab. Er hatte sich für den Thekendienst umgezogen. Demnach war die Schankstube geöffnet. »Ned!«, brüllte Tully. Von dort, wo er in der hellen Sonne stand, konnte er mich in dem dunklen Laderaum nicht erkennen. Ich brauchte nur zu bleiben, wo ich war, und mich ruhig zu verhalten. Doch da gesellten sich noch zwei weitere Stimmen zu Tullys Gebrüll. »Vergelt’s Gott, Tully«, ließ sich die eine vernehmen. »Und schönen Dank auch für den Schoppen!« »Mach’s gut, Kumpel«, ließ die andere verlauten. »Wir sehen uns dann am Sonntag.« »Sag George, er kann ruhig sein letztes Hemd auf Seastar setzen. Aber bloß nicht das vorletzte!« Das war nur einer der blöden Sprüche, wie Männer sie oft sagen, um das letzte Wort zu haben. Es war überhaupt nicht lustig; trotzdem lachten alle drei und klopften sich vermutlich auf die Schenkel, und dann spürte ich den Laster schon schwanken, als die beiden Männer in die Fahrerkabine kletterten. Der Motor sprang stotternd an, und wir fuhren los - rückwärts. Tully winkte uns nach links und dann wieder nach rechts und zeigte mit den Händen den Abstand zwischen Heckklappe und Hausmauer an. Wenn ich jetzt hinausgesprungen wäre, wäre ich geradewegs in seinen ausgebreiteten Armen gelandet. Als Letztes sah ich Tully wieder zur Tür gehen - und Gladys, die noch an dem Bauholzstapel lehnte. Der Laster bog scharf um die Kurve und beschleunigte. Ich bekam einen Laib Wensleydale auf die Birne, und der Käse und ich schlitterten über die raue Ladefläche. Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, verschwamm die Hauptstraße hinter uns auch schon in einer Schliere aus grünen Hecken, und Bishop’s Lacey verschwand in der Ferne. Jetzt ist es passiert, Flave, dachte ich. Vielleicht siehst du deine Familie nie wieder. So verlockend mir diese Vorstellung zunächst erschien, so schnell wurde mir klar, dass mir Vater sehr wohl fehlen würde - jedenfalls ein bisschen. Ohne Ophelia und Daphne zu leben … daran würde ich mich bestimmt bald gewöhnen. Bis dahin wäre Inspektor Hewitt natürlich zu dem Schluss gekommen, dass ich selbst den Mord begangen und die Flucht ergriffen hatte, um mich auf einem Seelenverkäufer nach Britisch Guayana durchzuschlagen. Er würde sämtliche Häfen in Alarmbereitschaft versetzen, damit man dort nach einer elfjährigen Mörderin mit Zöpfen und Trägerrock Ausschau hielt. Wenn sie dann aber zwei und zwei zusammengezählt hatte, würde die Polizei ihre Spürhunde auf eine Flüchtige ansetzen, die nach »Omas handgemachtem Käse« roch. Deswegen würde ich den Geruch abspülen müssen, vielleicht in einem kleinen Wildbach, wo ich meine Kleider waschen und zum Trocknen auf einen Brombeerbusch hängen konnte. Natürlich würden sie Tully vernehmen, Ned und Mary ausquetschen, und im Handumdrehen daraufkommen, wie mir die Flucht aus dem Dreizehn Erpel gelungen war. Die Dreizehn Erpel. Wie kommt es bloß, überlegte ich, dass die Leute, die sich die Namen für Gasthäuser und Kneipen ausdenken, derart fantasielosDreizehn Erpel hatten ihren Namen, wie mir Mrs Mullet einmal erzählt hatte, bereits im 18. Jahrhundert erhalten, und zwar von einem Besitzer, der einfach die zwölf anderen Erpel durchgezählt hatte, die es schon in den Nachbardörfern gab, und ihnen noch einen hinzugefügt hatte. Warum konnte man ein Wirtshaus nicht nach etwas benennen, das einen praktischen Nutzen hatte? Wie wäre es mit: Die Dreizehn Kohlenstoffatome? Das wäre doch immerhin eine Eselsbrücke! Es gab dreizehn Kohlenstoffatome in Tricedyl, dessen Hydrid Sumpfgas war. Das wäre doch mal ein passender Name für eine Kneipe gewesen! Die Dreizehn Erpel - also wirklich. Das konnte auch nur einem Mann einfallen, ein Haus nach irgendwelchen Vögeln zu benennen. Ich war in Gedanken noch mit Tricedyl beschäftigt, als am Heck des Lasters ein oben abgerundeter, weiß getünchter Stein vorbeisauste. Der Stein kam mir bekannt vor, tatsächlich, es war der Wegweiser nach Doddingsley. Noch eine halbe Meile, dann würde der Fahrer anhalten müssen, wenn auch nur kurz, ehe er entweder rechts nach St. Elfrieda oder links nach Nether Lacey abbog. Ich rutschte an die Kante der Ladefläche, da quietschten auch schon die Bremsen, und der Laster fuhr langsamer. Und schon ließ ich mich wie ein Spezialagent, der sich aus einem Whitley-Bomber fallen ließ, herunterfallen und landete auf allen vieren im Straßenstaub. Ohne in den Rückspiegel zu schauen, bog der Fahrer nach links ab, und als das Fahrzeug samt seiner Käsefracht in einer Staubwolke davonrumpelte, machte ich mich auf den Heimweg nach Buckshaw. Ich hatte noch einen ordentlichen Fußmarsch querfeldein vor mir.  9 Ich glaube, wenn meine Schwester Ophelia irgendwann mal tot und begraben ist, wird mir bestimmt jedes Mal, wenn ich an sie denke, zuerst ihr sanfter Anschlag am Klavier einfallen. Wenn sie vor der Tastatur unseres alten Broadwood-Flügels im Salon sitzt, wird Feely zu einem völlig anderen Menschen. Nach jahrelanger Übung - auf Teufel komm raus - verfügt sie über die Linke eines Joe Louis und die Rechte eines Beau Brummel (jedenfalls laut Daffy). Weil sie so schön spielt, habe ich es immer als meine Pflicht und Schuldigkeit angesehen, gerade dann besonders fies zu ihr zu sein. Wenn sie beispielsweise eins der frühen Stücke von Beethoven spielt, die sich immer anhören, als hätte Beethoven sie von Mozart abgekupfert, lasse ich sofort alles stehen und liegen, ganz gleich, womit ich gerade beschäftigt bin, und schlendere lässig durch den Salon. »Erstklassige Flossengymnastik«, sage ich dann so laut, dass ich die Musik übertöne. »Wufff! Wuff! Wuff!« Ophelia hat milchig blaue Augen, genau so, wie sie der blinde Homer gehabt haben könnte. Obwohl sie ihr Repertoire überwiegend auswendig kann, rutscht sie manchmal auf der Klavierbank nach vorn, knickt an der Hüfte ein wie ein Roboter und linst mit zusammengekniffenen Augen in die Noten. Als ich einmal die Bemerkung fallen ließ, sie sehe dabei aus wie ein orientierungsloser Beuteldachs, sprang sie von der Klavierbank auf und hätte mich um ein Haar mit einer zusammengerollten Als ich über den letzten Zauntritt stieg und am anderen Ende der Wiese Buckshaw in Sicht kam, verschlug es mir schier den Atem. Aus diesem Blickwinkel und um diese Tageszeit gefiel mir das Anwesen am allerbesten. Als ich mich dem Haus von Westen her näherte, leuchteten die verwitterten alten Mauern in der Spätnachmittagssonne safrangelb, das Gebäude hockte so selbstverständlich in der Landschaft wie eine selbstzufriedene Glucke auf ihren Eiern, und darüber wehte zufrieden der Union Jack. Das Haus schien mein Kommen überhaupt nicht zu bemerken, als wäre ich ein Eindringling, der sich heimlich von hinten anschleicht. Schon aus einer Viertelmeile Entfernung perlten mir die Klänge der Toccata von Pietro Domenico Paradisi entgegen - die aus seiner Sonata in A-Dur. Die Toccata war mein Lieblingsstück; sie ist meiner Ansicht nach die größte musikalische Errungenschaft der Weltgeschichte, aber wenn Ophelia das je erführe, würde sie das Stück nie mehr spielen. Immer wenn ich diese Musik höre, ist mir zumute, als würde ich den steilen Osthang von Goodger Hill hinabrennen, so schnell, dass meine Beine kaum hinterherkommen, während ich mit dem Wind von links nach rechts segle und Rufe ausstoße wie eine verzückte Seemöwe. Ein Stück vom Haus entfernt blieb ich auf der Wiese stehen und lauschte dem perfekten Fluss der Töne, nicht zu presto … gerade so, wie es mir gefiel. Ich dachte daran, wie ich Eileen Joyce die Toccata zum ersten Mal hatte spielen hören, damals im BBC Home Service. Vater hatte das Radio angestellt, hörte aber eigentlich nicht zu, da er mit seiner Briefmarkensammlung herumhantierte. Die Klänge bahnten sich ihren Weg durch die Flure und Gänge von Buckshaw, wehten die Wendeltreppe Wir hatten einander wortlos angesehen, Vater und ich, und nicht gewusst, was wir sagen sollten, bis ich schließlich rückwärts aus dem Zimmer ging und mich wieder nach oben verzog. Das ist der einzige Haken an der Toccata: sie ist zu kurz. Ich ging um den Zaun herum und auf die Terrasse. Vater saß am Fenster seines Arbeitszimmers am Schreibtisch und war ganz in seine Tätigkeit vertieft, worum auch immer es sich handeln mochte. Die Rosenkreuzer behaupten ja in ihren Anzeigen, dass man einen gänzlich Unbekannten in einem voll besetzten Kino dazu bringen kann, sich umzudrehen, indem man seinen Hinterkopf anstarrt. Ich machte jetzt die Probe aufs Exempel. Vater blickte auf, sah mich aber nicht. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders. Ich rührte mich kein bisschen. Dann ließ er den Kopf wieder sinken, als wäre er aus Blei, und Feely stimmte im Salon ein Stück von Schumann an. Immer wenn sie an Ned denkt, spielt Feely Schumann. Darum nennt man diese Art von Musik wohl auch »Romantik«. Einmal, als sie mit besonders verträumtem Blick eine Schumann-Sonate spielte, sagte ich laut zu Daffy, dass ich das Programm, das in diesen Musikpavillons gespielt wird, einfach toll finde, und Feely bekam einen Wutanfall, der sich nicht mal dann legte, als ich das Zimmer verließ und kurz darauf zurückkehrte, und zwar mit einem Bakelit-Hörrohr, das ich in einem Wandschrank gefunden hatte, und einem handgemalten Schild um den Hals, auf dem stand: »Durch einen tragischen Klavierunfall ertaubt. Bitte haben Sie Mitleid.« Wahrscheinlich hatte Feely den Vorfall inzwischen längst vergessen. Ich nicht. Als ich so tat, als wollte ich am Flügel vorbei zum Fenster gehen, warf ich einen verstohlenen Blick in ihr Gesicht. Verflixt! Immer noch nichts für mein Notizbuch! »Du kriegst bestimmt Ärger«, sagte sie und knallte den Deckel zu. »Wo hast du den ganzen Tag gesteckt?« »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten«, erwiderte ich. »Bin ich vielleicht deine Kammerzofe?« »Alle haben dich gesucht. Daffy und ich haben allen erzählt, du wärst von zu Hause weggelaufen, aber wie es scheint, haben wir uns wohl leider geirrt. So ein verdammtes Pech aber auch.« »›Verdammt‹ sagt man nicht, Feely … das weißt du doch. Und puste die Backen nicht so auf, sonst siehst du aus wie eine beleidigte Birne. Wo ist Vater?« Als ob ich das nicht wüsste. »Er war den ganzen Tag noch nicht vor der Tür«, sagte Daffy. »Glaubt ihr, die Sache von heute Morgen macht ihm noch zu schaffen?« »Die Leiche auf unserem Grundstück? I wo. Das hat doch nichts mit ihm zu tun.« »Das hab ich mir auch gedacht.« Feely klappte den Flügel wieder auf, warf das Haar zurück und stimmte die erste von Bachs Goldberg-Variationen an. Ein langsames, aber trotzdem wunderschönes Stück, auch wenn Bach meiner Meinung nach nicht mal an seinem besten Tag einem Pietro Domenico Paradisi das Wasser reichen konnte. Dann fiel mir Gladys wieder ein! Ich hatte sie beim Dreizehn Erpel stehen lassen, wo sie jeder sehen konnte. Wenn die Polizei nicht längst dort gewesen war, würde sie bestimmt bald dort aufkreuzen. Ob die Beamten Mary und Ned bereits so weit bearbeitet hatten, dass sie ihnen von meinem kleinen Besuch erzählt hatten? Fünf Minuten später war ich zum dritten Mal an diesem Tag unterwegs nach Bishop’s Lacey - diesmal zu Fuß. Indem ich immer in der Nähe der Hecken blieb und mich jedes Mal, wenn ich ein Fahrzeug kommen hörte, hinter einen Baum duckte, gelang es mir, auf einem kleinen Umweg ans andere Ende der Dorfstraße zu gelangen, die wie immer um diese späte Stunde bereits in behaglichem Dämmerschlaf lag. Die Abkürzung durch Miss Bewdleys Ziergarten (Wasserlilien, steinerne Störche, Goldfische und eine rot lackierte kleine Brücke) endete vor einer Ziegelmauer. Dahinter lag der Innenhof des Dreizehn Erpel. Ich ging in die Hocke und horchte. Falls niemand sie weggeschoben hatte, musste Gladys direkt auf der anderen Seite der Mauer stehen. Bis auf das ferne Dröhnen eines Traktors war nichts zu hören. Aber gerade als ich einen Blick über die Mauerkrone wagen wollte, hörte ich Stimmen. Besser gesagt, eine Stimme, und zwar die von Tully. Die hätte ich auch gehört, wenn ich auf Buckshaw geblieben wäre und mir Stöpsel in die Ohren gesteckt hätte. »Hab den Kerl noch nie im Leben gesehen, Inspektor. Vermute mal, das war sein erster Besuch hier in Bishop’s Lacey. Jedenfalls würd ich mich dran erinnern, wenn er hier schon mal abgestiegen wär. Sanders hieß nämlich meine verstorbene Frau mit Mädchennamen. Da können Sie’n Fünfer drauf verwetten. Nein, hier draußen im Hof war er nicht. Er kam vorne rein und ging gleich rauf in sein Zimmer. Wenn Sie irgendwelche Spuren suchen, müssen Sie dort nachsehen - oder vorne in der Schankstube. Da hat er noch’ne Weile gesessen. Hat’n großes Glas Halb-und-Halb getrunken, gluck-gluck, kein Trinkgeld.« Demnach wusste die Polizei also Bescheid! Ich spürte, wie die Aufregung in mir hochsprudelte wie Ingwerlimonade, aber Ich erlaubte mir ein selbstgefälliges Grinsen. Als Tully verstummt war, spähte ich hinter einer Kletterpflanze hervor über die Mauerkrone. Der Hof war leer. Ich schwang mich über die Mauer, schnappte mir Gladys und strampelte möglichst geräuschlos auf die verlassene Dorfstraße hinaus. Jetzt musste ich den ganzen Weg vom Vormittag wieder zurückfahren. Ich bog in die Cow Lane ein, radelte hinter der Bücherei und dem Dreizehn Erpel vorbei auf dem Treidelpfad am Fluss entlang, dann in die Shoe Street, am Friedhof vorbei und anschließend querfeldein. Holterdiepolter rumpelten Gladys und ich einher. Ich war sehr froh, dass ich meine liebe Freundin wieder hatte. O der Mond schien hell auf Mrs Porter Und ihr Töchterlein Sie tauchen ihre Füße in Sodawasser ein. Dieses Lied hatte mir Daffy beigebracht, aber erst nachdem ich ihr versprochen hatte, es niemals auf Buckshaw zu singen. Das Lied schien wie geschaffen dafür, es in der freien Natur zu trällern, weshalb ich diese Gelegenheit ohne zu zögern nutzte. Vor der Haustür fing mich Dogger ab. »Ich muss mit dir reden, Miss Flavia«, sagte er. Ich sah ihm an, dass ihn etwas bedrückte. »Klar«, erwiderte ich. »Wo?« »Im Gewächshaus.« Er zeigte mit dem Daumen in die Richtung. Wir gingen ums Haus herum und durch die grüne Tür in der Mauer des Küchengartens. Im Gewächshaus kam man sich vor wie mitten in Afrika. Außer Dogger setzte kein Mensch je den Fuß hinein. Drinnen fingen die gekippten Belüftungsfenster die Nachmittagssonne ein und warfen ihre Strahlen dorthin, wo wir zwischen den Bänken mit den Blumentöpfen und den Guttapercha-Schläuchen standen. »Is’ was, Dogger?«, fragte ich leichthin und versuchte dabei, ein bisschen - aber nicht zu sehr - wie Bugs Bunny zu klingen. »Die Polizei. Ich muss wissen, was du denen alles erzählt hast, über … du weißt schon.« »Genau dasselbe habe ich mir auch gedacht«, erwiderte ich. »Du zuerst.« »Also, dieser Inspektor … Hewitt. Er hat mir wegen heute Morgen ein paar Fragen gestellt.« »Mir auch. Und was hast du ihm erzählt?« »Tut mir leid, Miss Flavia, aber ich musste ihm erzählen, dass du mich geweckt hast, weil du die Leiche entdeckt hattest, und dass wir zusammen in den Garten gegangen sind.« »Das wusste er doch schon.« Doggers Augenbrauen schossen himmelwärts wie zwei Möwen. »Das wusste er schon?« »Aber ja doch. Von mir.« Dogger stieß einen leisen langgezogenen Pfiff aus. »Aber du hast ihm doch nichts von dem … dem Streit … im Zimmer deines Vaters erzählt?« »Ich bitte dich, Dogger! Für wen hältst du mich?« »Davon darfst du niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen verraten, Miss Flavia. Auf gar keinen Fall!« Na, das war ja hochinteressant. Dogger verlangte von mir, dass ich mich mit ihm verbündete und der Polizei Hinweise vorenthielt. Wen wollte er damit decken? Sich selbst? Aber das konnte ich ihn nicht frei heraus fragen. Also verlegte ich mich auf eine andere Taktik. »Klar halte ich dicht. Aber warum?« Dogger nahm eine kleine Schippe in die Hand und fing an, schwarze Erde in einen Topf zu schaufeln. Er sah mich nicht an, aber ich sah seinem Unterkiefer an, dass er einen unumstößlichen Entschluss gefasst hatte. »Es gibt Fragen«, sagte er schließlich, »die man stellt, und es gibt Fragen, die behält man lieber für sich.« »Zum Beispiel?«, hakte ich nach. Seine Züge wurden sanfter, fast lächelte er. »Zisch ab«, sagte er. In meinem Labor zog ich das Päckchen aus meiner Tasche und faltete das Zeitungspapier vorsichtig auf. Dann stöhnte ich enttäuscht auf: Die Querfeldeinfahrt und die Kletterei über die Mauer hatten mein Beweisstück in lauter kleine Brocken und Brösel zerlegt. »Na toll! Krümel!«, sagte ich, nicht ohne mich an meiner eigenen Ironie zu erfreuen. »Und was mach ich jetzt damit?« Ich legte die Feder vorsichtig in einen Umschlag und den Umschlag wiederum in eine Schublade voller Briefe, die Tar de Luce gehört hatten; Briefe, die geschrieben und beantwortet wurden, als Harriet in meinem Alter war. Hier würde niemand nachsehen, außerdem war der beste Ort, um miese Laune zu überspielen, wie Daffy einmal gesagt hatte, mitten auf der Opernbühne. Trotz ihrer kläglichen Verfassung erinnerten mich die Pastetenreste daran, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Auf Buckshaw galt von alters her das ungeschriebene Gesetz, dass Mrs Mullet das Abendessen zu früh zubereitete, woraufhin es gegen neun wieder aufgewärmt und anschlie ßend verzehrt wurde. Ich war halb verhungert und hätte einen … nun, ich hätte sogar ein Stück von Mrs Mullets widerlichem Schmandkuchen vertilgen können. Verrückt, was? Sie hatte mich heute Als ich um vier Uhr morgens durch die Küche gegangen war - kurz bevor ich über die Leiche im Gurkenbeet stolperte -, hatte der Kuchen noch vom Vortag zum Abkühlen auf dem Fensterbrett gestanden. Und es hatte ein Stück gefehlt. Das fehlende Stück, das Puzzleteil, das zur Lösung des Rätsels beitragen konnte? Wer hatte es sich abgeschnitten? Mir fiel wieder ein, dass ich mich sogar darüber gewundert hatte. Es war weder Vater gewesen noch Daffy oder Feely. Diese drei hätten lieber Würmer in Rahmsoße auf Toast als Mrs Mullets schauderhaftes Schmandmachwerk gegessen. Auch Dogger konnte es nicht gewesen sein. Naschen passte nicht zu ihm. Und wenn Mrs Mullet ihm das Stück gegeben hätte, hätte sie nicht angenommen, dass ich es gegessen hatte. Ich ging nach unten in die Küche. Der Kuchen war weg. Das Fenster war noch genauso hochgeschoben, wie Mrs Mullett es hinterlassen hatte. Hatte sie den übrigen Kuchen mit nach Hause zu ihrem Alf genommen? Ich erwog schon, sie einfach anzurufen und zu fragen, aber da fielen mir wieder Vaters strenge Telefonregeln ein. Vater gehörte noch der Generation an, die »das Instrument«, wie er den Apparat nur nannte, verabscheute. Er hatte sich nie recht mit dem Gerät angefreundet und konnte nur im äußersten Notfall bewogen werden hineinzusprechen. Ophelia hatte mir erzählt, dass sogar die Nachricht von Harriets Tod per Telegramm hergeschickt werden musste, weil Vater sich weigerte, etwas zu glauben, das er nicht schwarz auf weiß in Händen hielt. Jedenfalls durfte das Telefon auf Buckshaw nur benutzt werden, wenn das Haus in Flammen stand oder jemand im Sterben lag. Jede andere Benutzung des »Instruments« bedurfte Vaters persönlicher Genehmigung, Nein, die Frage an Mrs Mullet würde ich auf den nächsten Tag verschieben müssen. Ich holte einen Laib Brot aus der Speisekammer, schnitt eine dicke Scheibe ab, schmierte Butter drauf und streute eine dicke Schicht braunen Zucker drüber. Dann klappte ich das Brot zweimal zusammen und drückte es jedes Mal mit der flachen Hand fest zusammen. Anschließend schob ich das Ganze in den Backofen und ließ es so lange drin, wie es dauert, drei Strophen von dreimal »Backe, backe Kuchen« zu singen. Es war zwar kein richtiges Rosinenhefebrötchen, aber es musste für diesen Abend genügen. 10 Obwohl wir de Luces schon Katholiken waren, seit Wagen rennen im Circus Maximus der letzte Schrei waren, hielt uns das nicht davon ab, St. Tankred zu besuchen, die einzige Kirche in Bishop’s Lacey und ein unerschütterliches Bollwerk der anglikanischen Kirche. Für diese unsere Gunst gab es mehrere Gründe. Zum einen kam uns die räumliche Nähe und somit die bequeme Erreichbarkeit von St. Tankred entgegen, zum anderen waren sowohl Vater als auch der Vikar (wenn auch zu verschiedenen Zeiten) in Greyminster zur Schule gegangen. Abgesehen davon war die Weihung einer Kirche, wie Vater uns einmal erklärt hatte, so dauerhaft wie eine Tätowierung. St. Tankred, sagte er, war vor der Reformation eine römisch-katholische Kirche gewesen, und in seinen Augen blieb sie das auch. Deshalb marschierten wir ausnahmslos jeden Sonntagmorgen im Gänsemarsch querfeldein. Vater hieb ab und zu mit seinem Malakka-Spazierstöckchen in die Vegetation, ihm folgten Feely, Daffy und ich (und zwar in dieser Reihenfolge), und Dogger bildete in seinem besten Sonntagsstaat die Nachhut. In St. Tankred schenkte uns niemand auch nur die geringste Beachtung. Vor einigen Jahren hatten sich etliche Gemeindemitglieder beschwert, aber eine strategisch wohlplatzierte Spende für die Restaurierung der Orgel hatte den Unmut ohne Blutvergießen und blaue Flecken alsbald beschwichtigt. »Sagen Sie Ihrer Gemeinde doch bitte, dass wir vielleicht mit ihnen beten«, hatte Vater den Vikar gebeten, »dass wir aber auch nicht ausdrücklich gegen sie beten.« Einmal, als Feely den Kopf verlor und nach vorn zur Kommunion ging, sprach Vater bis zum nächsten Sonntag kein Wort mehr mit ihr. Seit damals raunte er ihr, wenn sie in der Kirche auch nur mit den Füßen scharrte, zu: »Ruhig, altes Mädchen, gaaanz ruhig.« Er brauchte sie dabei nicht anzusehen. Der Anblick seines Profils, das dem eines Standartenträgers in einer besonders asketischen römischen Legion glich, genügte, um uns in Zaum zu halten. Zumindest in der Öffentlichkeit. Als ich jetzt zu Feely hinüberschielte, die mit geschlossenen Augen in der Kirchenbank kniete, die gefalteten Hände himmelwärts gerichtet, und tonlos Andachtsformeln rezitierte, musste ich mich kneifen, um nicht zu vergessen, dass ich neben einem Satansbraten saß. Die Gemeinde von St. Tankred hatte sich schon bald an unser unablässiges Verneigen und Niederknien gewöhnt, und wir sonnten uns in christlicher Nächstenliebe - bis auf das eine Mal, als Daffy Mr Denning, dem Organisten, schilderte, wie Harriet in uns allen die feste Überzeugung verankert hätte, dass die Geschichte von der Sintflut in der Genesis aus der gattungsgeschichtlichen Erinnerung der Familie der Katzen stamme, mit einer deutlichen Anspielung auf die Sitte, junge Kätzchen zu ertränken. Das hatte für einen gewissen Aufruhr gesorgt, aber auch hier war es Vater gelungen, die Wogen mittels einer großzügigen Spende für die Reparatur des Kirchendachs wieder zu glätten, einer Summe, die er Daffy allerdings vom Taschengeld abzog. »Da ich sowieso kein Taschengeld kriege«, hatte Daffy gemeint, »ist niemandem ein Schaden entstanden. Eigentlich keine schlechte Strafe.« Ich hörte unbewegt zu, wie die Gemeinde die allgemeine Beichte ablegte und dem Pfarrer nachsprach: »Wir haben Dinge nicht getan, die wir hätten tun sollen; und wir haben Dinge getan, die wir nicht hätten tun dürfen.« Mir kamen, leicht abgewandelt, Doggers Worte in den Sinn: »Es gibt Dinge, über die spricht man. Und es gibt andere Dinge, die behält man lieber für sich.« Ich drehte mich zu ihm um. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen bewegten sich. Wie bei Vater übrigens auch. Da es der Sonntag des Dreifaltigkeitsfestes war, kamen wir in den Genuss einer recht selten vorgetragenen Räuberpistole aus der Offenbarung, wo es um die Steine Jaspis und Sarder geht, um den Regenbogen rings um den Thron, das gläserne Meer gleich dem Kristall und die vier Tiergestalten voller Augen, außen und unangenehmerweise auch noch innen. Ich hatte meine eigene Ansicht zu der wahren Bedeutung dieser offensichtlich alchimistischen Anspielung, aber da ich mir die für meine Doktorarbeit aufheben wollte, behielt ich sie für mich. Und auch wenn wir de Luces nun mal in der gegnerischen Mannschaft spielten, beneidete ich die Anglikaner gelegentlich um ihr prachtvolles Gebetbuch, das Book of Common Prayer. Auch die Glasfenster waren prachtvoll. Über dem Altar strahlte das Licht der Morgensonne durch die drei bunten Glasfenster herein, deren Scheiben im finsteren Mittelalter von irgendwelchen halb wilden, halb sesshaften Glasmachern hergestellt worden waren. Die hatten damals am Rand des Ovenhouse Wood gehaust und gezecht, dessen arg ausgedünnte Reste Buckshaw nach Westen hin begrenzten. Auf dem linken Fenster sprang Jonas gerade aus dem Maul des Wals und drehte sich mit weit aufgerissenen Augen und entrüsteter Miene noch einmal nach dem Untier um. Aus der Broschüre, die am Eingang der Kirche verteilt wurde, wusste ich, dass die Schuppen des Riesenviehs durch das Aufschmelzenich diese Tatsache interessant - auch ein Gegenmittel bei Arsenvergiftung ist. Das rechte Fenster zeigte Jesus Christus bei der Auferstehung aus seinem Grab, während Maria Magdalena in einem roten Kleid (ebenfalls Eisenoxid oder vielleicht zerstoßenes Gold) ihm ein violettes Gewand (Manganoxid) und einen gelben Brotlaib (Chlorsilber) hinhielt. Man hatte die Metallsalze mit Sand und Pflanzenasche gemischt, in einem Ofen erhitzt, der so heiß war, dass es sich sogar Schadrach, Meschach und Abed-Nego noch einmal überlegt hätten, und das Ganze anschließend so weit abgekühlt, bis die gewünschte Farbe erreicht war. Das mittlere Fenster wurde von unserem ureigenen St. Tankred beherrscht, dessen sterbliche Überreste irgendwo unter unserenFüßen in der Krypta lagen. Das Fenster zeigte ihn in der Tür der Kirche, in der wir saßen (so, wie das Gebäude aussah, ehe die Viktorianer es ›verschönerten‹), und er heißt eine vielköpfige Gemeinde mit offenen Armen willkommen. St. Tankred hat ein freundliches Gesicht, wie jemand, den man bedenkenlos zu sich nach Hause einladen würde, um sonntagnachmittags gemütlich in alten Ausgaben der Illustrated London News oder vielleicht auch von Country Life zu blättern, und da wir Glaubensbrüder sind, stelle ich mir gern vor, dass er, während er bis zum Jüngsten Tag unter dem Kirchenfußboden ratzt, es mit uns Buckshaw-Bewohnern ganz besonders gut meint. Als sich meine Gedanken allmählich wieder der Gegenwart zuwandten, stellte ich fest, dass der Vikar für den Toten aus unserem Gurkenbeet betete. »Er kam als Fremder zu uns«, verkündete er. »Seinen Namen brauchen wir nicht zu kennen …« Das hörte Inspektor Hewitt bestimmt nicht gern. »… wir können Gott auch so bitten, seiner Seele gnädig zu sein und ihm seinen Frieden zu schenken.« Demnach wussten inzwischen alle Bescheid! Vermutlich hatte Mrs Mullet keine Zeit verloren und war sofort über die Straße geeilt, um dem Vikar alles brühwarm zu erzählen. Von der Polizei hatte er es ja wohl kaum erfahren. Eine Kniebank polterte, und als ich aufblickte, sah ich eben noch, wie sich Miss Mountjoy im Krebsgang aus der Bankreihe schob und durch das Seitenschiff davoneilte. »Mir ist nicht gut«, raunte ich Ophelia zu, woraufhin sie mich ohne aufzublicken vorbeiließ. Feely konnte es partout nicht leiden, wenn man ihr auf die Schuhe kotzte, eine durchaus nützliche Marotte, die ich mir hin und wieder zunutze machte. Draußen war ein Wind aufgekommen, der die Äste der Friedhofseiben peitschte und das ungemähte Gras wild wogen ließ. Ich sah Miss Mountjoy zwischen den moosbedeckten Grabsteinen verschwinden und auf das kleine, bröckelige und überwucherte Friedhofstor zuhalten. Was hatte sie so aufgebracht? Ich erwog, ihr nachzulaufen, aber dann hatte ich eine bessere Idee. Der Fluss machte nämlich einen Bogen um St. Tankred, und zwar so, dass die Kirche praktisch auf einer Insel stand, und im Lauf der Jahrhunderte hatte sich das mäandernde Wasser einen Weg durch die uralte Gasse außerhalb des Friedhoftors gebahnt. Demnach konnte Miss Mountjoy, wenn sie nicht den gleichen Weg nehmen wollte, auf dem sie hergekommen war, nur über die inzwischen überspülten Trittsteine, die früher einmal den Fluss durchzogen hatten, nach Hause gelangen. Dazu musste sie die Schuhe ausziehen und ein Stück durchs Wasser waten. Es lag auf der Hand, dass sie allein sein wollte. Als ich mich wieder zu Vater gesellte, schüttelte der gerade Canon Richardson die Hand. Nach dem Mord waren wir de Luces bei den Dörflern in ihrem Sonntagsstaat natürlich »Schlimme Sache, das dort oben auf Buckshaw«, wandten sie sich an Vater, Feely oder mich. »Ja, sehr unerfreulich«, erwiderten wir, schüttelten dem Betreffenden die Hand und wandten uns dem nächsten Bittsteller zu. Erst nachdem die versammelte Gemeinde in diesem Sinne versorgt war, durften wir nach Hause zum Mittagessen. Als wir durch den Park gingen, öffnete sich die Tür eines wohlbekannten blauen Wagens, und Inspektor Hewitt kam über den Kies auf uns zu. Da ich insgeheim zu der Überzeugung gelangt war, dass wohl auch polizeiliche Ermittlungen den Sonntag heiligten, wunderte ich mich ein wenig, ihn zu sehen. Er nickte Vater zu und legte Feely, Daffy und mir gegenüber die Hand an die Hutkrempe. »Nur ganz kurz, Colonel de Luce … aber unter vier Augen, wenn ich bitten darf.« Ich schaute Vater aufmerksam an, weil ich fürchtete, er könnte wieder in Ohnmacht fallen, aber abgesehen davon, dass er den Knauf seines Spazierstocks fester umfasste, wirkte er recht gelassen. Fast so, dachte ich, als sei er auf diese Begegnung durchaus vorbereitet gewesen. Derweil hatte sich Dogger unauffällig ins Haus verzogen. Vielleicht wollte er endlich sein altmodisches Hemd mit dem Vatermörder und den Manschetten aus- und seinen Gärtnerkittel wieder anziehen. Vaters Blick wanderte über uns drei, als wären wir eine Schar aufdringlicher Gänse. »Wir gehen in mein Arbeitszimmer«, beschied er den Inspektor und marschierte davon. Daffy und Feely glotzten irgendwo in den Mittelgrund, wie Dritten Mann pfiff. Da es Sonntag war, hielt ich es für angemessen, in den Garten zu gehen und noch einmal die Stelle aufzusuchen, wo der Tote gelegen hatte. Dann würde ich mir bestimmt vorkommen wie die verschleierte Witwe auf einem jener Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, die niederkniet, um eine Handvoll kümmerlicher Stiefmütterchen - in einem Wasserglas - aufs Grab ihres toten Gatten oder ihrer Mutter zu stellen. Aber aus irgendeinem Grund fand ich die Vorstellung dann doch bedrückend und beschloss, mir das theatralische Getue zu verkneifen. Ohne den Toten war das Gurkenbeet seltsam uninteressant. Es war einfach nur ein Beet voller Grünzeug und hier und da einem abgebrochenen Stängel und einer Art Schleifspur - von einem Absatz? Man konnte noch erkennen, wo sich Sergeant Woolmers schweres Fotostativ in den Rasen gebohrt hatte. Von Philip Odell, dem Privatdetektiv im Radio, wusste ich, dass bei jedem unerwarteten und unerklärlichen Todesfall unbedingt eine Obduktion durchgeführt werden musste, und ich überlegte folgerichtig, ob Dr. Darby die Leiche wohl schon - wie ich ihn zu Inspektor Hewitt hatte sagen hören - »auf dem Tisch« gehabt hatte. Auch das traute ich mich nicht, irgendjemanden zu fragen, jedenfalls jetzt noch nicht. Ich schaute zu meinem Zimmerfenster hoch. Darin spiegelten sich, zum Greifen nah, dicke weiße Wolken, die durch ein Meer aus blauem Himmel dümpelten. Zum Greifen nah! Richtig! Das Gurkenbeet lag ja gleich unter meinem Fenster! Warum hatte ich dann nichts gehört? Es ist allgemein bekannt, Was folgte daraus? Wenn der Fremde brutal attackiert worden war, musste sich das woanders abgespielt haben, irgendwo außerhalb meiner Hörweite. War er jedoch dort überfallen worden, wo ich ihn entdeckt hatte, musste der Mörder eine geräuschlose Methode angewandt haben, eine geräuschlose, langsame Methode; denn schließlich war der Mann, als ich ihn entdeckte, immer noch, wenn auch nur gerade noch so, am Leben gewesen. »Vale«, hatte der Sterbende gesagt. Aber weshalb sollte er sich von mir verabschieden? Auch Mr Twining hatte »Vale!« gerufen, ehe er in den Tod gesprungen war, aber wo war da der Zusammenhang? Hatte der Mann im Gurkenbeet versucht, seinen eigenen Tod mit dem von Mr Twining in Verbindung zu bringen? War er dabei gewesen, als der Alte vom Dach gesprungen war? Hatte er vielleicht irgendetwas damit zu tun gehabt? Ich musste nachdenken - und zwar in Ruhe. Die Remise kam nicht infrage, denn ich wusste inzwischen, dass man dort in schweren Zeiten eventuell Vater in Harriets Phantom antreffen konnte. Blieb also nur der Pavillon. Auf der Südseite von Buckshaw war auf einer künstlichen Insel in einem künstlichen See eine künstliche Ruine errichtet worden, in deren Schatten ein kleiner griechischer Tempel aus moosbewachsenem Marmor stand. Obwohl inzwischen längst vergessen und von Brennnesseln überwuchert, war das kleine Bauwerk einst eine Zierde Englands gewesen: eine kleine Kuppel auf vier anmutig schlanken Säulen, die Die Insel, der See und der Pavillon waren sämtlich von Capability Brown entworfen worden (auch wenn diese Zuschreibung immer mal wieder in Notes & Queries angezweifelt wurde - einer Kulturzeitschrift, die Vater gern las, sofern in der jeweiligen Ausgabe Fragen von philatelistischem Interesse erörtert wurden), und in der Bibliothek von Buckshaw gab es noch einen roten Lederband, der einen signierten Satz der Originalzeichnungen des Landschaftsarchitekten enthielt. Was wiederum Vater zu dem Scherz verleitete: »Sollen sich diese schlauen Männer doch ihre eigenen Tempel bauen.« Eine unserer beliebten Familienanekdoten handelte davon, dass John Montague, der vierte Earl of Sandwich, anlässlich eines Picknicks im Pavillon von Buckshaw den nach ihm benannten Imbiss erfunden hatte: nämlich als er zum ersten Mal ein Stück kaltes Brathuhn zwischen zwei Brotscheiben packte, während er mit Cornelius de Luce Cribbage spielte. »Zum Teufel mit der historischen Überlieferung«, hatte Vater gesagt. Ich war durch das kaum kniehohe Wasser zu der Insel hinübergewatet und hockte nun mit bis zum Kinn hochgezogenen Knien auf den Stufen des Tempelchens. Zuallererst gab es Mrs Mullets Schmandkuchen zu bedenken. Wo war der geblieben? Ich rief mir noch einmal den frühen Samstagmorgen in Erinnerung, sah mich die Treppe herunterkommen, durch die Später hatte mich Mrs Mullet dann gefragt, wie mir der Kuchen geschmeckt habe. Warum ausgerechnet mich? Warum nicht Feely oder Daffy? Da traf es mich wie ein Donnerschlag! Der Tote hatte das Stück Kuchen gegessen. Endlich ergab das Ganze einen Sinn! Wir hatten es mit einem Diabetiker zu tun, der eine lange Reise aus Norwegen hinter sich und eine in eine Pastete eingebackene Zwergschnepfe ins Land geschmuggelt hatte. Die Reste dieser Pastete hatte ich mitsamt der verräterischen Feder im Dreizehn Erpel entdeckt, der tote Vogel selbst hatte vor unserer Tür gelegen. Ohne etwas im Magen - obwohl er, Tully Stoker zufolge, in der Schankstube ein Bier getrunken hatte - hatte sich der Fremde am Freitagabend auf den Weg nach Buckshaw gemacht und das Haus nach der Auseinandersetzung mit Vater durch die Küche verlassen, wobei er unterwegs ein Stück von Mrs Mullets Schmandkuchen stibitzt hatte. Und noch vor dem Ende des Gurkenbeetes hatte ihn dieses Stück Kuchen niedergestreckt! Was für ein Gift wirkte derart schnell? Ich ging die gebräuchlichsten durch. Zyankali wirkte innerhalb von Minuten, das Opfer wurde erst blau im Gesicht und erstickte dann rasch. Zurück blieb ein feiner Mandelgeruch. Gegen Zyankali sprach allerdings, dass das Opfer längst hätte tot gewesen sein müssen, als ich es entdeckte. (Ich muss zugeben, ich habe ein gewisses Faible für Zyankali - es wirkt nun mal am allerschnellsten. Wenn Gifte Pferde wären, würde ich immer auf Zyankali setzen.) Hatte der letzte Atemzug des Mannes nach Bittermandel gerochen? Ich konnte mich nicht entsinnen. Dann gab es noch Kurare. Das wirkte ebenfalls beinahe sofort, und auch davon erstickte das Opfer im Nu. Aber Kurare Wie wäre es mit Tabak? Mir fiel ein, dass man eine Handvoll Tabakblätter, die man in einem Wasserkrug mehrere Tage in der Sonne weichen ließ, zu einem zähen, schwarzen, sirupartigen Harz eindampfen konnte, das innerhalb von Sekunden tödlich wirkte. Aber Nicoteana wuchs in Amerika. In England oder in diesem Falle in Norwegen ließen sich schwerlich frische Blätter auftreiben. Frage: Ergeben zerkrümelte Zigarettenkippen, Zigarren oder Pfeifentabak ein genauso tödliches Gift? Da auf Buckshaw niemand rauchte, musste ich mir wohl anderswo Proben beschaffen. Frage: Wann (und wohin) werden die Aschenbecher im Dreizehn Erpel geleert? Die eigentliche Frage lautete: Wer hatte den Kuchen vergiftet? Beziehungsweise: Wenn der Mann aus dem Gurkenbeet nur zufällig ein Stück davon gegessen hatte, wem war das Gift ursprünglich zugedacht gewesen? Ich erschauerte, als ein Schatten über die Insel glitt. Als ich zum Himmel schaute, sah ich, dass sich eine dunkle Wolke vor die Sonne geschoben hatte. Bald würde es regnen. Noch ehe ich aufspringen konnte, kam es auch schon wie aus Kübeln herunter - einer jener überraschenden Gewitterschauer im frühen Juni, die Blumen zerdrücken können und alle Regenrinnen überquellen lassen. Ich stellte mich genau in die Mitte des Pavillons unter die Kuppel, in der Hoffnung, mich dort vor dem Geprassel schützen zu können und halbwegs trocken zu bleiben - fror aber trotzdem wie ein Schneider, denn ein kräftiger Wind wehte zwischen den Säulen hindurch. Um mich ein wenig zu wärmen, schlang ich die Arme um mich. In so einem Fall, dachte ich, wartet man am besten ab, bis es vorüber ist. »Hallo? Alles in Ordnung?« Am gegenüberliegenden Seeufer stand ein Mann und schaute zu mir herüber. Durch die Regenschleier sah ich ihn als lauter verschwommene Tupfen, wie eine Figur auf einem impressionistischen Gemälde. Aber noch ehe ich etwas erwidern konnte, hatte er schon die Hosenbeine hochgekrempelt und die Schuhe ausgezogen und kam barfuß angewatet. Dabei stützte er sich auf einen langen Spazierstock, sodass er ein wenig wie der heilige Christophorus aussah, der das Jesuskind huckepack über den Fluss trägt. Allerdings hatte dieser Mann, wie ich erkennen konnte, als er näher gekommen war, einen Leinenrucksack über der Schulter. Er trug einen ausgebeulten Ausgehanzug und hatte einen breitkrempigen Schlapphut auf dem Kopf, ein bisschen so wie der Filmstar Leslie Howard, dachte ich. Der Mann war schätzungsweise um die fünfzig, ungefähr so alt wie Vater, aber wesentlich modischer gekleidet. Mit dem wasserdichten Skizzenbuch in der Hand verkörperte er den durch die Lande streifenden Künstler: ein Sinnbild des guten, alten Englands und so weiter. »Alles in Ordnung?«, wiederholte er, und erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch gar nicht geantwortet hatte. »Aber ja. Danke der Nachfrage.« Ich plapperte drauflos, um meine Unhöflichkeit wiedergutzumachen. »Der Regen hat mich überrascht.« »Das hab ich mir schon gedacht. Du bist ja völlig durchnässt.« »Nicht nur durchnässt - ich bin bereits gesättigt«, verbesserte ich ihn. Wenn es um Chemie ging, konnte ich ziemlich kleinlich sein. Er öffnete seinen Rucksack und holte einen wasserdichten Umhang heraus, wie ihn die Wanderer auf den Hebriden tragen. Den legte er mir um die Schultern, und im Nu wurde mir angenehm warm. »Das wäre doch nicht … aber vielen Dank«, sagte ich. Anschließend standen wir schweigend nebeneinander, schauten auf den See und lauschten dem Geprassel des Wolkenbruchs. Nach einer Weile sagte er: »Da wir nun einmal beide auf dieser Insel gestrandet sind, kann es wohl nichts schaden, wenn wir uns einander vorstellen.« Sein Akzent war schwer einzuordnen. Oxford mit einem Hauch von etwas anderem. Skandinavien? »Ich heiße Flavia. Flavia de Luce.« »Und ich heiße Pemberton, Frank Pemberton. Freut mich, dich kennenzulernen, Flavia.« Pemberton? War das nicht der Mann, der gerade im Dreizehn Erpel angekommen war, als ich vor Tully Stoker geflohen war? Da ich nicht wollte, dass jemand von meinem Besuch dort erfuhr, behielt ich es lieber für mich. Wir schüttelten einander die tropfenden Hände und traten dann wieder jeder ein Stück zurück, wie es Fremde oft machen, nachdem sie einander angefasst haben. Es regnete und regnete. Irgendwann sagte er: »Offen gestanden wusste ich schon, wer du bist.« »Ach ja?« »Mmm. Wenn man sich ernsthaft mit englischen Landsitzen beschäftigt, ist einem der Name de Luce natürlich nicht fremd. Schließlich steht eure Familie im Who’s who.« »Beschäftigen Sie sich denn ernsthaft mit englischen Landsitzen, Mr Pemberton?« Er lachte. »Schon. Allerdings rein beruflich. Genau genommen schreibe ich ein Buch über dieses Thema. Vielleicht nenne ich es Pembertons Herrensitze: Ein Bummel durch die Zeitläufte. Klingt eindrucksvoll, oder?« »Kommt drauf an, wen Sie beeindrucken wollen, aber doch, irgendwie schon …« »Ich wohne natürlich in London, aber ich bin jetzt schon eine ganze Weile in diesem Teil des Landes unterwegs und kritzle vor mich hin. Eigentlich hatte ich gehofft, mich auf eurem Anwesen ein wenig umsehen und vielleicht deinen Vater interviewen zu dürfen. Darum bin ich hergekommen.« »Das wird wohl leider nicht möglich sein, Mr Pemberton«, erwiderte ich. »Es hat bei uns auf Buckshaw nämlich einen unerwarteten Todesfall gegeben, und Vater … unterstützt die Polizei bei den Ermittlungen.« Unwillkürlich verwandte ich einen Satz, den ich schon oft in entsprechenden Radiosendungen gehört hatte und über dessen Bedeutung ich mir, ehe ich ihn selbst aussprach, noch nie Gedanken gemacht hatte. »Grundgütiger!«, sagte er. »Ein unerwarteter Todesfall? Doch hoffentlich kein Familienmitglied?« »Nein, ein Wildfremder. Aber seit man den Toten in unserem Garten gefunden hat, ist Vater … Sie verstehen?« In diesem Augenblick hörte es so unvermittelt zu regnen auf, wie es angefangen hatte. Die Sonne kam heraus, ließ das nasse Gras in allen Regenbogenfarben glitzern, und irgendwo auf der Insel rief ein Kuckuck, geradeso wie am Ende des Gewitters in Beethovens »Pastorale«. Genau so war’s, ich schwöre es! »Gewiss verstehe ich das«, versicherte Mr Pemberton. »Es würde mir nicht im Traum einfallen, mich aufzudrängen. Falls sich Colonel de Luce irgendwann später mit mir in Verbindung setzen möchte, ich bin im Dreizehn Erpel in Bishop’s Lacey abgestiegen. Mr Stoker leitet die Nachricht sicherlich gerne an mich weiter.« Ich nahm den Umhang ab und gab ihn ihm zurück. »Vielen Dank«, sagte ich, »aber jetzt muss ich wieder nach Hause.« Wir wateten durch den See zurück wie zwei Strandurlauber am Meer. »Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Flavia«, verabschiedete sich Mr Pemberton. »Bestimmt werden wir irgendwann noch richtig gute Freunde.« Ich sah ihm nach, wie er in Richtung Kastanienallee davonschlenderte, bis er außer Sichtweite war.  11 Ich entdeckte Daffy in der Bibliothek, wo sie ganz oben auf der Rollleiter hockte. »Wo ist Vater?«, fragte ich. Sie blätterte um und las weiter, als wäre ich niemals geboren worden. »Daffy?« Mein innerer Kessel fing an zu kochen, jener brodelnde Kessel mit diesem okkulten Gebräu, das Flavia die Unsichtbare im Handumdrehen in Flavia den Teufelsbraten verwandeln konnte. Ich rüttelte einmal kräftig an der Leiter, verpasste ihr einen tüchtigen Stoß und schob los. Hatte man das Ding erst einmal in Gang gesetzt, ließ es sich mühelos weiterrollen, und Daffy klammerte sich oben fest wie eine gelähmte Napfschnecke. »Lass den Quatsch, Flavia! Hör auf!« Als der Türrahmen bedenklich schnell näher kam, bremste ich jäh, lief um die Leiter herum und schob sie in die entgegengesetzte Richtung; die ganze Zeit schaukelte und schlingerte Daffy auf der obersten Sprosse wie ein Walfänger in seinem Mastkorb im Nordatlantik. »Wo ist Vater?«, rief ich. »Der ist immer noch mit dem Inspektor in seinem Arbeitszimmer. Hör endlich auf!« Da sie schon ein bisschen blass um die Kiemen war, ließ ich mich erweichen. Daffy stieg zitternd von der Leiter und betrat vorsichtig »Manchmal machst du mir richtig Angst«, sagte sie. Ich wollte schon erwidern, dass ich mir gelegentlich selbst Angst machte, da fiel mir ein, dass Schweigen manchmal vernichtender ist als viele Worte, und ich biss mir auf die Zunge. In Daffys Augen war immer noch das Weiße zu sehen wie bei einem durchgehenden Zugpferd, und ich beschloss, die Gelegenheit zu nutzen. »Wo wohnt Miss Mountjoy?« Daffy sah mich verständnislos an. »Miss Oberbibliothekarin Mountjoy!« »Keine Ahnung. Ich war noch ein Kind, als ich zum letzten Mal in der Dorfbücherei war.« Sie sah mich mit immer noch weit aufgerissenen Augen über ihre Brille an. »Ich wollte mich mal bei Miss Mountjoy erkundigen, wie man eigentlich Bibliothekarin wird.« Eine großartige Lüge. Daffys Miene zeigte einen Anflug von Anerkennung. »Ich weiß nicht, wo sie wohnt«, erwiderte sie. »Frag mal Miss Cool aus der Konditorei. Die weiß, was unter jedem Bett in Bishop’s Lacey liegt.« Damit ließ sie sich in einen Ohrensessel fallen. »Danke, Daff«, sagte ich, »bist ein Pfundskerl.« Eine der größten Annehmlichkeiten, die das Wohnen in der Nähe eines Dorfes mit sich bringt, besteht darin, dass man nötigenfalls schnell dort ist. Ich flog auf Gladys über Land und überlegte unterwegs, dass es keine schlechte Idee wäre, ein Logbuch zu führen, so wie es Flugzeugpiloten machen. Inzwischen hatten Gladys und ich bestimmt schon etliche hundert Flugstunden zusammen, die meisten auf der Strecke nach Einmal waren wir den ganzen Morgen durchgefahren, um ein Wirtshaus zu besichtigen, in dem im Jahre 1747 angeblich Richard Mead einmal übernachtet hatte. Richard (oder Dick, wie ich ihn manchmal zu nennen pflegte) war der Verfasser von Eine schematische Darstellung der Gifte in mehreren Aufsätzen, veröffentlicht 1702, das erste Buch über dieses Thema in englischer Sprache, von dem obendrein eine Erstausgabe der ganze Stolz meiner Chemiebibliothek war. In der Porträtgalerie in meinem Schlafzimmer hatte ich ein Bild von ihm an meinen Spiegel geklemmt. Dort befand er sich in bester Gesellschaft von Henry Cavendish, Robert Bunsen und Carl Wilhelm Scheele, wogegen Daffy und Feely ihre Spiegel mit Pin-ups von Charles Dickens beziehungsweise Mario Lanza verzierten. Die Konditorei auf der Dorfstraße von Bishop’s Lacey war zwischen das Bestattungsunternehmen und das Fischgeschäft gezwängt. Ich lehnte Gladys an das Schaufenster und drückte auf die Türklinke. Ein unterdrückter Fluch entfuhr mir. Der Laden war so fest verriegelt und verrammelt wie Fort Knox. Warum hatte sich das gesamte Universum gegen mich verschworen? Erst der Wandschrank, dann die Bücherei, und jetzt auch noch die Konditorei. Mein Leben verwandelte sich in einen langen Korridor verschlossener Türen. Ich legte die gewölbten Hände ans Schaufenster und spähte in den schummrigen Ladenraum. Offenbar war Miss Cool kurz weggegangen oder es war, wie bei allen anderen Einwohnern von Bishop’s Lacey, ein dringender Familiennotfall eingetreten. Mir war zwar klar, dass es zwecklos sein würde, aber ich rüttelte mit beiden Händen an der Türklinke. Dann fiel mir ein, dass Miss Cool hinter dem Laden ein paar Zimmer bewohnte. Vielleicht hatte sie ja nur vergessen, die Vordertür aufzuschließen. Älteren Menschen passiert so etwas: sie werden tüttelig und... Wenn sie nun im Schlaf gestorben war? Oder schlimmer, wenn … Ich sah mich nach beiden Seiten um, aber die Dorfstraße war menschenleer. Aber halt! Ich hatte nicht an Bolt Alley gedacht, eine Gasse wie ein dunkler, feuchter, kopfsteingepflasterter Tunnel zwischen hohen Ziegelwänden, die zu den Höfen hinter den Läden führte. Na klar! Ich machte mich sofort auf den Weg. In der Bolt Alley müffelte es nach Vergangenheit. Angeblich hatte sich dort einmal eine berüchtigte Gin-Kneipe befunden. Ich erschauerte unwillkürlich, als meine Schritte von den moosbedeckten Mauern und dem tropfenden Dach widerhallten. Ich achtete darauf, dass ich die stinkenden grünfleckigen Wände links und rechts nicht berührte und den säuerlichen Gestank nicht einatmete, bis ich auf der anderen Seite wieder ins helle Sonnenlicht trat. Miss Cools winziger Hinterhof war von einer niedrigen, zerbröckelnden Ziegelmauer umgeben; das Holztor war von innen verriegelt. Ich kletterte über die Mauer, marschierte schnurstracks zur Hintertür des Ladens und schlug laut und vernehmlich mit der flachen Hand dagegen. Dann legte ich das Ohr an die Tür, aber drinnen schien sich nichts zu rühren. Ich verließ den Weg, stapfte durch das ungemähte Gras und drückte mir die Nase am unteren Rand der schmutzigen Fensterscheibe platt. Die Rückwand eines Geschirrschranks versperrte mir die Sicht. In einer Ecke des Hofs stand eine baufällige Hundehütte - das war alles, was von Geordie, Miss Cools Collie, übrig geblieben Ich zerrte das marode Brettergebilde aus dem Lehm und schleifte es quer über den Hof bis direkt unter das Fenster. Dann kletterte ich hinauf. Vom Dach der Hundehütte aus war es nur noch ein Schritt bis auf den Fenstersims, wo ich schwankend auf der abgeblätterten Farbe balancierte, Arme und Beine ausgestreckt wie Leonardo da Vincis vitruvianischer Mensch, wobei ich mich mit einer Hand am Fensterladen festhielt und mit der anderen versuchte, ein Guckloch in den Schmutz zu reiben. In dem kleinen Schlafzimmer war es dunkel, aber immerhin hell genug, um die Gestalt zu erkennen, die auf dem Bett lag - das weiße Gesicht, das mich anstarrte, den Mund zu einem grässlichen »O« aufgesperrt. »Flavia!« Miss Cool rappelte sich mühsam hoch. »Um Himmels willen, was …?« Die Scheibe dämpfte ihre Worte. Sie fischte ihr Gebiss aus einem Glas, rammte es sich in den Mund, und als sie dann für einen Augenblick verschwand, sprang ich vom Fenstersims. Schon hörte ich, wie sie den Riegel zurückzog. Die Tür ging nach innen auf, dahinter stand Miss Cool - wie ein in die Enge getriebener Dachs - in einem Hauskleid, die Hand am Hals, wo sie sich nervös öffnete und schloss. »Was um Himmels willen …?«, wiederholte sie. »Was ist denn los?« »Vorn ist zu«, erwiderte ich. »Ich bin nicht reingekommen.« »Natürlich ist dort zu. Sonntags ist immer zu. Ich habe gerade ein Nickerchen gemacht.« Sie rieb sich die kleinen schwarzen Augen, die immer noch ins Licht blinzelten. Mir dämmerte, dass sie Recht hatte. Es war Sonntag. Es schien mir zwar Jahrzehnte her zu sein, aber es war tatsächlich Ich muss ziemlich niedergeschlagen ausgesehen haben. »Was hast du denn, Liebes?«, erkundigte sich Miss Cool. »Macht dir dieser schreckliche Vorfall bei euch zu Hause zu schaffen?« Sie hatte also auch schon davon gehört. »Hoffentlich warst du so vernünftig und hast dich von … von … na ja, hast dich davon ferngehalten.« »Aber gewiss doch, Miss Cool«, entgegnete ich mit bedauerndem Lächeln. »Aber ich darf nicht drüber sprechen. Das verstehen Sie doch bestimmt.« Auch das war eine Lüge und zwar eine waschechte. »Was bist du doch für ein braves Mädchen.« Sie ließ rasch den Blick über die mit Vorhängen versehenen Fenster der angrenzenden Häuserreihe schweifen, die auf den Hof hinausgingen. »Aber hier lässt sich nicht gut plaudern. Komm doch rein.« Sie führte mich durch einen schmalen Flur, von dem auf einer Seite ihr winziges Schlafzimmer und auf der anderen ein Min i-aturwohnzimmer abging. Miss Cool war nicht nur die einzige Konditorin von Bishop’s Lacey, sondern auch die Postamtsvorsteherin, und als solche wusste sie alles, was es so zu wissen gab - nur mit Chemie kannte sie sich natürlich nicht aus. Sie musterte mich eindringlich, während ich meinerseits die vielen Regale ins Auge nahm, auf denen ein Glas neben dem anderen stand, bis zum Rand voll mit Karamellstangen, Drops und Liebesperlen gefüllt. »Tut mir furchtbar leid, aber sonntags darf ich dir nichts verkaufen, sonst komm ich noch vor Gericht. Das ist nämlich streng verboten.« Ich schüttelte bekümmert den Kopf. »Entschuldigen Sie, ich habe gar nicht dran gedacht, welchen Tag wir heute haben. Ich wollte Sie nicht erschrecken.« »Na, so schlimm war’s ja auch wieder nicht.« Mit einem Mal fand sie ihre Geschwätzigkeit wieder, lief geschäftig im Laden hin und her und griff zerstreut nach diesem und jenem. »Bestell doch deinem Vater, dass bald ein neuer Satz Briefmarken herauskommt. Nichts direkt Umwerfendes, jedenfalls meiner Meinung nach, halt wieder das gleiche Bild von unserem König Georg, Gott segne ihn, nur ein bisschen aufgepeppt: lauter neue Farben.« »Das ist nett, Miss Cool, ich werd’s ihm ganz bestimmt ausrichten.« »Die dort im Londoner Postministerium könnten sich ruhig mal was Pfiffigeres einfallen lassen«, fuhr sie fort, »aber soweit ich gehört habe, heben sie sich ihr Gehirnschmalz für nächstes Jahr auf, wenn das Festival of Britain gefeiert werden soll.« »Können Sie mir vielleicht sagen, wo Miss Mountjoy wohnt?«, unterbrach ich sie. »Tilda Mountjoy?« Sie klang sofort argwöhnisch. »Was willst du denn von der?« »Sie war neulich in der Bücherei so hilfsbereit zu mir, da wollte ich ihr als Dankeschön etwas zum Naschen vorbeibringen.« Passend zur Lüge lächelte ich besonders süßlich. Dabei war es eine schamlose Lüge. Bis gerade eben war ich gar nicht auf einen solchen Gedanken gekommen, aber jetzt begriff ich, dass ich damit vielleicht zwei Fliegen mit einer Klappe erledigen konnte. »Stimmt, ja«, sagte Miss Cool. »Margaret Pickery ist zu ihrer Schwester nach Nether-Wolsey gefahren: Nähmaschine, Nadel, Finger, Zwillinge, trunksüchtiger Mann, unbezahlte Rechnungen … und schon kann sich Tilda Mountjoy endlich mal wieder nützlich machen … - Saure Drops«, sagte sie plötzlich und ganz unvermittelt. »Sonntag hin oder her, saure Drops sind genau das Richtige.« »Dann nehme ich welche für Sixpence«, sagte ich. »… und noch für einen Shilling Karamellstangen«, setzte ich hinzu. Karamellstangen waren mein heimliches Laster. Miss Cool ging auf Zehenspitzen nach vorn in den Laden und zog die Jalousien herunter. »Das bleibt aber unter uns!«, raunte sie verschwörerisch. Dann löffelte sie die sauren Drops in eine violette Papiertüte, deren Farbe derart an Beerdigungen erinnerte, dass sie förmlich danach schrie, mit einem oder zwei Schuss Arsen oder nux vomica abgefüllt zu werden. »Macht einen Shilling Sixpence.« Sie wickelte die Karamellstangen in Papier. Ich gab ihr zwei Shilling, und als sie in ihren Taschen kramte, sagte ich: »Ist schon gut, Miss Cool, behalten Sie das Wechselgeld.« Sie strahlte. »Was bist du doch für ein liebes Kind!« Dann steckte sie noch eine Karamellstange dazu. »Wenn ich selbst Kinder hätte, könnte ich mich glücklich schätzen, wenn sie auch nur halb so aufmerksam und großzügig wären wie du.« Als sie mir den Weg zu Miss Mountjoys Haus beschrieb, gönnte ich ihr ein halbes Lächeln und hob die andere Hälfte für mich auf. »Die Weidenvilla. Nicht zu verfehlen. Ein orangefarbenes Haus.« Die Weidenvilla war tatsächlich orangefarben. So ein Orange sieht man sonst nur bei Totenkopfpilzen, kurz bevor ihnen die eigentlich dunkelrote Kappe abfällt. Das Haus lag im Schatten der wehenden grünen Schleier einer gewaltigen Trauerweide, deren Zweige sich unruhig im Wind bewegten und den Boden unter dem Baum blank fegten wie ein Regiment Hexenbesen. Ich musste an ein Musikstück aus dem 17. Jahrhundert denken, das Feely manchmal spielte und sang - und zwar sehr wohlklingend, wie ich zugeben muss -, wenn sie an Ned dachte. Auch darin kam eine Weide vor: The willow-tree will twist, and the willow-tree will twine, O I wish I was in the dear youth’s arms that once had the heart of mine. Das Lied hieß The Seeds of Love - Die Saat der Liebe, obwohl ich beim Anblick einer Weide nicht als Erstes an Liebe dachte, ganz im Gegenteil: Weiden erinnerten mich immer an Ophelia (nicht meine, sondern die von Shakespeare), die sich in der Nähe einer Weide ertränkte. Bis auf ein taschentuchgroßes Rasenfleckchen am Rand füllte Miss Mountjoys Weide den eingezäunten Vorgarten zur Gänze aus. Noch auf der Treppe vor der Haustür war es feucht und klamm. Die herunterhängenden Weidenruten bildeten eine Art grüne Käseglocke, durch die nur wenig Licht drang, wodurch man sich vorkam wie unter Wasser. Leuchtend grünes Moos verwandelte die Treppenstufen in schwammartige Gebilde, Wasserflecken streckten ihre traurigen schwarzen Finger über die orangefarbene Fassade. Der angelaufene Messingklopfer war die grinsende Fratze eines Lincoln-Kobolds. Ich hob ihn an und klopfte behutsam mehrere Male. Beim Warten schaute ich unschuldig in die Luft, nur für den Fall, dass jemand durch die Vorhänge spähte. Aber die verstaubte Borte hing so reglos im Fenster, als rührte sich im ganzen Haus kein Lüftchen. Ein Weg aus abgetretenen Ziegelsteinen führte links am Haus vorbei, und als ich ein, zwei Minuten vergeblich vor der Tür gewartet hatte, ging ich ums Haus herum. Die Hintertür war hinter langen Weidenruten kaum zu erkennen. Durch die Zweige ging eine wellenförmige Bewegung, eine Art erwartungsvolles Raunen, als könnte sich jeden Augenblick ein knallbunter Theatervorhang heben. Ich versuchte, durch eine der kleinen Scheiben in der Tür zu spähen. Vielleicht wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte … »Was machst du da?« Ich fuhr herum. Miss Mountjoy stand vor der Weidenkäseglocke und schaute zu mir hinein. Durch die Zweige und Blätter sah ich ihr Gesicht nur in vertikalen Streifen, aber was ich davon erkannte, machte mich leicht nervös. »Ich bin’s bloß, Miss Mountjoy … Flavia«, sagte ich. »Ich wollte mich bei Ihnen bedanken, weil Sie mir in der Bücherei so nett geholfen haben.« Die Weidenruten raschelten, als Miss Mountjoy durch den Laubvorhang trat. Sie hielt eine Gartenschere in einer Hand, und sie sagte nichts. Ihre Augen jedoch, die wie zwei blitzende Rosinen in ihrem faltigen Gesicht saßen, ließen meinen Blick nicht los. Als ich zurückwich, baute sie sich auf dem Gartenweg auf und verstellte mir den Fluchtweg. »Ich weiß sehr gut, wer du bist«, entgegnete sie. »Du bist Flavia Sabina Dolores de Luce - Schnäppis jüngste Tochter.« »Sie wissen, wer mein Vater ist?!« Ich schnappte nach Luft. »Selbstverständlich weiß ich das, Mädel. Wenn man so alt ist wie ich, weiß man eine ganze Menge.« Ehe ich es verhindern konnte, sprang die Wahrheit aus mir heraus wie ein Korken aus einer Flasche. »›Dolores‹ ist gelogen«, gestand ich. »Manchmal denke ich mir irgendwas aus.« Sie machte einen Schritt auf mich zu. »Was willst du hier?«, flüsterte sie heiser. Ich griff in meine Tasche und angelte die Tüte mit den Sü ßigkeiten heraus. »Ich wollte Ihnen ein paar saure Drops bringen und mich entschuldigen, dass ich so unhöflich war. Hoffentlich nehmen Sie meine kleine Versöhnungsgabe an.« Sie stieß ein pfeifendes Keuchen aus, das ich als Lachen deutete. »Den Tipp hast du bestimmt von Miss Cool, stimmt’s?« Wie der Dorftrottel in einer Pantomime nickte ich einige Male übertrieben heftig. »Es tut mir richtig leid, wie Ihr Onkel - Mr Twining - gestorben ist«, sagte ich und meinte es auch so. »Ehrlich. Ich find’s irgendwie ungerecht.« »Ungerecht? Na ja, gerecht war es wirklich nicht«, erwiderte sie. »Aber ungerecht würde ich es auch nicht nennen, sondern … Weißt du, was es war?« »Nein«, erwiderte ich leise. »Es war Mord. Schlicht und ergreifend Mord.« »Und wer war der Mörder?« Manchmal überrumpelte mich meine eigene Zunge. Ein unbestimmter Ausdruck glitt über Miss Mountjoys Gesicht wie eine Wolke über den Mond, als hätte sie sich ihr Leben lang auf diese eine Rolle vorbereitet und jetzt, da sie mitten auf der Bühne im Scheinwerferlicht stand, den Text vergessen. »Diese Jungen«, sagte sie schließlich. »Diese elenden, widerwärtigen Jungen. Ich kann sie einfach nicht vergessen, trotz ihrer Apfelbäckchen und all ihrer zur Schau getragenen Schulbubenunschuld.« »Und mein Vater war einer von diesen Jungen«, sagte ich leise. Ihr Blick schien in die Vergangenheit gerichtet und kehrte nur zögerlich in die Gegenwart und damit zu mir zurück. »Ja. Laurence de Luce. Schnäppi. Das war der Spitzname deines Vaters, Schnäppi. Den hatte er eigentlich bei seinen Mitschülern weg, und doch hat ihn später sogar der Leichenbeschauer vor Gericht so genannt: ›Schnäppi‹. Als er sich in der Verhandlung zur Todesursache äußerte, sprach er den Namen so sanft aus, ja, beinahe zärtlich - als sei er dem ganzen Gerichtssaal wohl bekannt.« »Hat mein Vater anlässlich dieser Untersuchung ausgesagt?« »Selbstverständlich. Als Zeuge. Wie die anderen Jungen auch. Das war damals so üblich. Er hat natürlich jegliche Beteiligung oder Mitschuld abgestritten. Eine wertvolle Briefmarke war aus der Sammlung des Direktors gestohlen worden, aber alle riefen nur: ›Nein, Sir, ich war’s nicht, Sir!‹ Als wären der Marke wie durch Zauberei kleine schmutzige Finger gewachsen und sie hätte sich selber stibitzt!« Ich wollte schon erwidern: »Mein Vater ist aber kein Dieb und auch kein Lügner«, da begriff ich mit einem Mal, dass nichts, was ich dagegenhalten würde, Mrs Mountjoys jahrzehntelang gehegte Überzeugung umstoßen konnte. Also ging ich zum Angriff über. »Warum haben Sie heute Vormittag den Gottesdienst verlassen?« Miss Mountjoy fuhr zusammen, als hätte ich ihr ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet. »Du nimmst aber auch kein Blatt vor den Mund, was?« »Nein. Es hatte etwas mit der Predigt zu tun, mit dem Fremden in unserer Mitte, stimmt’s? Mit dem Toten, den ich in unserem Garten gefunden habe.« »Du hast die Leiche gefunden? Du?«, zischte sie durch die Zähne wie ein Teekessel. »Ja.« »Dann verrat mir eins: Hatte er rote Haare?« Sie machte die Augen zu und hielt sie in Erwartung meiner Antwort geschlossen. »Ja, er hatte rote Haare.« »Dank sei Dir, o Herr, für Deine Segnungen«, hauchte sie und machte die Augen wieder auf. Diese Reaktion fand ich nicht nur ausgesprochen absonderlich, sondern irgendwie auch ziemlich unchristlich. »Wie bitte?«, fragte ich. »Ich habe ihn gleich wiedererkannt«, entgegnete sie. »Nach so vielen Jahren wusste ich gleich, wer er war, als ich diesen rotenDreizehn Erpel herauskommen sah. Und wenn nicht, dann hätten mir sein großspuriger Gang, seine maßlose Überheblichkeit und diese kalten blauen Augen - und zwar jedes einzeln für sich - verraten, dass Horace Bonepenny nach Bishop’s Lacey zurückgekehrt ist.« Ich begriff allmählich überhaupt nichts mehr. »Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich unmöglich mit der Gemeinde für die schwarze Seele dieses Jungen - beziehungsweise Mannes - beten konnte.« Sie nahm mir die Tüte mit den sauren Drops aus der Hand, steckte sich einen in den Mund und den Rest in die Tasche. »Ganz im Gegenteil«, fuhr sie fort. »Ich bete, dass er inzwischen in der Hölle schmort.« Damit verschwand sie in ihrer feuchtkalten Behausung und knallte die Tür hinter sich zu. Wer in aller Welt war Horace Bonepenny? Und was hatte ihn nach Bishop’s Lacey zurückgeführt? Mir fiel nur ein Mensch ein, den ich womöglich dazu bringen konnte, mir mehr darüber zu erzählen. Als ich in die Kastanienallee nach Buckshaw einbog, sah ich sofort, dass der blaue Vauxhall nicht mehr vor unserer Tür stand. Inspektor Hewitt und seine Männer waren weg. Ich schob Gladys hinters Haus. Aus dem Gewächshaus ertönte ein metallisches Scheppern. Ich schaute durch die Tür. Es war Dogger. Er hockte auf einem umgedrehten Eimer und schlug mit einem Spachtel darauf ein. Bing … bang … bong … bing, so wie die Glocke von St. Tankred zur Beerdigung irgendeines Greises aus Bishop’s Lacey schlug, pausenlos und unaufhörlich wie Pulsschläge. Bing … bang … bong … bing … Dogger saß mit dem Rücken zur Tür und konnte mich nicht sehen. Ich schlich mich zur Küchentür, wo ich Gladys absichtlich »Verdammter Mist!«, rief ich so laut, dass man mich auch im Gewächshaus hören konnte. Dann tat ich überrascht. »Ach, Dogger!«, sagte ich munter. »Dich hab ich gerade gesucht.« Er drehte sich nicht gleich um, und ich tat so, als kratzte ich mir den Lehm von der Schuhsohle, bis er sich einigermaßen gefangen hatte. »Miss Flavia«, sagte er bedächtig. »Du wirst schon überall gesucht.« »Tja, jetzt bin ich ja hier!« Am besten, ich übernahm die Unterhaltung, bis Dogger wieder in der Spur war. »Ich habe mich im Dorf mit jemandem unterhalten, der mir von jemandem erzählt hat, über den du mir wahrscheinlich mehr erzählen kannst.« Dogger lächelte gezwungen. »Ich weiß, das klingt ein bisschen konfus, aber …« »Ich weiß schon, was du meinst«, sagte er. »Horace Bonepenny«, platzte ich heraus. »Wer ist Horace Bonepenny?« Dogger bekam auf einmal Zuckungen wie ein Frosch im Versuchslabor, dessen Rückenmark mit einer galvanischen Batterie verbunden ist. Er leckte sich über die Lippen und wischte sich hektisch mit dem Taschentuch die Mundwinkel. Seine Augen wurden matt wie die Sterne kurz vor Sonnenaufgang, aber er gab sich große Mühe, sich zusammenzureißen, wenn auch mit mäßigem Erfolg. »Ist ja gut, Dogger«, sagte ich beschwichtigend. »Ist nicht so wichtig.« Er wollte von seinem Eimer aufstehen, aber es gelang ihm nicht. »Weißt du, Miss Flavia«, sagte er, »es gibt Fragen, die muss man stellen, und andere, die behält man lieber für sich.« Doggers magische Formel, und er sprach sie so selbstverständlich und unwiderruflich aus, als stammte sie vom Propheten Jesaja persönlich. Aber mit dem einen kurzen Satz hatte er sich offenbar völlig verausgabt, denn er schlug tief seufzend die Hände vors Gesicht. Da hätte ich ihn am liebsten in den Arm genommen, aber ich ahnte, dass er das nicht gewollt hätte. Darum legte ich ihm nur die Hand auf die Schulter, spürte allerdings, dass diese Geste mir selbst mehr Trost spendete als ihm. »Ich hole Vater«, sagte ich. »Wir bringen dich auf dein Zimmer.« Dogger wandte mir langsam das Gesicht zu, die kreideweiße Maske der Tragödie. Seine Stimme war ganz heiser und kratzig, wie Stein, der auf Stein kratzte. »Den haben sie mitgenommen, Miss Flavia. Die Polizei hat ihn mitgenommen.«  12 Feely und Daffy saßen auf dem geblümten Diwan im Salon, hielten einander umschlungen und heulten wie die Luftschutzsirenen. Kaum hatte ich zwei Schritte ins Zimmer getan, um mich zu ihnen zu setzen, erblickte mich Ophelia. »Wo warst du denn, du kleines Biest?«, fauchte sie, sprang auf und ging wie eine Wildkatze auf mich los. Ihre Augen waren dick verschwollen und rot wie Fahrradreflektoren. »Alle haben nach dir gesucht! Wir dachten schon, du seist ertrunken! Aber nein - wieder nichts!« Schön, dass du wieder da bist, Flave, dachte ich im Stillen. »Vater ist festgenommen worden«, sagte Daffy sachlich. »Sie haben ihn mitgenommen.« »Wo haben sie ihn hingebracht?«, fragte ich. »Woher sollen wir das wissen?«, fuhr mich Ophelia verächtlich an. »Wahrscheinlich dorthin, wo alle Verhafteten hinkommen. Wo warst du denn nun?« »Meinst du in Bishop’s Lacey oder in Hinley?« »Was soll der Unsinn? Drück dich gefälligst klar aus, dummes Ding!« »In Bishop’s Lacey oder in Hinley?«, wiederholte ich unbeirrt. »In Bishop’s Lacey gibt es nur eine kleine Wache, darum nehme ich nicht an, dass sie ihn dorthin gebracht haben. Das Polizeirevier für unsere Grafschaft befindet sich in Hinley. Darum wird er vermutlich dort sein.« »Er wird des Mordes beschuldigt«, sagte Ophelia. »Dafür wird man gehängt!« Sie brach wieder in Tränen aus und wandte Als ich aus dem Salon wieder in die Diele kam, sah ich Dogger die Westtreppe hochgehen, schleppend, Schritt für Schritt, wie ein Verurteilter, der die Stufen zum Schafott hinaufsteigt. Jetzt oder nie! Ich wartete ab, bis er außer Sichtweite war, dann stahl ich mich ich in Vaters Arbeitszimmer und schloss hinter mir ab. Ich war noch nie allein in Vaters Zimmer gewesen. Vaters Briefmarkenalben nahmen eine ganze Wand ein, dicke Lederbände, deren Farben für die Regentschaft der verschiedenen Monarchen standen: Schwarz für Königin Viktoria, Rot für Edward VIII., Grün für Georg V. und Blau für unseren derzeitigen König, Georg VI. Mir fiel wieder ein, dass der schmale scharlachrote Band zwischen dem grünen und dem blauen Wälzer nur ganz wenige Marken enthielt - jeweils eine der neun bekannten Varianten der vier Briefmarken, die König Edward VIII. zeigten und herausgegeben worden waren, ehe er sich mit der Amerikanerin aus dem Staub gemacht hatte. Vater konnte sich stunden- und tagelang an den unzähligen Konfettifitzelchen erfreuen; mehr wusste ich jedoch nicht über seine Leidenschaft. Nur wenn er von irgendeiner aufregenden Besonderheit in der neuesten Ausgabe von The British Philatelist so begeistert war, dass er uns davon sogar am Frühstückstisch vorschwärmte, erhielten wir einen flüchtigen Einblick in die Freuden seiner einsiedlerischen Welt. Abgesehen von diesen seltenen Gelegenheiten waren wir allesamt, meine Schwestern genauso wie ich, völlig unbeleckt, was Briefmarken anging, während Vater versunken vor sich hin bosselte und seine bunten Papierstückchen mit mehr Vergnügen und Ehrfurcht einsortierte, als andere Männer an den Tag legten, wenn sie Hirsch- oder Tigerköpfe an die Wand hängten. An der gegenüberliegenden Wand stand eine Kommode Am hinteren Ende des Zimmers stand, vor der Tür, die auf die Terrasse hinausging, Vaters Schreibtisch, ein Doppelschreibtisch, so groß wie ein Spielfeld, der auch in der Buchhaltung von Scrooge & Marley aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte hätte stehen können. Die Schubladen waren garantiert abgeschlossen - ich hatte mich nicht geirrt. Wo, überlegte ich, würde Vater wohl in einem Zimmer voller Briefmarken eine einzelne Briefmarke verstecken? Denn versteckt hatte er sie bestimmt - genauso wie ich es getan hätte. Vater und ich legten beide viel Wert auf unsere Privatsphäre; daher konnte ich davon ausgehen, dass er nicht so dumm gewesen war, die Marke an einem allzu naheliegenden Ort aufzubewahren. Darum sah ich weder irgendwo drauf noch spähte ich irgendwo hinein, sondern legte mich gleich auf den Boden wie ein Mechaniker, der die Unterseite eines Automobils betrachtet, rutschte auf dem Rücken durch das Zimmer und nahm sämtliche verfügbaren Unterseiten in Augenschein. Ich schaute unter den Schreibtisch, den Tisch, den Papierkorb und unter Vaters Windsorstuhl. Ich schaute unter die Perserteppiche und hinter die Vorhänge. Ich schaute hinter die Standuhr und drehte die gerahmten Stiche an den Wänden um. Es waren viel zu viele Bücher, um alle durchzublättern, darum überlegte ich, welches das nächstliegende war. Natürlich! Die Bibel! Doch ein flüchtiges Durchblättern der König-James-Ausgabe förderte leider nur eine alte Kirchenbroschüre und eine Da fiel mir plötzlich wieder ein, dass Vater die Penny Black vom Schnabel des toten Vogels gezogen und in seine Westentasche gesteckt hatte. Vielleicht hatte er sie dort gelassen, um sie erst später woanders zu verstecken. Das war des Rätsels Lösung! Die Marke war gar nicht hier. Wie hatte ich so dumm sein können! Das gesamte Arbeitszimmer stand auf der Liste der allzu offensichtlichen Verstecke natürlich ganz oben. Nun bestand für mich kein Zweifel mehr. Das, was Feely und Daffy fälschlicherweise »weibliche Intuition« nannten, flüsterte mir ein, dass die gesuchte Marke ganz woanders war. Ich schloss das Arbeitszimmer möglichst geräuschlos wieder zu. Die beiden Heulbojen waren immer noch im Salon, denn ihre an- und wieder abschwellenden Klage- und Zornesäußerungen waren unüberhörbar. Ich hätte bequem an der Tür lauschen können, aber ich hatte Wichtigeres zu tun. Wie ein Gespenst huschte ich die Westtreppe hinauf und in den Südflügel. Erwartungsgemäß war es in Vaters Zimmer dunkel. Unzählige Male hatte ich vom Garten aus zu diesen Fenstern emporgeblickt, und jedes Mal waren die dicken Vorhänge zugezogen gewesen. Der Raum glich einem Museum nach Ende der offiziellen Öffnungszeit. Der starke Geruch von Vaters Duft- und Rasierwässerchen gemahnte an offene Sarkophage und Kanopen, die einst mit wohlriechenden Essenzen gefüllt gewesen waren. Die zierlich geschwungenen Beine des Queen-Anne-Waschtischs wirkten neben dem düsteren gotischen Bett in der Ecke nahezu anstößig, als würde ein grämlicher alter Kammerherr mürrisch dabei zusehen, wie seine Geliebte ihre Seidenstrümpfe von den langen, jugendlichen Beinen rollte. Sogar die beiden Uhren ließen an längst vergangene Zeiten Die Schlangengrube und das Pendel langsam und tickend hin- und herschwang und matt im Zwielicht blinkte. Im stummen Widerspruch dazu stand auf dem Nachttisch eine kleine georgianische Uhr. Ihre Zeiger standen auf 3.15 Uhr, die der Kaminuhr auf 3.12 Uhr. Ich ging einmal quer durchs Zimmer. Harriets Ankleidezimmer - das man nur durch Vaters Schlafzimmer betreten konnte - war verbotenes Territorium. Vater hatte uns dazu erzogen, den Schrein zu respektieren, den er an dem Tag, als er von ihrem Tod erfahren hatte, für sie errichtet hatte. Das war ihm gelungen, indem er uns in dem nie recht widersprochenen Glauben ließ, dass wir bei der allerkleinsten Verletzung dieses Gebots unverzüglich im Gänsemarsch ans Ende des Gartens geführt, an die Backsteinmauer gestellt und standrechtlich erschossen würden. Die Tür zu Harriets Zimmer war mit grünem Baumwollflanell verhängt und glich eher einem hochkant gestellten Billardtisch. Ich drückte behutsam dagegen und sie öffnete sich beunruhigend lautlos. Dieses Zimmer wiederum war gleißend hell. Von drei Seiten ergossen sich durch die hohen Fenster wahre Flutwellen aus Sonnenlicht und wurden von bauschigen Dra pierungen aus italienischer Spitze zerstreut. Überhaupt erinnerte das Gemach an das Bühnenbild für ein Stück über den Herzog und die Herzogin von Windsor. Auf der Frisierkommode lagen lauter Bürsten und Kämme von Fabergé, als wäre Harriet nur mal eben ins angrenzende Bad gegangen. An den Parfümflakons von Lalique hingen bunte Ketten aus Bakelit und Bernstein, daneben standen eine niedliche kleine Kochplatte und ein versilberter Teekessel bereit, sodass sie sich den ersten Morgentee selbst zubereiten konnte. In einer schlanken Glasvase verwelkte eine einzelne gelbe Rose. Auf einem ovalen Tablett stand ein winziges geschliffenes Parfümfläschchen, das kaum mehr als ein, zwei Tropfen enthielt. Ich zog den Stöpsel heraus und führte ihn unter meiner Nase hin und her. Es duftete nach kleinen blauen Blumen, nach Bergwiesen und nach Eis. Ein seltsames Gefühl überkam mich, beziehungsweise ging durch mich hindurch, als wäre ich ein Regenschirm, der sich daran erinnert, wie es ist, wenn man sich bei Regen öffnet. Ich schaute auf das Etikett. Dort stand nur ein Wort: Miratrix. Ein silbernes Zigarettenetui mit den Initialen H. de L. lag neben einem Handspiegel, auf dessen Rückseite die Flora aus Botticellis Gemälde Primavera eingraviert war. Auf den Drucken nach dem Original war es mir noch nie aufgefallen, aber Flora sah unverkennbar schwanger aus - und durchaus glücklich darüber. Hatte mein Vater Harriet den Spiegel womöglich geschenkt, als sie mit einer von uns schwanger gewesen war? Und wenn ja, mit welcher von uns dreien, mit Feely, mit Daffy oder mit mir? Letzteres hielt ich für eher unwahrscheinlich, eine dritte Tochter war wohl kaum ein Geschenk der Götter gewesen - zumindest nicht in den Augen meines Vaters. Nein, vermutlich war es Ophelia, die Erstgeborene, gewesen, die ja schon mit einem Spiegel in der Hand auf die Welt gekommen war … vielleicht sogar mit dem hier. An einem Fenster stand ein Korbsessel, ein wunderbares Plätzchen zum Lesen, und hier, gleich in Reichweite, stand auch Harriets kleine Privatbibliothek. Sie hatte die Bücher aus ihrer Schulzeit in Kanada und den Sommern, die sie bei ihrer Tante in Boston verbracht hatte, nach England mitgenommen: Anne auf Green Gables und Jane in Lantern Hill standen gleich neben Penrod und Merton der Leinwandheld von einem Harry Leon Wilson, und am Ende der Reihe lehnte eine mit Eselsohren versehene Ausgabe von Martyrium im Kloster - die schockierenden Enthüllungen der Maria Monk. Keins der Auf einem runden Tischchen daneben lag ein Fotoalbum. Ich klappte es auf. Die Seiten bestanden aus grobem, schwarzem Karton, die schwarz-weißen Schnappschüsse trugen Unterschriften mit Kreidestift: Harriet (2 Jahre alt) im Morr is House, Harriet (15 Jahre alt) in Miss Bodycotes Höherer Mädchenschule (1930 - Toronto, Kanada), Harriet mit ihrem Flugzeugdoppeldecker namens »Blithe Spirit«, einer de Havil land Gypsy Moth (1938), Harriet in Tibet (1939). Die Fotos zeigten, wie sich Harriet von einer pummligen Putte mit goldblondem Lockenschopf zu einem großen, schlanken, lachenden Mädchen (ohne erkennbaren Busen) im Hockey-Trikot und schließlich zu einem Filmstar mit blonder Ponyfrisur wandelte, und wie Amelia Earhart neben ihrem Doppeldecker stand, eine Hand lässig auf das Cockpit gelegt. Von Vater gab es kein einziges Foto. Von uns drei Schwestern auch nicht. Auf jedem Foto sah Harriet aus, als hätte man Feelys, Daffys und mein Aussehen zusammengeschüttet, einmal kräftig durchgerührt und daraus diese selbstbewusst lächelnde und zugleich liebenswert zurückhaltende Abenteurerin zusammengesetzt. Als ich ihr Gesicht betrachtete und den Versuch unternahm, durch das Fotopapier bis in ihre Seele zu blicken, klopfte es leise. Kurze Stille … dann klopfte es noch einmal. Und die Tür ging langsam auf. Es war Dogger. Er streckte zaghaft den Kopf ins Zimmer. »Colonel de Luce?«, fragte er. »Sind Sie da drin?« Ich rührte mich nicht und wagte kaum zu atmen. Dogger machte keine Anstalten einzutreten, sondern blickte stur geradeaus, in der abwartenden Haltung des erfahrenen Dieners, Aber was hatte er vor? Hatte er mir nicht eben erst erzählt, die Polizei habe meinen Vater mitgenommen? Wie kam er jetzt darauf, dass er ihn in seinem Arbeitszimmer antreffen könnte? War Dogger dermaßen durch den Wind? Oder beschattete er mich womöglich? Ich öffnete die Lippen ein wenig und atmete langsam durch den Mund, damit mich kein versehentliches Pfeifen der Nase verriet; gleichzeitig sprach ich ein stummes Stoßgebet, dass ich jetzt bitte, bitte nicht niesen musste. Dogger stand eine halbe Ewigkeit in der Tür wie ein Tableau vivant. Ich hatte in der Bibliothek Stiche von diesem altmodischen Zeitvertreib gesehen, wo man Schauspieler mit Schminke und Puder zutünchte, ehe sie sich zu lebenden, oftmals recht freizügigen Bildern gruppierten, die angeblich Szenen aus dem Leben der antiken Götter darstellen sollten. Als ich nach einer ganzen Weile hervorragend nachvollziehen konnte, wie sich ein vor Schreck erstarrtes Kaninchen fühlen musste, zog Dogger den Kopf zurück und schloss geräuschlos die Tür. Hatte er mich gesehen? Und wenn ja, tat er dann jetzt so, als ob nicht? Ich horchte, aber nebenan war nichts zu hören. Dogger würde sich nicht lange mit Abwarten aufhalten, und als ich fand, dass genug Zeit vergangen war, öffnete ich die Tür und spähte ins Nebenzimmer. Vaters Zimmer war noch genauso, wie ich es verlassen hatte. Die beiden Uhren tickten vor sich hin, nur dass mir das Ticken jetzt viel lauter vorkam, weil mir der Schreck noch in den Knochen saß. Da mir klar war, dass eine solche Gelegenheit nie wiederkommen würde, fing ich unverzüglich mit der Suche an, indem ich dieselbe Methode anwandte wie in Vaters Arbeitszimmer. Weil aber dieses Zimmer so spartanisch Das einzige Buch im Zimmer war ein Verkaufskatalog von Stanley Gibbons für eine Briefmarkenauktion, die in drei Monaten abgehalten werden sollte. Ich drehte ihn um und blätterte ihn durch, aber nichts fiel heraus. In Vaters Schrank hingen erschreckend wenig Kleider: ein paar alte Tweedjacken mit Lederflicken auf den Ellenbogen (die Taschen waren leer), zwei Wollpullover und mehrere Hemden. Ich fasste in die Schuhe und in ein Paar uralte Soldatenstiefel, entdeckte aber nichts. Das war bedauerlich, denn sonst besaß Vater nur noch seinen Sonntagsanzug, und den musste er angehabt haben, als Inspektor Hewitt ihn mitgenommen hatte. (Das Wort »festgenommen« wollte ich noch nicht einmal denken.) Vielleicht hatte er die durchbohrte Penny Black irgendwo anders versteckt - zum Beispiel im Handschuhfach von Harriets Rolls-Royce. Genauso wahrscheinlich war es, dass er die Marke längst vernichtet hatte. Eigentlich war das die logischste Lösung. Eine beschädigte Briefmarke ist wertlos. Ihr Anblick hatte Vater aufgewühlt, und es schien mir nur folgerichtig, dass er, kaum dass er am Freitag sein Zimmer aufgesucht hatte, ein Streichholz daran gehalten hatte. Das hätte allerdings Spuren hinterlassen: Asche im Aschenbecher, ein abgebranntes Streichholz im Papierkorb. Ein Blick genügte, denn beide Behältnisse standen direkt vor mir - und waren leer. Vielleicht hatte Vater eventuelle Indizien ja ins Klo gespült. Als ich das dachte, merkte ich, dass ich mich schon an den letzten Strohhalm klammerte. Gib’s auf, dachte ich. Überlass es der Polizei. Geh wieder in dein gemütliches Labor und arbeite weiter an deinem Lebenswerk. Ich überlegte - aber nur einen prickelnden Augenblick Aber diese Freuden musste ich zurückstellen. Ich stand gegenüber Vater in der Pflicht, und es war nun einmal mir zugefallen, ihm zu helfen, besonders jetzt, da er sich selbst nicht helfen konnte. Eigentlich hätte ich mir Zutritt zu seinem Gefängnis verschaffen müssen, ganz gleich, wo man ihn festhielt, und ihm nach Art des Treueschwurs der mittelalterlichen Knappen mein Schwert zu Füßen legen. Auch wenn ich ihm nicht gleich helfen konnte, sollte er doch wissen, dass ich ihn keineswegs im Stich ließ, und da merkte ich auf einmal, wie schmerzlich er mir fehlte. Ich hatte eine Eingebung. Wie viele Meilen waren es bis Hinley? Konnte ich noch vor Einbruch der Dunkelheit dort eintreffen? Würde man mich überhaupt zu ihm lassen? Ich bekam derartiges Herzklopfen, als hätte mir jemand eine Tasse Fingerhuttee untergejubelt. Zeit aufzubrechen. Ich hatte mich lange genug hier aufgehalten. Ein Blick auf die Nachttischuhr - sie zeigte inzwischen 15.40 Uhr. Auch das Ungetüm auf dem Kamin tickte unbeirrt weiter und stand auf 15.37 Uhr. Vater war anscheinend mit den Gedanken woanders gewesen, sonst wäre ihm aufgefallen, dass die Uhren nicht übereinstimmten. Eigentlich duldete er keine Unregelmäßigkeiten, was die Tageszeit betraf. Ich erinnerte mich, wie er Dogger (wenn auch immerhin nicht uns) geradezu militärische Befehle zu erteilen pflegte: »Bring dem Vikar diese Gladiolen, Dogger, und zwar Punkt Ich betrachtete die beiden Uhren, in der Hoffnung, dass sie mir einen Hinweis liefern konnten. Als Vater einmal, was selten vorkam, in mitteilsamer Stimmung gewesen war, hatte er uns anvertraut, dass er sich hauptsächlich wegen ihrer Nachdenklichkeit in Harriet verliebt hatte. »Kommt bei Frauen selten vor, wenn ich es mir recht überlege«, hatte er gesagt. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Eine der Uhren war angehalten worden - und zwar genau drei Minuten lang. Das Ungetüm auf dem Kaminsims. Ich schob mich auf sie zu, als müsste ich mich an einen Vogel anschleichen. Das dunkle Gehäuse verlieh ihr das trübselige Aussehen einer viktorianischen Leichenkutsche: lauter Messingverzierungen, Glas und schwarzer Schellack. Ich beobachtete, wie sich meine Hand, klein und weiß im Dämmerlicht, danach ausstreckte, spürte, wie meine Finger die kalte Oberfläche streiften, wie mein Daumen den silbernen Riegel hochschob. Das schwere Messingpendel schwang dicht vor meinen Fingerkuppen hin und her und gab sein gespenstisches Tick-Tack, Tick-Tack von sich. Beinahe hätte ich mich nicht getraut, es anzufassen. Ich holte tief Luft und griff zu. Die Trägheit ließ das Pendel in meiner Hand beben wie einen gefangenen Goldfisch, wie das verräterische Herz, ehe es endgültig verstummt. Ich befühlte die Rückseite. Dort war etwas befestigt … festgeklebt … ein winziges Päckchen. Ich zog daran. Es löste sich und fiel in meine Handfläche. Ich hatte die Hand noch nicht aus dem Innenleben der Uhr gezogen, da wusste ich schon, was sich meinem Blick darbieten würde … und ich irrte mich nicht. Auf meiner flachen Hand lag ein kleiner Pergaminumschlag, in dem gut sichtbar eine Penny-Black-Briefmarke steckte. Eine Penny Black mit einem Loch in der Mitte, wie es der Schnabel Ich zog die Marke behutsam aus dem Umschlag heraus und betrachtete sie näher. Zunächst einmal hatte Königin Viktoria ein Loch im Kopf. Das mochte zwar nicht sehr vaterländisch sein, konnte aber einen gestandenen Mann wohl kaum derart erschüttern. Nein, es musste etwas anderes dahinterstecken. Was unterschied diese eine Marke von allen anderen ihrer Art? Hatten Briefmarken nicht Millionenauflagen? Vor einiger Zeit hatte Vater - in der Absicht, unsere Allgemeinbildung zu erweitern - verkündet, dass die Mittwochabende künftig für eine Reihe von Pflichtvorträgen (der Referent war er selbst) über verschiedene Aspekte des britischen Regierungswesens reserviert seien. »Vortragsreihe A«, wie er sich ausdrückte, sollte sich - wer hätte das gedacht? - mit der »Geschichte der Penny Post« beschäftigen. Daffy, Feely und ich hatten unsere Notizbücher mit in den Salon gebracht und so getan, als würden wir mitschreiben, wobei wir uns allerdings Zettelchen zusteckten, auf denen »Du bist vielleicht’ne Marke!« oder »Ich kleb dir gleich eine!« stand. Briefmarken wurden, wie Vater erläuterte, in Bögen zu je hundertundvierzig Stück gedruckt, zwanzig Reihen zu je zwölf Marken, was ich mir leicht merken konnte, da 20 die Ordnungszahl von Kalzium und 12 die von Magnesium ist - ich brauchte mir also nur CaMg zu merken. Jede Marke auf einem Bogen war mit einer unverwechselbaren Kennung versehen, wobei es mit »AA« auf der linken oberen Marke losging und alphabetisch fortlaufend von links nach rechts bis »T L« am rechten Ende der zwanzigsten beziehungsweise untersten Reihe zählte. Dieses Schema war laut Vater von der Post zum Schutz gegen Fälschungen eingeführt worden, obwohl wir nicht recht begriffen, Ich betrachtete noch einmal die Marke in meiner Hand. Unter Königin Viktorias Kopf stand ON E PENNY. Links davon erkannte man den Buchstaben B, rechts davon den Buchstaben H. Das ergab: B ONE PENNY, H »BH«. Demnach stammte diese Marke aus der zweiten Reihe des Druckbogens, achte Reihe von links. Zwo-acht. Bedeutete das irgendetwas? Abgesehen von der Tatsache, dass 28 die Ordnungszahl von Nickel war, fiel mir nichts dazu ein. Da hatte ich einen Geistesblitz: Es ging gar nicht um eine Zahl, sondern um ein Wort! BONEPENNY! Und nicht nur einfach Bonepenny, sondern BONEPENNY, H.!- Horace Bonepenny! Auf den Schnabel einer toten Zwergschnepfe gespießt, stellte die Briefmarke zugleich eine Visitenkarte und eine Morddrohung dar. Und Vater hatte die Drohung auf Anhieb entschlüsselt und begriffen. Der Vogelschnabel hatte den Kopf der Königin durchbohrt, den Namen des Absenders jedoch unversehrt gelassen - für jeden, der Augen hatte zu sehen. Horace Bonepenny. Der verstorbene Horace Bonepenny. Auf dem Hügel zeigte ein morscher Wegweiser - der klägliche Überrest eines Galgens aus dem 18. Jahrhundert - in zwei entgegengesetzte Richtungen. Hinley konnte man entweder über die Straße nach Doddingsley erreichen oder auf der etwas längeren und dafür weniger befahrenen Straße, die durch das Dörfchen St. Elfrieda führte. Ersteres ging schneller, Letzteres »Har-har-har!«, lachte ich voll bitterer Ironie. Wer würde mich schon vermissen? Trotzdem wandten Gladys und ich uns nach rechts und hielten auf St. Elfrieda zu. Da es nur bergab ging, kamen wir gut voran. Als ich per Rücktritt bremste, gab die Sturmey-Archer-Dreigangschaltung an Gladys’ Hinterrad ein Geräusch von sich wie ein Sack wütender, giftspritzender Klapperschlangen. Ich malte mir aus, ich würde von den Viechern verfolgt, die mir in die Fersen beißen wollten. Es war einfach herrlich! Seit ich damals mittels Extraktion und anschließender Verdampfung aus den Aronstabpflanzen, die im Lilienteich des Vikars wuchsen, ein künstliches Kurare hergestellt hatte, war ich nicht mehr so prächtiger Laune gewesen. Ich legte die Füße auf den Lenker und ließ Gladys freien Lauf. Als wir den staubigen Hügel hinuntersausten, trällerte ich: Seht, da kommt sie, munter und froh - das Mädel mit dem knackigen … Apfel!   13 Als wir am Fuß des Oakshott Hill angekommen waren, musste ich auf einmal wieder an Vater denken, und mit diesem Gedanken kam die Traurigkeit zurück. Glaubte die Polizei allen Ernstes, dass mein Vater Horace Bonepenny ermordet hatte? Und wie sollte er das angestellt haben, bitteschön? Hätte er ihn unter meinem Schlafzimmerfenster abgemurkst, hätte sich das Ganze nur vollkommen geräuschlos abspielen können. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass Vater jemanden umbrachte, ohne dabei laut zu werden. Aber ehe ich weiterspekulieren konnte, wurde die Straße ebener und bog schließlich nach Cottesmore und Doddingsley Magna ab. Im Schatten einer uralten Eiche, auf der Bank einer Bushaltestelle, saß eine wohlbekannte Gestalt: ein Hutzelmännlein in einer Überfallhose, das wie ein in der Wäsche eingelaufener George Bernard Shaw aussah. Der Gnom saß dort so ruhig und zufrieden und baumelte mit den Beinen, als wäre er auf dieser Bank geboren worden und hätte seither sein ganzes Leben darauf verbracht. Es war unser Nachbar Maximilian Brock, und ich hoffte inständig, dass er mich nicht gesehen hatte. In Bishop’s Lacey munkelte man, Max verdiene sich jetzt, nachdem er sich aus der Welt der Musik zurückgezogen hatte, heimlich seinen Lebensunterhalt mit dem Verfassen von Skandalgeschichten für amerikanische Heftchenreihen wie Vertrauliche Geständnisse und Heiße Romanzen - und zwar unter weiblichen Pseudonymen wie zum Beispiel Lala Dupree. Weil er jeden, der ihm über den Weg lief, neugierig auszufragen pflegte und anschließend alles, was man ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute, in hanebüchene Sensationen verwandelte, wurde er hinter seinem Rücken »die Dorfschleuder« genannt. Aber als Feelys ehemaligen Klavierlehrer konnte ich ihn schlechterdings nicht ignorieren. Ich fuhr an den Straßenrand, tat so, als hätte ich ihn nicht gesehen, und beschäftigte mich mit Gladys’ Kette. Wenn ich Glück hatte, würde er sich nicht umdrehen, und ich konnte mich hinter der Hecke verstecken, bis er weg war. »Flavia! Haruh, mon vieux!« Mist! Er hatte mich entdeckt. Ein Haruh! von Maximilian zu ignorieren entsprach in etwa der Missachtung des elften Gebots - selbst wenn der Ruf von einer Bushaltestelle kam. Darum tat ich so, als hätte ich ihn eben erst entdeckt, setzte ein künstliches Lächeln auf und schob Gladys durchs hohe Gras auf ihn zu. Maximilian hatte viele Jahre lang auf den Kanalinseln gelebt, wo er als Pianist bei den Alderney Symphonikern gespielt hatte, eine Stellung, die - wie er behauptete - unendliche Geduld und einen beträchtlichen Vorrat an Kriminalromanen erforderte. Wollte man auf Alderney den Schutz des Gesetzes anrufen (so hatte er es mir einmal beim jährlichen Blumenfest in St. Tankred geschildert), brauchte man sich nur mitten auf den Marktplatz der Stadt zu stellen und »Haruh, haruh, mon prince. On me fait tort!« zu rufen. »Protestgeschrei« wurde dieser Ruf auch genannt, und er bedeutete so viel wie: »Achtung, mein Prinz, jemand tut mir Ungemach!« Mit anderen Worten: Jemand verübt ein Verbrechen an mir. »Wie geht’s, wie steht’s, mein kleiner Pelikan?«, erkundigte sich Max und legte den Kopf erwartungsvoll schief wie eine Elster, die auf ein Antwortbröckchen wartet. »Ganz gut«, erwiderte ich zurückhaltend, denn ich entsann »Und wie geht’s deinem Vater, dem wackeren Colonel?« Mein Herz machte einen Satz. »Ach, der ist wie immer furchtbar beschäftigt.« »Und die kleine Miss Ophelia?«, bohrte er weiter. »Malt sie sich immer noch an wie Jezabel und bewundert sich in der silbernen Teekanne?« Das ging nun aber eindeutig zu weit, fand sogar ich. Dergleichen ging ihn überhaupt nichts an, aber es war allgemein bekannt, dass Maximilian aus heiterem Himmel fürchterlich in Rage geraten konnte. Feely nannte ihn manchmal auch »das Rumpelstilzchen«, und Daffy hatte ihn schon als »Alexander Pope - bloß fieser« bezeichnet. Trotzdem hatte ich Maximilian, trotz seiner abstoßenden Gewohnheiten und vielleicht wegen unserer ähnlichen Statur, hin und wieder als interessanten und informativen Gesprächspartner erlebt - solange man ihn seiner geringen Körpergröße wegen nicht unterschätzte. »Der geht’s auch gut, vielen Dank«, erwiderte ich. »Und ihr Teint war heute Vormittag noch durchaus zufriedenstellend.« Ein »leider!« verkniff ich mir. »Ach übrigens, Max«, kam ich seiner nächsten Frage zuvor, »glauben Sie, ich kann irgendwann die hübsche kleine Toccata von Paradisi spielen lernen?« »Nein«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen. »Du hast nicht die Hände einer großen Künstlerin. Du hast die Hände einer Giftmischerin.« Ich grinste. Das war unser Privatscherz. Damit war auch geklärt, dass er noch nichts von dem Mord auf Buckshaw erfahren hatte. »Und die andere?«, fragte er. »Daphne … deine langsame Schwester?« »Langsam« bezog sich auf Daffys musikalische Fortschritte beziehungsweise das Ausbleiben derselben. Klavierspielen bedeutete in ihrem Fall das aussichtslose Unterfangen, ihre widerspenstigen Finger auf Tasten zu setzen, die vor ihrer Berührung zurückzuschrecken schienen. Daffys Kampf mit dem Instrument glich dem Kampf der Henne gegen den Fuchs, eine aussichtslose Schlacht, die stets mit Tränen endete. Trotzdem wurde der Krieg fortgeführt, weil Vater darauf bestand. Als ich Daphne einmal schluchzend mit dem Kopf auf dem geschlossenen Flügel angetroffen hatte, hatte ich geraunt: »Gib’s auf, Daff!«, und sie war wie eine Kampfhenne auf mich losgeflattert. Ich hatte es sogar mit Ermutigung versucht. Jedes Mal, wenn ich sie auf dem Broadwood spielen hörte, begab ich mich in den Salon, lehnte mich an den Flügel und ließ den Blick in die Ferne schweifen, als verzückte mich ihr Spiel über die Maßen. Normalerweise strafte sie mich mit Nichtachtung, aber als ich mich einmal äußerte: »Was für ein wunderschönes Stück! Wie heißt es denn?«, hätte sie mir beinahe den Deckel auf die Pfoten geknallt. »Das ist die G-Dur Tonleiter!«, hatte sie gekreischt und war hinausgerannt. Es ist nicht immer leicht, auf Buckshaw zu leben. »Der geht’s prima«, erwiderte ich. »Verschlingt Dickens wie eine Verrückte. Ansonsten kriegt man kein Wort aus ihr raus.« »Ach ja«, seufzte Maximilian, »der gute alte Dickens.« Da ihm kein neues Thema einzufallen schien, nutzte ich die Pause. »Sagen Sie, Max, Sie sind doch ein Mann von Welt …« Er strahlte und richtete sich zu voller Größe auf. »Nicht nur ein Mann von Welt, sondern ein Boulevardier«, sagte er. »Richtig.« Was mochte dieser Ausdruck bedeuten? »Sind Sie schon mal in Stavanger gewesen?« So konnte ich mir vielleicht ersparen, im Atlas nachzuschlagen. »Meinst du Stavanger in Norwegen?« »Volltreffer!«, hätte ich fast gejubelt. Horace Bonepenny war in Norwegen gewesen! Ich holte tief Luft, um mich wieder zu fassen, und hoffte, dass Max es für Ungeduld hielt. »Selbstverständlich«, sagte ich herablassend. »Oder gibt es noch andere Stavangers?« Vielleicht glaubte er, ich wollte ihn auf den Arm nehmen, denn er kniff die Augen zusammen, und ein kalter Luftzug streifte mich, als die Gewitterwolken eines Maximilian-Wutanfalls die Sonne verdunkelten, aber dann kicherte er nur belustigt wie Quellwasser, das in ein Glas plätschert. »Über Stavanger bin ich seinerzeit nach Trondheim gereist, wo ich Griegs Klavierkonzert in a-Moll gespielt habe. Grieg war übrigens ebenso Schotte wie Norweger. Sein Großvater kam aus Aberdeen, ist aber seinerzeit nach der Schlacht von Culloden ausgewandert. Hinterher hat er sich bestimmt gefragt, ob er’s wirklich besser getroffen hat, als er die Firths gegen die Fjorde eintauschte. Das Konzert in Trondheim war ein großer Erfolg, muss ich sagen … freundliche Kritiker, nettes Publikum. Leider haben die Norweger kein Gespür für ihre eigenen Komponisten. Ich habe auch Scarlatti gespielt, um ein bisschen italienische Sonne in diese verschneite nordische Gegend zu bringen, und trotzdem musste ich in der Pause hören, wie ein Handlungsreisender aus Dublin seinem Freund zugeflüstert hat: ›Also mir kommt das alles spanisch vor, Thor.‹« Ich lächelte höflich, obwohl ich diese uralte Schnurre schon mindestens fünfundvierzigmal gehört hatte. »Aber das war natürlich noch in der guten alten Zeit vor dem Krieg. Stavanger! Selbstverständlich bin ich dort gewesen. Wie kommst du darauf?« »Wie sind Sie dort hingekommen? Mit dem Schiff?« In Stavanger war Horace Bonepenny noch am Leben gewesen, in England war er gestorben, und jetzt wollte ich herausfinden, wo er sich dazwischen aufgehalten hatte. »Wie sonst? Du willst doch nicht etwa von zu Hause abhauen, Flavia?« »Nein, nein, wir haben nur gestern Abend beim Abendessen darüber gesprochen, beziehungsweise uns gestritten.« Auch eine gute Methode, eine Lüge glaubwürdig zu gestalten: einfach eine Portion Offenheit draufpacken. »Ophelia meinte, dass man sich in London einschiffen muss, Vater bestand auf Hull, Daphne war für Scarborough, aber nur, weil Anne Brontë dort begraben liegt.« »Newcastle-upon-Tyne«, sagte Maximilian. »Man geht in Newcastle-upon-Tyne an Bord.« Mit dumpfem Rumpeln kündigte sich der Cottesmore-Bus an, und da kam er auch schon zwischen den Hecken angeschlingert wie ein Huhn auf dem Hochseil. Er hielt direkt vor der Bank und schnaufte von der Anstrengung, mit der er sich die Hügel hinauf- und hinunterquälen musste. Die Türen öffneten sich quietschend. »Ernie, mon vieux!«, begrüßte Maximilian den Fahrer. »Was macht das Transportwesen?« »Steig ein.« Ernie blickte stur durch die Windschutzscheibe geradeaus. Falls er den müden Scherz mitgekriegt hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Nein, heute fahr ich nicht mit, Ernie. Hab nur meine alten Nieren ein Weilchen auf eurer Bank ausgeruht.« »Die Bänke sind nur für Fahrgäste vorgesehen, die auf einen Bus warten, so steht’s in den Bestimmungen, Max. Das weißt du genauso gut wie ich.« »Allerdings, Ernie. Danke, dass du mich dran erinnert hast.« Max rutschte nach vorne und hüpfte von der Bank. »Dann mal Tschüss«, sagte er, tippte sich an die Hutkrempe und spazierte wie Charlie Chaplin die Straße hinunter. Die Türen schlossen sich, Ernie legte den ersten Gang ein, und der Bus setzte sich widerspenstig in Bewegung. So gingen wir alle unserer getrennten Wege: Ernie und sein Bus in Richtung Cottesmore, Max in sein Häuschen, und Gladys und ich setzten unsere Fahrt nach Hinley fort. Die Polizeiwache in Hinley war in dem Gebäude einer alten Postkutschenstation untergebracht. Eingezwängt zwischen einem kleinen Park und einem Kino, blickte die Fachwerkfront finster über die Straße, die blaue Lampe war am Giebel angebracht. Ein in undefinierbarem Braun gestrichener Anbau aus Schlackenbeton war an die Seitenwand geklatscht wie ein Kuhfladen an einen Eisenbahnwaggon. Dort drin vermutete ich die Arrestzellen. Ich ließ Gladys an einem Fahrradständer grasen, der schon voller offiziell aussehender schwarzer Raleigh-Räder stand, ging die ausgetretene Vortreppe hoch und trat in die Wachstube. Dort saß ein uniformierter Sergeant am Schreibtisch, kramte in irgendwelchen Akten und kratzte sich mit dem spitzen Ende eines Bleistifts durch das schüttere Haar. Ich lächelte und ging an ihm vorbei. »He, mal langsam«, brummelte er. »Wo willst du denn hin, Frolleinchen?« Leute auszufragen gehört offenbar zum Berufsbild des Polizisten. Ich lächelte unbeirrt, als hätte ich ihn nicht gehört, und marschierte einfach weiter auf die offene Tür zu, hinter der ich einen dunklen Flur ausmachen konnte. Blitzschnell war der Sergeant aufgesprungen und hielt mich am Arm fest. Er hatte Das tat ich nur ausgesprochen ungern, aber ich sah keinen anderen Ausweg. Zehn Minuten später tranken Wachtmeister Glossop und ich in der Küche der Polizeiwache einträchtig Kakao. Er hatte mir erzählt, dass er zu Hause auch ein Mädchen hatte, genauso eins wie ich (was ich nicht recht glauben wollte). Elisabeth hieß sie. »Unsre Lissie ist ihrer Mutter’ne große Hilfe, gerade jetzt, nachdem meine Frau im Obstgarten ganz übel von der Leiter gefallen ist. Das Bein hat sie sich gebrochen, nächsten Sonntag ist’s zwei Wochen her.« Erst dachte ich, er hätte zu viel Beano oder Dandy gelesen und trug ein bisschen dick auf, um sich wichtig zu machen, aber seine ernste Miene und die kummervoll gerunzelte Stirn belehrten mich eines Besseren. Wachtmeister Glossop verstellte sich nicht, also ging ich am besten auf ihn ein. Darum fing ich unverzüglich wieder an zu schniefen und vertraute ihm an, dass ich keine Mutter mehr hätte, dass sie bei einem Bergsteigerunfall im fernen Tibet ums Leben gekommen sei und dass ich sie schrecklich vermisste. »Ist ja gut, ist ja gut!«, brummelte er beschwichtigend. »Hier bei uns darf man aber nicht weinen, das stört sozusagen die natürliche Würde dieses Ortes. Wisch dir lieber die Tränen ab, sonst muss ich dich womöglich noch einbuchten.« Ich brachte ein zaghaftes Lächeln zustande, das er mir mit Zins und Zinseszins zurückzahlte. Während meiner Darbietung waren mehrere Polizisten auf einen Tee und ein belegtes Brötchen hereingekommen, und jeder hatte mir stumm, aber aufmunternd zugelächelt. Wenigstens hatten sie keine Fragen gestellt. »Darf ich bitte meinen Vater besuchen?«, fragte ich. »Er Wachtmeister Glossops Miene wurde mit einem Mal undurchdringlich, und ich merkte, dass ich voreilig gewesen war. Nunmehr saß ich dem Beamten Glossop gegenüber. »Wart mal«, sagte er und verschwand in einem engen Flur, an dessen Ende ich ein schwarzes Gitter zu erkennen glaubte. Ich sah mich rasch um. Ich saß in einem trostlosen kleinen Raum, dessen Einrichtung so schäbig wirkte, als hätte man sie einem Trödler direkt vom Lastwagen herunter abgekauft. Die Stuhlbeine waren zerschrammt und abgestoßen, als hätten Hunderte von Beamten sie schon seit hundert Jahren mit Füßen getreten. In dem vergeblichen Versuch, das Ganze freundlicher zu gestalten, hatte jemand den kleinen Küchenschrank apfelgrün gestrichen, aber die Spüle war ein mit Rostflecken übersätes Relikt, das aussah wie eine Leihgabe aus dem Kreisgefängnis. Gesprungene Tassen und krakelierte Untertassen standen traurig Wange an Wange auf einem Abtropfbrett, und zum ersten Mal fiel mir auf, dass die Fensterstreben in Wirklichkeit halbherzig verkleidete Gitterstäbe waren. Ein eigenartiger, herber Geruch hing in der Luft, das war mir gleich beim Hereinkommen aufgefallen. Es miefte, als wäre ein Glas mit Sardellenpaste, das jemand vor Jahren ganz hinten im Regal vergessen hatte, plötzlich aufgegangen. Ein Lied aus der Oper Die Piraten von Penzance kam mir in den Sinn. »Polizist sein ist wahrhaftig kein Genuss«, wie ich es mal in einer Aufführung der D’Oyly Carte Opera Company im Radio gehört hatte, und wie immer hatten Gilbert und Sullivan so was von Recht. Sollte ich vielleicht lieber abhauen? Meine Idee war vielleicht gar zu tollkühn gewesen, eher aus dem Instinkt, Vater zu beschützen, entstanden und einem prähistorischen Winkel meines Gehirns entsprungen. Steh einfach auf, und geh Ich lauschte und legte dabei den Kopf wie Maximilian ein wenig schief, um mein ohnehin scharfes Gehör noch anzuspitzen. Irgendwo brummten Bassstimmen wie die Bewohner eines fernen Bienenkorbs. Ich setzte behutsam einen Fuß vor den anderen, wie eine empfindsame Señorita beim Tango, und blieb abrupt an der Tür stehen. Von dort, wo ich stand, konnte ich nur eine Ecke des Schreibtischs im Vorzimmer erkennen, und zu meiner großen Erleichterung lag darauf kein Uniformärmel. Ich riskierte noch einen Blick. Der Flur war leer, also schob ich mich im Tangoschritt ungehindert zur Tür und trat ins helle Tageslicht hinaus. Obwohl ich nicht eingesperrt gewesen war, kam es mir vor, als sei mir endlich die Flucht gelungen. Ich schlenderte zum Fahrradständer. Noch zehn Sekunden, dann würde ich auf und davon sein. Aber da erstarrte ich, als hätte mir jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf gekippt. Gladys war weg! Beinahe hätte ich laut geschrien. Vor mir standen immer noch sämtliche Beamtenfahrräder mit ihren amtlichen kleinen Lampen und den behördlich vorgeschriebenen Gepäckträgern - nur Gladys war verschwunden! Ich schaute erst in die eine, dann in die andere Richtung, und stellte beklommen fest, dass die Straßen, wenn man zu Fuß unterwegs war, mit einem Mal ganz anders aussahen. In welche Richtung ging es nach Hause? Wo lang ging es zur Landstraße? Als hätte ich nicht schon genug Probleme gehabt, zog auch noch ein Gewitter auf. Im Westen brauten sich schwarze Wolken zusammen, und die Wolken, die schon über meinem Kopf dahinjagten, hatten bereits einen unschönen Lilaton angenommen und sahen aus wie Blutergüsse. Erst packte mich die Angst, dann wurde ich zornig. Wieso war ich auch so bescheuert gewesen und hatte Gladys nicht angeschlossen? Wie sollte ich jetzt nach Hause kommen? Was sollte jetzt aus der armen Flavia werden? Feely hatte mir einmal geraten, in einer Umgebung, in der ich mich nicht auskannte, niemals verunsichert zu wirken, aber wie stellte man das im Falle eines Falles an? Darüber dachte ich immer noch nach, als sich eine schwere Hand auf meine Schulter legte und jemand sagte: »Ich glaube, du kommst jetzt lieber mal mit.« Es war Inspektor Hewitt. »Das wäre ausgesprochen vorschriftswidrig«, sagte der Inspektor. »Höchst unangebracht.« Wir saßen in seinem Büro, einem langen schmalen Raum, der früher einmal die Schankstube der ehemaligen Poststation beherbergt hatte. Hier war es beeindruckend ordentlich, es fehlten nur noch eine Kübelpalme und ein Klavier. Ein Aktenschrank und ein schlichter Schreibtisch, ein Stuhl, ein Telefon und ein kleines Bücherregal, obendrauf das gerahmte Foto einer Frau im Kamelhaarmantel, die sich an die Brüstung einer malerischen Brücke lehnte. Ich war insgeheim ein bisschen enttäuscht. »Dein Vater muss so lange hierbleiben, bis wir gewisse Erkundigungen eingezogen haben. Anschließend wird er wahrscheinlich woanders hingebracht, wohin, darf ich dir leider nicht sagen. Tut mir leid, Flavia, aber es kommt nicht infrage, dass du ihn besuchst.« »Ist er verhaftet?«, fragte ich. »Leider ja.« »Aber wieso?« Eine dämliche Frage, wie ich sofort begriff, als ich sie ausgesprochen hatte. Er sah mich an, als hätte er ein Kind vor sich. »Sieh mal, Flavia, ich kann nachvollziehen, dass du wütend »Ich weiß schon, Georg VI. ist kein alberner Mensch.« Inspektor Hewitt sah mich bekümmert an. Er stand von seinem Schreibtisch auf und trat ans Fenster, wo er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen auf die sich draußen zusammenballenden Wolken schaute. »Nein«, bestätigte er schließlich, »König Georg ist kein alberner Mensch.« Da hatte ich eine Eingebung. Mit einem Mal war alles so folgerichtig wie in einem dieser rückwärts laufenden Kinofilme, wo alle Puzzleteile an die ihnen zugedachte Stelle hüpfen und das Bild sich vor den Augen der Zuschauers von selbst zusammensetzt. »Darf ich offen mit Ihnen sprechen, Herr Inspektor?« »Aber natürlich. Schieß los.« »Der Mann, der tot auf Buckshaw aufgefunden wurde, ist am Freitag in Bishop’s Lacey eingetroffen, und zwar nach einer Schiffsreise aus dem norwegischen Stavanger. Sie müssen Vater sofort freilassen, Herr Inspektor, er war’s nämlich nicht.« Der Inspektor war zwar ein wenig verdutzt, fing sich aber gleich wieder und schmunzelte nachsichtig. »Ach was?« »Nein! Ich war’s. Ich habe Horace Bonepenny umgebracht.«  14 Es war wasserdicht. Niemand hätte etwas anderes beweisen können. Ich würde behaupten, ich sei mitten in der Nacht durch ein verdächtiges Geräusch draußen vor dem Haus wach geworden. Ich sei die Treppe hinunter- und in den Garten hinausgegangen, wo ich von einem Mann, der ums Haus herumschlich, bedrängt worden sei, einem Einbrecher womöglich, der es auf Vaters Briefmarken abgesehen hatte. Nach kurzem Kampf hätte ich ihn überwältigt. Halt mal, Flave, jetzt nicht übertreiben: Horace Bonepenny war über eins achtzig groß und hätte mich mühelos zwischen Daumen und Zeigefinger erdrosseln können. Nein, wir hatten miteinander gerungen, und dann war er tot umgekippt. Vielleicht hatte er ja ein schwaches Herz in der Folge einer längst vergessenen Kinderkrankheit. Oder er litt meinetwegen an rheumatischem Fieber. Ja, das war’s. Verschleppte Herzmuskelschwäche, wie bei Beth in Vier Schwestern. Ich richtete ein Stoßgebet an den heiligen Tankred und bat um ein Wunder. Bitte, lieber Tankred, mach, dass die Autopsie meine Flunkerei bestätigt. »Ich habe Horace Bonepenny umgebracht«, wiederholte ich, als würde es glaubhafter, wenn ich es zweimal sagte. Inspektor Hewitt holte tief Luft und atmete bedächtig aus. »Dann erzähl mal.« »Ich habe nachts ein Geräusch gehört und bin raus in den Garten, und dann hat mich jemand angefallen.« »Halt. Aus welcher Richtung kam der Betreffende?« »Er kam hinter dem Geräteschuppen hervor. Ich wollte mich losreißen, da hat er auf einmal ganz komisch geröchelt, als hätte er eine Herzmuskelschwäche, weil er als Kind an rheumatischem Fieber gelitten hat oder etwas Ähn lichem.« »Aha«, sagte Inspektor Hewitt. »Und was hast du dann gemacht?« »Ich bin wieder reingegangen und habe Dogger geholt. Alles Übrige wissen Sie ja schon.« Moment mal … ich wusste zwar, dass Dogger dem Inspektor nicht von dem Streit zwischen Vater und Horace Bonepenny erzählt hatte, den wir gemeinsam belauscht hatten, aber es war ziemlich unwahrscheinlich, dass Dogger dem Inspektor erzählt hatte, dass ich ihn um vier Uhr morgens geweckt hätte, ohne dabei zu erwähnen, dass ich jemanden umgebracht hatte. Oder? Ich musste Zeit schinden und das Ganze noch einmal überdenken. »Sich gegen einen Angreifer zu wehren, ist noch kein Mord«, sagte der Inspektor. »Nein«, erwiderte ich, »aber das ist ja auch noch nicht alles.« Ich ging in Windeseile meine geistigen Karteikarten durch: noch unbekannte Gifte (zu langsam); tödliche Hypnose (dito); geheime und unerlaubte Jiu-Jitsu-Griffe (unwahrscheinlich, zu schwierig zu erklären). Mir dämmerte, dass es gar nicht so leicht war, ein Märtyrer zu sein. Schlagfertig zu sein genügte nicht, hier war echtes Genie gefragt. »Es ist mir zu peinlich«, setzte ich rasch hinzu. Im Zweifelsfall immer auf Gefühle zurückgreifen!, dachte ich, und war sehr stolz auf mich, dass mir das eingefallen war. »Hmmm«, machte der Inspektor. »Lassen wir es für heute gut sein. Hast du Dogger erzählt, dass du den nächtlichen Eindringling umgebracht hast?« »Ich glaube nicht. Dafür war ich viel zu aufgeregt.« »Hast du es ihm irgendwann danach erzählt?« »Nein. Ich dachte, das verkraften seine Nerven nicht.« »Tja, das ist ja alles sehr interessant«, sagte Inspektor Hewitt, »aber die Einzelheiten sind doch ein wenig dürftig.« Ich begriff, dass ich am Rand eines Abgrunds stand. Nur noch einen Schritt weiter, und es würde kein Zurück mehr geben. »Da ist noch etwas, aber …« »Aber?« »Ich sage kein Wort mehr, wenn Sie mich nicht mit meinem Vater sprechen lassen.« Inspektor Hewitt sah aus, als wollte er etwas schlucken, was nicht richtig rutschen wollte. Er machte den Mund auf und wieder zu. Er schluckte schwer, dann tat er etwas, wofür ich ihn ehrlich bewunderte und das ich mir für meine eigene Trickkiste merken musste: Er holte sein Taschentuch heraus und verbarg seine Verblüffung hinter einem vorgetäuschten Niesen. »Und zwar unter vier Augen«, ergänzte ich. Der Inspektor putzte sich laut prustend die Nase und trat wieder ans Fenster, wo er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen ins Unbestimmte blickte. Mittlerweile kannte ich das schon und wusste, dass er angestrengt nachdachte. »Na schön«, sagte er unvermittelt. »Komm mit!« Ich sprang eifrig vom Stuhl und folgte ihm. An der Tür versperrte er mir mit dem Arm den Weg in den Flur, drehte sich um und ließ die andere Hand sanft wie eine Feder auf meine Schulter schweben. »Ich mache jetzt etwas, das ich vielleicht noch einmal bitter bereuen werde«, verkündete er. »Ich setze meine Karriere aufs Spiel. Lass mich bloß nicht hängen, Flavia. Lass mich bloß nicht hängen.« »Flavia!«, rief Vater erstaunt aus. Dann verdarb er alles, indem er sagte: »Bringen Sie das Kind weg, Inspektor, ich bitte Sie. Bringen Sie meine Tochter weg.« Er wandte sich von mir ab und drehte sich zur Wand. Die Tür zur Arrestzelle war zwar gelblich lackiert, aber das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie aus Metall war. Nachdem der Inspektor aufgeschlossen hatte, sah ich, dass die Zelle nicht größer war als ein kleines Büro mit Pritsche zum Herunterklappen und einer überraschend sauberen Spüle. Gnädigerweise hatte man Vater nicht in einen dieser vergitterten Käfige gesteckt, die ich zuvor erblickt hatte. Inspektor Hewitt nickte mir kurz zu, als wollte er sagen: »Jetzt liegt’s an dir!«, dann ging er hinaus und schloss leise die Tür. Ich hörte keinen Schlüssel, der sich im Schloss drehte, und auch keinen Riegel, der vorgeschoben wurde, allerdings blitzte und donnerte es auf einmal draußen, weshalb ich es vielleicht nur überhört hatte. Vater hatte offenbar angenommen, der Inspektor hätte mich wieder mitgenommen, denn als er sich umdrehte, fuhr er erschrocken zusammen. »Geh nach Hause, Flavia«, sagte er. Obwohl er so kerzengerade dastand, als hätte er einen Spazierstock verschluckt, klang er alt und müde. Er spielte anscheinend den unverwüstlichen Briten, der durch nichts zu erschüttern ist, und es versetzte mir einen Stich, als ich merkte, dass ich ihn dafür liebte und zugleich verabscheute. Ich zeigte zum Fenster. »Es regnet.« Draußen tobte wieder ein Wolkenbruch wie schon zuvor am Tempelchen, und wieder rauschte der Regen so heftig nieder, dass man die dicken Tropfen wie Schrotkugeln auf das Fensterbrett prasseln hörte. In einem Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite schüttelte sich eine Saatkrähe aus wie ein nasser Regenschirm. »Ich kann erst nach Hause, wenn es aufgehört hat. Außerdem hat jemand Gladys geklaut.« »Gladys?« Sein Blick glich dem eines ausgestorbenen Lebewesens aus der Tiefsee, das aus unergründlichen Tiefen an die Oberfläche geschwommen und aufgetaucht war. »Mein Fahrrad.« Er nickte geistesabwesend, und ich wusste, dass er überhaupt nicht zuhörte. »Wer hat dich hergebracht?«, fragte Vater. »Er?« Er zeigte mit dem Daumen auf die Tür und meinte offenbar Inspektor Hewitt. »Ich bin allein hergekommen.« »Allein? Aus Buckshaw?« »Ja.« Das war anscheinend zu viel für ihn, denn er drehte sich wieder zum Fenster. Mir fiel unweigerlich auf, dass er die gleiche Haltung wie Inspektor Hewitt einnahm und ebenfalls die Hände auf dem Rücken verschränkte. »Allein. Aus Buckshaw«, wiederholte er schließlich, als wäre er gerade eben draufgekommen. »Ja.« »Und Daphne und Ophelia?« »Denen geht’s gut«, versicherte ich ihm. »Du fehlst ihnen schrecklich, klar, aber sie kümmern sich um alles, bis du wiederkommst.« Wenn ich gelogen hab, bring ich Mama ins Grab. Das sangen die kleinen Mädchen manchmal, wenn sie auf dem Kirchhof Seil sprangen. Meine Mama war ja schon tot, also konnte mir in dieser Hinsicht nicht viel passieren. Und wer weiß? Vielleicht habe ich ja deshalb beim lieben Gott etwas gut. »Bis ich wiederkomme?«, wiederholte Vater schließlich, und ein Seufzer entrang sich ihm. »Das dürfte wohl nicht so bald sein. Nein … ganz bestimmt nicht.« An der Wand neben dem vergitterten Fenster hing ein Kalender von einem Gemüsehändler aus Hinley, mit König Georg und Königin Elisabeth drauf, jeder in einem eigenen ovalen Rahmen und so gekleidet, als hätte sie der Fotograf zufällig auf dem Weg zum Kostümball im Schloss eines bayerischen Prinzen angetroffen. Vater warf einen flüchtigen Blick auf den Kalender und fing an, ruhelos auf und ab zu gehen, wobei er tunlichst vermied, mich anzusehen. Ja, er schien mich ganz vergessen zu haben und summte nur unregelmäßig vor sich hin, ab und zu unterbrochen von entrüstetem Schniefen, als verteidigte er sich vor einem unsichtbaren Tribunal. »Ich habe soeben gestanden«, verkündete ich. »Ja, ja.« Vater ging weiter summend und brummelnd auf und ab. »Ich habe Inspektor Hewitt gestanden, dass ich Horace Bonepenny umgebracht habe.« Vater blieb so unvermittelt stehen, als wäre er in ein Schwert gelaufen. Er drehte sich um und heftete den gefürchteten starren Blick aus seinen blauen Augen auf mich, dessen er sich im Umgang mit seinen Töchtern oft und gern bediente. »Was weißt du über Horace Bonepenny?«, fragte er in eisigem Ton. »Ehrlich gesagt: so einiges.« Dann sank er auf einmal in sich zusammen, ganz plötzlich, als hätte ihm jemand die Luft abgelassen. Eben hatte er noch die Wangen aufgepustet wie die Darstellungen der Winde auf mittelalterlichen Weltkarten, im nächsten Augenblick war sein Gesicht hager und eingefallen wie das eines Pferdehändlers. Er setzte sich auf den Rand der Pritsche und stützte sich mit einer Hand ab. »Ich habe euren Streit mit angehört«, gestand ich. »Tut mir leid, dass ich an der Tür gelauscht habe. Es war keine Absicht, aber ich habe mitten in der Nacht Stimmen gehört und bin Diesmal drang ich zu Vater durch. »Ihn umgebracht? Was soll das heißen, du hast ihn umgebracht?« »Ich wollte nicht, dass sie rauskriegen, dass du es warst.« »Ich?« Vater sprang auf wie von der Tarantel gestochen. »Gütiger Himmel! Wie kommst du auf die Idee, ich hätte jemanden umgebracht?« »Ist schon gut«, beschwichtigte ich ihn. »Der Bursche hat es bestimmt verdient. Ich erzähl es nicht weiter, versprochen.« Ich legte die rechte Hand aufs Herz und hob die Linke zum Schwur. Vater sah mich so ungläubig an, als wäre ich ein glitschiges Ungeheuer, das einem Gemälde von Hieronymus Bosch entsprungen ist. »Bitte glaub mir, Flavia«, sagte er, »so gern ich es auch getan hätte, aber ich habe Horace Bonepenny nicht umgebracht!« »Ehrlich nicht?« Ich konnte es kaum glauben. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass mein Vater ein Mörder war, da kostete es mich doch beträchtliche Überwindung, mir einzugestehen, dass ich mich geirrt hatte. Immerhin fiel mir ein, wie Feely einmal gesagt hatte, Beichten sei vorteilhaft für das Seelenheil (dabei hatte sie mir den Arm umgedreht und mich zwingen wollen, ihr zu verraten, was ich mit ihrem Tagebuch angestellt hatte). »Ich habe mit angehört, wie ihr beide darüber gesprochen habt, dass ihr euren Hausleiter Mr Twining umgebracht habt. Ich bin in die Bücherei gefahren, habe im Zeitungsarchiv nachgesehen und mich mit Miss Mountjoy unterhalten. Sie ist Mr Twinings Nichte. Sie erinnerte sich noch gut an die GerichtsverhandlungDreizehn Erpel übernachtet hat und dass er aus Norwegen eine tote Zwergschnepfe mitgebracht hat, und zwar in einer Pastete eingebacken.« Vater schüttelte langsam und traurig den Kopf, aber keineswegs aus Bewunderung für meine detektivische Begabung, sondern eher wie ein alter angeschossener Bär, der sich weigert, zu Boden zu gehen. »Das stimmt so weit«, sagte er. »Aber hältst du deinen Vater wirklich für fähig, einen kaltblütigen Mord zu begehen?« Jetzt, da ich einen Moment ernsthaft darüber nachdachte, sah ich ein, wie albern ich mich aufgeführt hatte. Warum war ich nicht längst daraufgekommen? Kaltblütiger Mord gehörte eindeutig zu den Taten, zu denen mein Vater überhaupt nicht fähig war. »Äh … nein«, erwiderte ich kleinlaut. »Sieh mich an, Flavia!«, sagte er, aber als ich aufblickte und Vater in die Augen schaute, sah ich verstörenderweise in meine eigenen blauen Augen und musste wegschauen. »Horace Bonepenny war kein besonders anständiger Mensch, aber den Tod hatte er nicht verdient. Den hat niemand verdient«, sagte Vater, und seine Stimme verebbte wie ein Beitrag auf einem weit entfernten UKW-Sender. Ich spürte, dass seine Worte gar nicht mehr an mich gerichtet waren. »Auf der Welt herrscht auch so schon viel zu viel Mord und Totschlag«, sprach er weiter. Er setzte sich wieder hin, betrachtete seine Hände, strich mit einem Daumen über den anderen, und seine Finger griffen ineinander wie die Zahnräder eines alten Uhrwerks. Nach einer Weile fragte er: »Was ist mit Dogger?« »Der hat euch auch belauscht«, gestand ich. Vater stöhnte leise. »Das habe ich befürchtet«, sagte er tonlos. »Das habe ich mehr befürchtet als alles andere.« Und dann, während der Regen in dichten Schleiern gegen das Fenster peitschte, fing Vater an zu reden.  15 Anfangs kamen Vater die ungewohnten Worte nur langsam und zögerlich über die Lippen, setzten sich so widerspenstig und ruckartig in Bewegung wie rostige Güterwagen. Aber sobald sie eine gewisse Geschwindigkeit erreicht hatten, ratterten sie erstaunlich schnell und gleichmäßig dahin. »Meinen Vater zu mögen war nicht leicht. Als er mich aufs Internat schickte, war ich elf. Danach sahen wir uns nur noch selten. Weißt du, es ist komisch, ich hatte keine Ahnung, ob er irgendwelche Hobbys hatte, bis bei seiner Beerdigung einer der Sargträger beiläufig erzählte, dass seine große Leidenschaft Netsuke gewesen seien. Ich musste es erst im Wörterbuch nachschlagen.« »Das sind solche kleinen japanischen Elfenbeinschnitzereien«, sagte ich. »Die kommen in einer von Austin Freemans Dr. Thorndyke-Geschichten vor.« Vater ging nicht darauf ein und fuhr fort. »Greyminster war zwar nur ein paar Meilen von Buckshaw entfernt, aber damals hätte es ebenso gut auf dem Mond sein können. Dabei hatten wir großes Glück mit dem Direktor unserer Schule. Dr. Kissing war ein liebenswerter Mann, der fest davon überzeugt war, dass ein Junge, der seine tägliche Dosis Latein, Rugby, Kricket und Geschichte einnahm, gegen jegliche Unbill gefeit war, und im Großen und Ganzen wurden wir dort gut behandelt. Wie die meisten anderen meiner Mitschüler blieb ich in der Anfangzeit eher für mich, suchte Zuflucht bei meinen Büchern Nachts im Schlafsaal zog ich mir die Decke über den Kopf und betrachtete im Schein einer Taschenlampe mein Gesicht eingehend in einem geklauten Rasierspiegel. Mir fiel nichts Abstoßendes auf, aber andererseits war ich ein Einzelkind und hatte nur wenig Vergleichsmöglichkeit. Aber wie das so ist, die Zeit verging, und bald nahm mich der Schulbetrieb völlig in Anspruch. In Geschichte war ich gut, aber keine besonders große Leuchte, wenn es um die Bücher des Euklid ging. Da war ich irgendwo in der Mitte: Weder tat ich mich hervor noch stellte ich mich so dumm an, dass es aufgefallen wäre. Ich machte die Erfahrung, dass Mittelmäßigkeit die beste Tarnung war, der beste Schutz überhaupt. Die Jungen, die einigermaßen mitkamen, aber weder im Guten noch im Schlechten irgendwie auffielen, wurden in Ruhe gelassen, entgingen sowohl den Anforderungen der Lehrer, die sie womöglich zu höheren Zielen trimmen wollten, als auch den Gemeinheiten irgendwelcher Mitschüler, die einen Sündenbock suchten. Diese simple Tatsache war die erste große Entdeckung meines Lebens. Ich glaube, ich war in der vierten Klasse in Greyminster, als ich endlich anfing, mich für meine Umgebung zu interessieren, und wie alle Jungen in diesem Alter fühlte ich mich von Verschwörungen angezogen. So kam es, dass ich Feuer und Flamme war, als Mr Twining, der für unser Haus zuständige Lehrer, vorschlug, einen Magischen Zirkel zu gründen. Zugegeben, Mr Twining war eher bemüht als begabt und In den Abendstunden brachte er uns bei, wie man mithilfe eines Taschentuchs und eines Stücks Löschpapier Wein in Wasser verwandelte, wie man einen gekennzeichneten Shilling in einem zugedeckten Wasserglas verschwinden ließ und aus Simpkins’ Ohr wieder hervorzauberte. Er lehrte uns das typische Gebrabbel, mit dem ein Zauberer sein Tun begleiten muss, und drillte uns so lange, bis wir aufsehenerregende Kartentricks beherrschten, bei denen trotz allem Mischen das Herz-As immer ganz unten im Stapel blieb. Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, dass Mr Twining ein beliebter Lehrer war. Vielleicht wäre ›geliebter Lehrer‹ sogar der treffendere Ausdruck, obwohl nur wenige von uns damals schon ausreichend Erfahrung mit dieser Gefühlsregung gesammelt hatten, um sie als solche zu erkennen. Seine größte Anerkennung wurde ihm zuteil, als ihn Rektor Kissing bat, eine Zaubervorstellung für den Elterntag zu organisieren. Sofort widmete er sich mit Feuereifer der Vorbereitung eines mitreißenden Programms. Weil ich mich bei einer Illusionsnummer mit dem Titel Die Auferstehung des Tschang Fu recht geschickt angestellt hatte, war Mr Twining sehr daran gelegen, dass ich diese Nummer beim großen Finale vorführte. Die Nummer erforderte zwei Mitwirkende, weshalb er mir erlaubte, meinen Assistenten selbst zu bestimmen. So lernte ich Horace Bonepenny kennen. Horace war von St. Cuthbert auf unsere Schule gewechselt, nachdem es dort irgendwelche Scherereien wegen verschwundenen Geldes gegeben hatte. Ich glaube, es hat sich nur um ein paar Pfund gehandelt, was uns damals jedoch wie ein kleines Vermögen erschien. Ich gebe zu, dass er mir leid tat. Ich hatte »Aber nein, bestimmt nicht.« Ich rückte meinen Stuhl näher heran. »Erzähl weiter.« »Horace war schon damals ungewöhnlich groß und hatte feuerrotes Haar. Seine Arme waren so lang, dass die Handgelenke wie dürre Äste aus seiner Schuluniformjacke ragten. ›Bony‹ nannten ihn die anderen Jungen und verspotteten ihn erbarmungslos wegen seines Aussehens. Auch seine Finger waren ungewöhnlich lang, mager und weiß, wie die Fangarme eines Albino-Tintenfischs, was die Sache nicht besser machte; obendrein besaß er den blassen Teint, den man manchmal bei Rothaarigen sieht. Natürlich kokettierte er ein wenig damit, indem er mit gespielter Unbeholfenheit nach seinen Peinigern schlug, die jeweils gerade außerhalb seiner Reichweite um ihn herumtänzelten. Eines Abends, nach einer Schnitzeljagd, ruhte er sich keuchend wie ein gehetzter Fuchs an einem Zauntritt aus. Da schlich sich ein kleiner Junge namens Potts von hinten an ihn heran und verpasste ihm eine schmerzhafte Backpfeife. Der Kleine wollte eigentlich gar nicht so fest zuschlagen, eher so, als ob man beim Fangenspielen jemanden abschlägt, aber ihm war die Hand ausgerutscht. Als die anderen sahen, dass der fürchterliche Bonepenny benommen und mit blutender Nase dastand, wagten sie sich ebenfalls heran, und bald lag Bony am Boden, wurde geknufft, getreten und brutal verprügelt. In dem Moment kam ich des Wegs. ›Aufhören!‹, brüllte ich, und zu meiner Verwunderung gehorchten sie sofort und lösten sich einer nach dem anderen aus dem Knäuel von Armen und Beinen. Es muss an meinem Ton ›Alles in Ordnung?‹, erkundigte ich mich bei Bony und half ihm auf. ›Ich bin ziemlich weichgeklopft, aber nur an ein, zwei Stellen - ungefähr so wie der Rinderbraten von Carnforth‹, antwortete er, und wir mussten beide lachen. Carnforth war der berüchtigte Metzger in Hinley, dessen Familie Greyminster schon seit den Napoleonischen Kriegen mit Sonntagsbraten zäh wie Stiefelleder versorgte. Ich merkte, dass Bony übler zugerichtet war, als er zugeben wollte, aber er setzte eine grimmige Miene auf. Ich bot ihm meine Schulter als Stütze an und half ihm, nach Greyminster zurückzuhumpeln. Seit jenem Vorfall wich mir Bony nicht mehr von der Seite. Er eignete sich meine Hobbys an und schien dadurch beinahe ein anderer Mensch zu werden. Manchmal kam es mir vor, als wollte er sich richtiggehend in mich verwandeln, als stünde jener Teil meiner selbst vor mir, den ich in meinen mitternächtlichen Spiegelstudien gesucht hatte. Ich weiß aber auch, dass wir beide nie in besserer Form waren, als wenn wir etwas gemeinsam machten. Was dem einen nicht gelang, schaffte der andere mit Leichtigkeit. Bony schien schon als mathematische Hochbegabung auf die Welt gekommen zu sein und offenbarte mir alsbald die Geheimnisse der Geometrie und Trigonometrie. Er machte ein Spiel daraus, und wir verbrachten so manche vergnügte Stunde damit, auszurechnen, auf wessen Arbeitszimmer der Glockenturm von Anson House stürzen würde, wenn wir ihn mit einer gigantischen, selbst entworfenen dampfgetriebenen Brechstange umkippen würden. Ein andermal stellten wir eine Dreiecksmessung an, Wespen, Hornissen, Bienen und Maden? War das wirklich Vater, der da sprach? Ich stellte fest, dass ich ihm mit ganz neuer Achtung lauschte. »Wie wir das zustande bringen wollten«, fuhr er fort, »wurde nie richtig zu Ende gedacht. Doch schließlich stellte sich heraus, dass Bony, während ich mich mit Euklid und seinen mathematischen Theoremen anfreundete, nach ein wenig Anleitung zu einem begabten Zauberer wurde. Das lag natürlich an seinen Fingern. Diese langen weißen Fortsätze schienen ein Eigenleben zu führen, und es dauerte nicht lang, da beherrschte Bony sämtliche Taschenspielertricks. Die unterschiedlichsten Gegenstände verschwanden zwischen seinen Fingern und tauchten dort wieder auf, und zwar dermaßen elegant und flüssig, dass sogar ich, der ich die Tricks ja kannte, kaum meinen Augen traute. Im selben Maße, wie sich seine Zauberkünste vervollkommneten, wuchs auch seine Selbstachtung. Durch das bisschen Zauberei wurde er ein ganz neuer Bony: selbstbewusst, gewandt und vielleicht sogar ein wenig draufgängerisch. Auch seine Stimme veränderte sich. Hatte er gestern noch wie ein heiserer Schuljunge geklungen, schien er auf einmal und urplötzlich zumindest bei seinen Auftritten über einen Kehlkopf aus poliertem Mahagoni zu verfügen. Seine hypnotisierende, professionelle Stimme wusste seine Zuhörer zuverlässig zu überzeugen. Die Auferstehung des Tschang Fu ging so: Ich hüllte mich in einen zu großen Seidenkimono, den ich auf dem Kirchenbasar erstanden hatte, ein prächtiges, blutrotes, mit chinesischen Für den Trick holte ich mir einen Freiwilligen aus dem Publikum, natürlich einen Eingeweihten, mit dem ich das Ganze vorher geübt hatte. Als er neben mir auf der Bühne stand, erklärte ich ihm in ulkigem Mandarin-Singsang, dass ich ihn nunmehr vom Leben zum Tode befördern und ins Land seiner ehrenwerten Vorfahren schicken würde. Bei dieser sachlichen Ankündigung rang das Publikum unweigerlich erschrocken nach Luft, und noch ehe sich alle wieder von dem Schrecken erholt hatten, zog ich eine Pistole aus den Falten meines Gewandes, richtete sie auf das Herz meines Mitspielers und drückte ab. So eine Startpistole macht einen Heidenlärm, wenn man sie in einem geschlossenen Raum abfeuert, und mein Exemplar ging mit einem beeindruckenden Knall los. Mein Assistent hielt sich die Brust und zerdrückte dabei ein verborgenes Papiertütchen mit Ketchup. Das rote Zeug quoll zwischen seinen Fingern hervor. Er schaute auf die Sauerei auf seiner Brust, und ihm fiel die Kinnlade runter. ›Hilfe, Schnäppi!‹, kreischte er. ›Der Trick ist schiefgegangen! Du hast mich erschossen!‹, und fiel rücklings um. Wenn diese Stelle kam, saß das Publikum immer erschüttert und gespannt auf den Sitzbänken. Manche sprangen auf, andere weinten. Ich beschwichtigte sie mit erhobener Hand. ›Luhe!‹, fauchte ich und machte ein wütendes Gesicht. ›Ehlenwelte Volfahlen foldeln Luhe!‹ Hier und da ertönte vielleicht ein unsicheres Auflachen, aber Dieses Laken war ein kunstfertig präpariertes Requisit, das ich in größter Heimlichkeit angefertigt hatte. Es besaß zwei schmale Taschen, die es der Länge nach in Drittel teilten. In die Taschen waren zwei kurze, dünne Holzstangen eingenäht. Wenn das Laken zusammengelegt war, sah man nichts. Ich ging in die Hocke, benutzte meinen Kimono als Sichtschutz, zog meinem Assistenten die Schuhe aus (was ganz leicht ging, da er schon die Schnürsenkel gelockert hatte, ehe ich ihn auf die Bühne rief) und steckte sie mit der Spitze nach oben auf die Holzstange. Auch die Schuhe waren präpariert, indem ich jeweils ein Loch in die Ferse gebohrt hatte, in die ein Nagel geschoben und in die Holzstange gesteckt werden konnte. Das Ergebnis war ausgesprochen überzeugend. Eine Leiche lag mit einer klaffenden Wunde in der Brust auf dem Boden, am einen Ende schaute der Kopf aus dem Laken heraus, am anderen die nach oben zeigenden Schuhe. Wenn alles nach Plan verlief, zeigte sich unterdessen auf dem Laken über der Brust der ›Leiche‹ ein großer roter Fleck, wenn nicht, half ich mit einem zweiten Ketchuptütchen nach, das in meinen Ärmel eingenäht war. Jetzt kam der entscheidende Teil. Ich bat darum, dass die Scheinwerfer abgeblendet wurden (›Ehlenwelte Volfahlen wünschen stockfinstele Dunkelheit!‹) und entzündete im Dunkeln mit Magnesiumpapier ein paar Blitze. Das führte dazu, dass das Publikum einen Augenblick lang geblendet war, gerade lange genug, dass mein Assistent sich unter dem Laken aufrichten und hinhocken konnte. Seine Schuhe ragten weiterhin unter dem Laken hervor, wodurch es aussah, als läge er unverändert auf dem Rücken. Nun verfiel ich in orientalischen Hokuspokus, fuchtelte mit den Armen und rief ihn aus dem Land der Toten zurück. Während ich irgendwelche erfundenen Beschwörungsformeln vor mich hin plapperte, richtete sich mein Assistent ganz langsam aus der Hocke auf, bis er ganz gerade dastand, die eingenähten Holzstangen auf den Schultern, und seine Schuhe ragten am anderen Ende des Tuches heraus. Was das Publikum sah, war natürlich ein zugedeckter Leichnam, der sich mir nichts, dir nichts in die Luft erhob und anderthalb Meter über dem Boden schwebte. Anschließend bat ich die ehrenwerten Vorfahren, ihren Verwandten wieder ins Land der Lebenden zu entlassen. Dabei vollführte ich lauter geheimnisvolle Gebärden, entzündete zu guter Letzt noch einen Magnesiumblitz. Mein Assistent warf das Laken ab, machte einen Luftsprung und landete auf beiden Füßen. Das Tuch mit den festgenagelten Schuhen und den eingenähten Stangen fiel unbeachtet zu Boden, und wir brauchten uns nur noch zu verbeugen und den stürmischen Applaus entgegenzunehmen. Da wir schwarze Strümpfe anhatten, schien niemandem je aufzufallen, dass der ›Tote‹ keine Schuhe mehr trug. So funktionierte Die Auferstehung des Tschang Fu, und so hatte ich die Nummer für den Elterntag geplant. Bony und ich verdrückten uns ins Waschhaus, wo ich ihm die Feinheiten des Tricks beibrachte. Es stellte sich jedoch rasch heraus, dass Bony nicht der ideale Assistent war. Er gab sich große Mühe, aber er war einfach zu groß. Sein Kopf und seine Füße schauten viel zu weit unter dem präparierten Laken hervor, und es war zu spät, um ein anderes Tuch zu nähen. Außerdem war es leider so, dass Bony zwar unglaublich fingerfertig war, sonst aber noch derselbe, ungelenke, unbeholfene Schuljunge wie eh und je. Seine Storchenknie zitterten, wenn er schweben sollte, und bei einer Ich war ratlos. Wenn ich mir einen anderen Assistenten gesucht hätte, wäre Bony bestimmt am Boden zerstört gewesen, andererseits machte ich mir keine Hoffnungen, dass er seine Rolle in den verbliebenen paar Tagen noch meistern würde. Ich war der Verzweiflung nahe. Da kam Bony selbst auf die Lösung. ›Warum tauschen wir nicht einfach die Rollen?‹, schlug er nach einem besonders peinlichen Absturz unserer Requisiten vor. ›Lass es mich doch mal probieren! Ich zieh die Zaubererkutte über, und du bist der Schwebende.‹ Zugegeben, der Effekt war genial. Mit seinem gelb geschminkten Gesicht und den langen dünnen Händen, die aus den roten Kimonoärmeln ragten (und die mithilfe von fünf Zentimeter langen Wurstpellennägeln noch gruseliger wirkten), bot Bony auf der Bühne einen unvergesslichen Anblick. Und da er ein geborener Imitator war, hatte er keine Schwierigkeiten, die brüchige Fistelstimme eines alten Chinesen nachzuahmen. Sein orientalisches Gebrabbel war eher noch überzeugender als meines, und seine langen dürren Finger, die wie Stabheuschrecken umherzappelten, waren einmalig. Der ganze Auftritt war genial. Vor der versammelten Schule und den zu Besuch gekommenen Eltern legte Bony eine Nummer hin, die kein Zuschauer je vergessen haben wird. Er war abwechselnd exotisch und finster, und als er mich aus dem Publikum holte, gruselte sogar ich mich vor der unheimlichen Gestalt, die im Rampenlicht stand und mich auf die Bühne winkte. Als er dann die Pistole abfeuerte und mir in die Brust schoss, brach ein wahres Inferno los! Ich hatte meinen Ketchupvorrat vorsorglich mit Wasser verdünnt und ein wenig angewärmt, worauf der Blutfleck grässlich echt wirkte. Der Vater von Giddings Minor musste von Mr Twining, der ›Beruhigen Sie sich, guter Mann‹, raunte ihm Twining zu, ›das ist nur ein Trick. Die Jungen haben ihn schon oft vorge führt.‹ < Mr Giddings wurde widerstrebend und mit hochrotem Kopf wieder auf seinen Platz geführt. Trotzdem war er nach der Vorstellung Manns genug, zu uns zu kommen und uns anerkennend die Hände zu schütteln. Nach einem derartig grausigen Blutbad war meine Schwebenummer bei der Wiederauferstehung schon fast eine Enttäuschung, auch wenn uns das wohlwollende Publikum, das erleichtert war, dass der unglückliche Freiwillige wieder ins Leben zurückkehrte, mit schier nicht enden wollendem Applaus belohnte. Wir bekamen sieben Vorhänge, auch wenn ganz klar war, dass mindestens sechs davon meinem genialen Partner gebührten. Bony sog die Huldigungen auf wie ein Schwamm. Noch eine Stunde nach der Vorstellung war er mit Händeschütteln beschäftigt, eine wahre Sturmflut bewundernder Mütter und Väter, die ihn nur mal anfassen wollten, umringte ihn, wildfremde Menschen klopften ihm anerkennend auf die Schulter. Als aber auch ich ihm den Arm um die Schultern legte, sah er mich nur mit einem entrückten Ausdruck an, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen. In den folgenden Tagen fiel mir auf, dass mit ihm eine Veränderung vorgegangen war. Nun war Bony der selbstsichere Zauberer und ich nur noch sein unbedeutender Assistent. Auf einmal redete er ganz anders mit mir und gewöhnte sich eine ziemlich lässige Art an, als hätte es seine frühere Schüchternheit nie gegeben. Ich kann wohl guten Gewissens behaupten, dass er mich fallen ließ, jedenfalls wirkte es so. Ich sah ihn oft mit einem Eines Tages merkte ich erschrocken, dass ich ihn eigentlich nicht mehr leiden konnte. Er war nicht mehr derselbe, oder vielleicht war erst jetzt seine wahre Natur zutage getreten, ich wusste es nicht. Manchmal ertappte ich ihn im Unterricht dabei, wie er mich anstarrte. Anfangs mit dem Blick eines alten Mandarins, dann wurde sein Blick sonderbar kalt, reptilienhaft. Ich hatte das Gefühl, als sei mir auf irgendeine unbekannte Weise etwas gestohlen worden. Aber es sollte noch schlimmer kommen.« Vater verstummte und ich wartete darauf, dass er weitererzählte, aber er saß einfach nur da und blickte mit ausdrucksloser Miene in den Regen hinaus. Ich hielt es für das Beste, mich still zu verhalten und ihn seinen Gedanken zu überlassen, worum auch immer sie sich drehen mochten. Aber ich spürte, dass sich in unserem Verhältnis etwas verändert hatte, genau wie es Vater mit Horace Bonepenny ergangen war. Da saßen wir nun, Vater und ich, in einem kleinen Zimmer eingesperrt, und zum ersten Mal überhaupt führten wir so etwas Ähnliches wie eine richtige Unterhaltung. Wir sprachen beinahe wie zwei Erwachsene miteinander, beinahe wie ein menschliches Wesen mit einem anderen, beinahe wie Vater und Tochter. Und obwohl mir nichts einfiel, was ich hätte sagen können, wünschte ich mir, dass es immer so weitergehen sollte, bis der letzte Stern erloschen war. Ich hätte Vater gern umarmt, aber ich brachte es nicht über Darum saßen Vater und ich steif nebeneinander wie zwei alte Damen beim Kirchenkaffeekränzchen. Ideal war das nicht, aber wir mussten uns damit begnügen.  16 Ein Blitz sog alle Farbe aus dem Zimmer, fast gleichzeitig ertönte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Wir zuckten beide zusammen. »Das Gewitter ist direkt über uns«, sagte Vater. Ich nickte, um ihm zu versichern, dass wir da beide gemeinsam drinsteckten, und sah mich um. Der hell erleuchtete, würfelförmige kleine Raum mit der nackten Glühbirne an der Decke, der Pritsche und der Stahltür mit dem vor dem Fenster niederrauschenden Regen erinnerte mich an die Kommandozentrale des U-Boots in dem Film Tauchfahrt bei Tagesanbruch. Bei jedem Donnerschlag stellte ich mir vor, dass über unseren Köpfen ein Torpedo detonierte, und auf einmal hatte ich nicht mehr solche Angst um Vater. Zumindest waren wir beide jetzt Verbündete. Ich tat einfach so, als könne uns nichts Schlimmes widerfahren, solange ich still zuhörte und wir uns unauffällig verhielten. Vater erzählte weiter, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. »Wir entfremdeten uns sehr, Bony und ich. Zwar nahmen wir beide weiterhin an Mr Twinings Magischem Zirkel teil, aber sonst ging jeder von uns seinen eigenen Interessen nach. Ich entwickelte ein Faible für spektakuläre Bühnentricks: zersägte Jungfrauen, zauberte Vogelkäfige weg und so weiter. Natürlich lagen die meisten dieser Nummern jenseits meiner Schuljungenmöglichkeiten, aber irgendwann genügte es mir auch, darüber etwas nachzulesen und mir die Abläufe einzuprägen. Bony hingegen widmete sich Tricks, die immer größere Fingerfertigkeit erforderten, simple Effekte, die man mit einem geringen Aufwand an Requisiten vor der Nase der Zuschauer ausführen konnte. Er konnte einen vernickelten Wecker aus einer Hand verschwinden und in der anderen wieder auftauchen lassen. Und er hat mir nie gezeigt, wie er das machte. Ungefähr zur selben Zeit kam Mr Twining auf den Gedanken, einen Club der Philatelisten zu gründen, denn Briefmarkensammeln gehörte ebenfalls zu seinen Leidenschaften. Er war der Ansicht, dass wir durch das Sammeln, Ordnen und Einsortieren der Marken aus aller Welt ins Album einiges über Geschichte und Erdkunde sowie auch Sorgfalt lernen konnten, ganz zu schweigen davon, dass auch die verschlosseneren Mitglieder des Clubs durch die regelmäßigen Gruppengespräche an Selbstvertrauen gewinnen würden. Da er selbst ein begeisterter Sammler war, ging er davon aus, dass seine Jungen diese Begeisterung mit ihm teilen würden. Seine eigene Sammlung, so kam es mir jedenfalls vor, war das achte Weltwunder. Er hatte sich auf britische Marken spezialisiert, mit Schwerpunkt auf Farbvarianten bei der Druckfarbe. Er besaß die untrügliche Fähigkeit, allein anhand der Färbung zu bestimmen, an welchem Tag, ja, um welche Stunde dieses oder jenes Exemplar gedruckt worden war. Indem er die von Marke zu Marke verschiedenen, mikroskopisch kleinen Risse und Abweichungen verglich, die von den Gebrauchsspuren der Druckplatten und der Ausführung des Druckvorgangs herrührten, konnte er erstaunlich viele Aussagen über das jeweilige Stück treffen. Die einzelnen Seiten seiner Alben waren meisterlich gestaltet. Diese Farben! Und die Art und Weise, wie sie über die Seite verteilt waren - wie ein impressionistisches Gemälde von William Turner. Zuerst kamen natürlich die schwarzen Marken von 1840. Noch nie hatte ich Vater so lebhaft gesehen. Mit einem Mal war er wieder ein Schuljunge, seine strengen Züge waren wie verwandelt, sein Gesicht leuchtete wie ein blankpolierter Apfel. Vater fuhr fort: »Trotz allem besaß Mr Twining nicht die wertvollste Briefmarkensammlung in Greyminster. Diese Ehre gebührte Dr. Kissing, dessen Sammlung, obwohl nicht besonders umfangreich, äußerst erlesen, wenn nicht gar unschätzbar wertvoll war. Dr. Kissing kam mitnichten, wie man es vielleicht vom Rektor einer unseren großen Public Schools erwarten würde, aus einer wohlhabenden oder zumindest privilegierten Familie. Von Geburt an Waise, war er bei seinem Großvater aufgewachsen, einem Arbeiter in einer Glockengießerei im Londoner East End, das damals eher für seine bedrückenden Lebensbedingungen als für seinen Wohlstand bekannt war, und eher für seine Verbrechensrate als für seine Bildungsmöglichkeiten. Im Alter von achtundvierzig Jahren hatte der Großvater bei einem schlimmen Unfall mit flüssigem Metall den rechten Arm verloren. Da er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich seinen Lebensunterhalt als Bettler auf der Straße zu verdienen, eine Zwangslage, in der er es fast drei Jahre aushielt. Fünf Jahre zuvor, im Jahre 1840, war der Londoner Firma Messrs. Perkins, Bacon & Petch vom Schatzamt Ihrer Majestät das Exklusivrecht auf den Druck der britischen Briefmarken zugesprochen worden. ›Dieser gewaltige Ausstoß an Königinnenköpfen‹, wie es Charles Dickens genannt hatte. Das Geschäft florierte. Allein in den ersten zwölf Jahren wurden über zwei Millionen Briefmarken gedruckt, von denen die meisten in den Papierkörben dieser Welt landeten. Die Druckerei der Firma war in der Fleet Street angesiedelt, und dort fand Dr. Kissings Großvater glücklicherweise eine neue Anstellung als Ausfeger. Er brachte sich bei, wie man einen Besen mit einer Hand wirkungsvoller führt als die meisten Leute mit zweien, und da er großen Wert auf Höflichkeit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit legte, war er schon bald einer der geschätztesten Angestellten der Firma. Dr. Kissing hat mir einmal sogar erzählt, dass der Hauptteilhaber, der alte Joshua Butters Bacon persönlich, seinen Großvater aus Respekt vor seiner früheren Tätigkeit den ›Glöckner‹ zu nennen pflegte. Als Dr. Kissing noch klein war, brachte sein Großvater oft ausrangierte Fehldrucke mit nach Hause. Dieses ›Buntpapier‹, wie er es nannte, war oft sein einziges Spielzeug. Er konnte die bunten Papierchen stundenlang immer wieder von Neuem ordnen, nach Farbabweichungen und anderen Unterschieden, die das ungeübte Auge gar nicht wahrgenommen hätte. Sein schönstes Geschenk, erzählte er, sei eine Lupe gewesen, die sein Großvater bei einem Straßenhändler erworben hatte, nachdem er den Ehering seiner eigenen Mutter für einen Shilling im Pfandhaus versetzt hatte. Jeden Tag auf dem Weg zur Schule und wieder nach Hause fragte der Junge bei möglichst vielen Läden und Büros nach, ob er weggeworfene abgestempelte Umschläge haben und im Gegenzug den Bürgersteig fegen dürfe. Nach und nach entwickelte sich aus dem ›Buntpapier‹ der Grundstock einer Sammlung, die einen König hätte neidisch machen können, und noch als er längst zum Rektor von Greyminster aufgestiegen war, hütete er die kleine Lupe von seinem Großvater wie einen Schatz. ›Die einfachsten Geschenke sind die schönsten‹, sagte er uns immer. Der junge Kissing baute auf die in seiner schweren Kindheit erworbene Zähigkeit und hangelte sich von einem Stipendium zum anderen, bis der Tag kam, an dem der alte ›Glöckner‹ mit feuchten Augen miterleben durfte, wie sein Enkel seinen Abschluss in Oxford mit Auszeichnung bestand. Nun gibt es natürlich jede Menge Sammler, die wider besseres Wissen davon überzeugt sind, dass die wertvollsten Briefmarken die fehlerhaften, beschädigten Exemplare sind, die bei jedem Druckvorgang unweigerlich als Abfallprodukte entstehen, aber das ist ein Trugschluss. Welche Summen diese Scheußlichkeiten auch erzielen mögen, wenn sie auf welchen Wegen auch immer auf den Markt kommen, für den wahren Sammler sind sie wertlos. Nein, die eigentlichen Raritäten sind solche Marken, die offiziell oder anderswie auch in Umlauf gebracht werden, aber nur in sehr begrenzten Stückzahlen. Manchmal werden etliche tausend Marken ausgegeben, ehe ein Fehler auffällt, manchmal sind es nur ein paar hundert, wenn es nur einem einzelnen Bogen gelingt, das Schatzamt zu verlassen. Aber in der ganzen Geschichte des Britischen Postministeriums ist es nur ein einziges Mal vorgekommen, dass sich ein Bogen so drastisch von seinen Millionen Artgenossen unterschied. Und das kam so: Im Juni 1840 hatte ein geisteskranker Kellner namens Edward Oxford zwei Pistolen aus nächster Nähe auf Königin Viktoria und Prinz Albert abgefeuert, als sie in einer offenen Kutsche vorbeifuhren. Gnädigerweise verfehlten die Schüsse ihr Ziel, und die Königin, die damals im vierten Monat schwanger war, blieb unversehrt. Das fehlgeschlagene Attentat wurde von manchen als Verschwörung der Chartisten interpretiert, andere hielten es für das finstere Treiben des Oranier-Ordens, der danach trachtete, den Herzog von Cumberland auf den englischen Thron zu setzen. An letzterer Theorie war mehr dran, als die Regierung Im Herbst 1840 wurde ein Druckerlehrling namens Jacob Tingle in der Firma Perkins, Bacon & Petch eingestellt. Überaus ehrgeizig, kletterte er die Karriereleiter in beträchtlichem Tempo empor. Seine Arbeitgeber wussten allerdings nicht, dass Jacob T ingle eine Figur in einem bitterernsten Spiel war, einem Spiel, das nur seine im Verborgenen agierenden Drahtzieher in vollem Umfang überblickten.« Wenn mich etwas an der Geschichte überraschte, dann die Art und Weise, wie anschaulich Vater erzählte. Ich sah die Gentlemen mit ihren hohen, gestärkten Krägen und ihren Zylinderhüten, die Damen mit ihren Reifröcken und Hauben förmlich vor mir. Und so, wie die Gestalten in seiner Geschichte zum Leben erwachten, erging es auch Vater selbst. »Jacob Tingles Auftrag war streng geheim. Er sollte, wie auch immer, einen Bogen, einen einzigen Bogen Penny-Black-Marken drucken und dabei eine leuchtend orangefarbene Druckfarbe benutzen, die man ihm eigens zu diesem Zweck ausgehändigt hatte. Das Farbglas hatte ihm, zusammen mit einem Vorschuss auf seinen Lohn für die Ausführung der Tat, ein Mann mit Schlapphut in einer Kneipe gleich neben dem Friedhof von St. Paul’s übergeben. Der Mann hatte in einer dunklen Ecke der Kneipe gesessen und nur heiser geflüstert. Sobald er den Bogen heimlich gedruckt hatte, sollte Tingle ihn zwischen den ganz gewöhnlichen Bögen mit Penny Blacks verstecken, die darauf warteten, auf die Postämter in ganz Früher oder später würde irgendwo in England ein Bogen mit orangefarbenen Briefmarken auftauchen, und wer Augen hatte, zu sehen, würde die Botschaft verstehen. ›Wir sind mitten unter euch‹, würden diese Marken verkünden. ›Wir bewegen uns ungehindert und ungesehen in eurer Mitte.‹ Das ahnungslose Postamt hätte keine Möglichkeit, die aufrührerischen Marken zurückzurufen, und sobald sie erst in Umlauf gekommen waren, würde sich die Kunde von diesem Handstreich wie ein Lauffeuer verbreiten. Nicht einmal die Behörden Ihrer Majestät würden den Vorfall mehr unter den Tisch kehren können. Die höchsten Regierungsebenen wären in Angst und Schrecken versetzt worden. Nun war ein Geheimagent in die Reihen der Verschwörer eingeschleust worden, und obwohl seine Nachricht letztendlich zu spät kam, konnte er doch immerhin mitteilen, dass das Auftauchen der orangefarbenen Marken den Verschwörern als Startsignal zu einer neuen Welle von Attentaten auf die Mitglieder des Königshauses dienen sollte. Es war ein raffinierter Plan. Falls er nicht wie gewünscht klappte, würden die Verbrecher einfach eine Weile abwarten und es noch einmal versuchen. Aber dazu bestand kein Anlass: Das Ganze lief ab wie ein Uhrwerk. Am Tag, nachdem sich Jacob mit dem Fremden in der Kneipe getroffen hatte, brach in einer Gasse gleich hinter Perkins, Bacon & Petch ein verdächtiger Großbrand aus. Als die Drucker und das Büropersonal schaulustig ins Freie liefen, zog Jacob die orangefarbene Paste aus der Tasche, färbte die Platte mit einer Ersatzwalze ein, die er hinter den Chemikalienflaschen im Regal versteckt hatte, legte einen befeuchteten Bogen des mit Wasserzeichen versehenen Papiers darauf und druckte den Bogen. Es war fast zu einfach. Ehe die anderen Arbeiter auf ihre Posten zurückkehrten, Aber dann streute das Schicksal, wie so oft, Sand ins gut geschmierte Getriebe. Was die Verschwörer nicht hatten ahnen können, war, dass der Schlapphütige noch in derselben Nacht im Regen von einem durchgehenden Droschkengaul in der Fleet Street totgetrampelt werden würde und dass er sterbend zu seinem Kinderglauben zurückkehrte und den ganzen Plan - samt Jacob Tingle und allem Drum und Dran einem Bobby in einer Regenpelerine beichtete, weil er ihn für einen katholischen Geistlichen im Talar hielt. Zu jenem Zeitpunkt hatte Jacob sein schmutziges Werk jedoch bereits vollbracht, und die Bögen mit den orangefarbenen Briefmarken waren längst per Nachtpost in irgendeine unbekannte Ecke Englands unterwegs. Langweile ich dich, Harriet?« Harriet? Hatte mich Vater eben »Harriet« genannt? Es kommt vor, dass Väter mit mehreren Töchtern, wenn sie ihre Jüngste rufen, zuerst die Namen der anderen Töchter der Reihe nach aufzählen, und ich hatte mich längst daran gewöhnt, »Ophelia-Daphne-Flavia, verflixt noch mal« genannt zu werden. Aber Harriet? Das war noch nie passiert! Hatte sich Vater bloß versprochen, oder glaubte er tatsächlich, dass er seine Geschichte gerade Harriet erzählte? Ich hätte ihn am liebsten geschüttelt, ihn in den Arm genommen; am liebsten wäre ich tot gewesen. Dabei war mir bewusst, dass der Klang meiner Stimme den Draußen riss der Wind an den Efeuranken, die das Fenster einrahmten. Es goss immer noch wie aus Kübeln. »Ein gewaltiger Aufschrei ging durch das Land«, fuhr Vater endlich fort, und ich atmete auf. »Jeder Postamtsvorsteher im ganzen Königreich erhielt ein Telegramm. Wo immer die orangefarbenen Marken auftauchten, sie sollten sofort weggeschlossen und die Behörden unverzüglich verständigt werden. Da die Großstädte die umfangreichsten Lieferungen der Penny Blacks erhielten, nahm man an, dass die brisanten Marken höchstwahrscheinlich in London, Manchester oder allenfalls Sheffield oder Bristol auftauchen würden. Dem war jedoch nicht so. Im äußersten Zipfel von Cornwall liegt das Dorf St. Mary-in-the-Marsh. Dort war noch nie irgendetwas Aufsehenerregendes vorgefallen, und kein Mensch ging davon aus, dass sich daran irgendwann etwas ändern könnte. Der Postamtsvorsteher von St. Mary-in-the-Marsh war ein gewisser Melville Brown, ein älterer Herr, der das Rentenalter bereits überschritten hatte, sich aber noch ein bisschen Geld dazuverdienen wollte, das ihn, wie er jedem, der es hören wollte, erzählte, ›schmerzlos zum Friedhof hinübergeleiten‹ sollte. Da St. Mary-in-the-Marsh in vielerlei Hinsicht abseits des Weltgeschehens lag, erreichte das Telegramm der Regierung den Postamtsvorsteher Brown überhaupt nicht, weshalb er ein paar Tage später, als er eine kleine Sendung von Penny Blacks auspackte und die Stückzahl überprüfte (fehlende Bögen mussten sofort gemeldet werden, und Mr Brown war stets überaus korrekt), die überall gesuchten Briefmarken buchstäblich vor der Nase hatte. Natürlich fiel ihm der orangefarbene Druck sofort auf. Da stimmte doch etwas ganz und gar nicht! Obendrein war der Sendung nicht die übliche amtliche ›Mitteilung an den Postamtsvorsteher‹ beigefügt, die einen Hinweis auf den neuen Farbton der Penny-Marke hätte enthalten müssen. Nein, diese Sendung war von allergrößter Bedeutung, auch wenn Mr Brown nicht ahnte, in welcher Hinsicht. Einen Augenblick lang - aber nur einen ganz flüchtigen - kam ihm in den Sinn, dass die sonderbar kolorierten Marken wertvoller sein könnten als ihr aufgedruckter Wert. Die gummierte Briefmarke war noch nicht einmal ein halbes Jahr in Gebrauch, da hatten schon gewisse Leute, höchstwahrscheinlich in London, wie er vermutete, nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen gewusst, als solche Marken zu sammeln und in kleine Alben zu stecken. Da konnte ein Einzelstück, was die Farbe betraf, oder eine Marke mit spiegelverkehrter Kontrollnummer gut und gerne ein Pfund oder sogar zwei einbringen, und ein ganzer Bogen gar, nun ja … Aber Melville Brown gehörte zu jenen Menschen, die so selten zu sein scheinen wie Erzengel, nämlich zu den ehrlichen. Darum setzte er sofort ein Telegramm ans Schatzamt auf, und noch ehe eine Stunde um war, machte sich ein Kurier des Ministeriums vom Bahnhof Paddington aus auf den Weg, um die Marken abzuholen und wieder nach London zu bringen. Die Regierung hatte vor, den schändlichen Bogen feierlich, aber unverzüglich zu vernichten. Joshua Butters Bacon schlug vor, die Marken im Archiv der Druckerei aufzubewahren oder vielleicht sogar im British Museum, wo sie künftigen Generationen als Anschauungsmaterial dienen könnten. Königin Viktoria jedoch, die, wie die Amerikaner sagten, ein gieriger kleiner Raffzahn war, hatte diesbezüglich ihre eigenen Vorstellungen. Sie bat darum, man möge ihr doch eine Marke überlassen, und zwar als Erinnerung an den Tag, an dem sie Wer wollte der Königin widersprechen? Der Premierminister, Viscount Melbourne (dessen Name einst in romantische Verbindung mit dem Ihrer Majestät gebracht worden war), hatte inzwischen, da britische Truppen kurz davor waren, Beirut einzunehmen, wahrhaftig anderes im Kopf. Und damit wurde die Angelegenheit ad acta gelegt. So kam es, dass der einzige je gedruckte Bogen orangefarbener Penny-Marken in einer Menage auf dem Schreibtisch des Generaldirektors von Perkins, Bacon & Petch den Feuertod starb. Aber ehe Joshua Butters Bacon das Streichholz anriss, schnitt er sorgfältig wie ein Chirurg zwei Marken von den äußersten Ecken ab (die Perforation wurde erst ein paar Jahre später eingeführt), und zwar eine Marke für Königin Viktoria mit der Kennzeichnung ›A A‹ und, in aller Heimlichkeit, eine zweite mit der Kennung ›T L‹, von der gegenüberliegenden Ecke - für sich selbst. Das waren die beiden Marken, die Sammlern eines Tages als Die Rächer von Ulster bekannt sein sollten, auch wenn ihr Vorhandensein viele Jahre lang, ehe sie diesen Namen erhielten, ein Staatsgeheimnis blieb. Als Bacon eines Tages starb und sein Schreibtisch von der Wand gerückt wurde, fiel ein Briefumschlag, der dahinter geklemmt worden war, auf den Boden. Wie du wahrscheinlich schon erraten hast, war es Dr. Kissings Großvater, der ›Glöckner‹, der ihn entdeckte, als er das Büro ausfegen sollte. Da der alte Bacon tot war, fand er nichts dabei, die leuchtend orangefarbene Marke, die in dem Umschlag steckte, seinem dreijährigen Enkel zum Spielen mit nach Hause zu nehmen.« Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Hoffentlich war Vater so in seine Erzählung vertieft, dass er es Rächer von Ulster, sowohl die »A A« als auch die »TL«, in diesem Moment gemeinsam in meiner Tasche steckten?  17 Einerseits juckte es mich in den Fingern, die vermaledeiten Marken herauszuholen und Vater in die Hand zu drücken, aber Inspektor Hewitt hatte mich bei der Ehre gepackt. Ich konnte Vater nicht etwas überlassen, das womöglich gestohlen war und ihn noch mehr hätte belasten können. Zum Glück merkte Vater nichts. Nicht einmal ein weiterer Blitz, gefolgt von lautem Krachen und ausgiebigem Donnergrollen konnte ihn in die Gegenwart zurückholen. »Der Rächer mit dem TL wurde natürlich der Grundstein zu Dr. Kissings Sammlung«, fuhr er fort. »Es war allgemein bekannt, dass es nur noch zwei Exemplare dieser Marke gab. Die andere mit der Kennzeichnung AA war nach Königin Viktorias Tod auf ihren Sohn Edward VII. und nach dessen Tod auf seinen Sohn Georg V. übergegangen, in dessen Sammlung sie bis 1925 verblieb, bis sie am helllichten Tag auf einer Briefmarkenausstellung gestohlen wurde. Sie ist bis heute nicht mehr aufgetaucht.« Ha!, dachte ich. Laut fragte ich jedoch: »Und was wurde aus der T L?« »Die wurde ja, wie wir gehört haben, im Safe des Rektors von Greyminster verwahrt. Dr. Kissing holte sie ab und zu heraus, um sich, wie er uns einmal anvertraute, ›diebisch daran zu erfreuen, aber auch, um mich an meine bescheidenen Anfänge zu erinnern, für den Fall, dass ich die Neigung entwickeln sollte, mich für etwas Besseres zu halten.‹ Anderen Leuten zeigte er seinen Rächer von Ulster nur Ich legte die Hand auf meine Tasche. Meine Fingerkuppen kribbelten, als das Papier leise knisterte. »Unser alter Hausleiter, Mr Twining, konnte sich gut daran erinnern und wusste noch, dass im Arbeitszimmer des Rektors in jener Winternacht noch lange Licht gebrannt hatte. Womit ich wieder bei Horace Bonepenny wäre.« Ich hörte es Vaters Stimme deutlich an, dass er sich wieder seiner eigenen Vergangenheit zuwandte, und vor Aufregung lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Endlich würde ich die Wahrheit erfahren. »Unterdessen war aus Bony nicht nur ein gewiefter Zauberkünstler, sondern ein ehrgeiziger, vorlauter junger Mann mit unverfrorenem Auftreten geworden, der seinen Willen meistens durchsetzte, indem er schlicht seine Ellenbogen skrupelloser benutzte als seine Mitschüler. Neben dem Taschengeld, das er von den Anwälten seines Vaters erhielt, verdiente er sich eine schöne Stange Geld dazu, indem er in und um Greyminster als Zauberer auftrat, anfangs bei Kindergeburtstagen, später dann, als sein Selbstvertrauen Ich selbst hatte damals außerhalb des Unterrichts wenig mit ihm zu tun. Da er aufgrund seiner Begabung unserem Magischen Zirkel längst entwachsen war, nahm er nicht mehr daran teil und äußerte sich angeblich herablassend über die ›Amateurscharlatane‹, die der Gruppe weiter die Treue hielten. Da die Mitgliederzahl mit der Zeit immer weiter schrumpfte, verkündete Mr Twining schließlich, er werde die ›Zunft der Illusionisten‹, wie er den Zirkel nannte, auflösen und sich mehr um den Briefmarkenclub kümmern. Ich kann mich noch genau an das letzte Treffen erinnern. Es war an einem Abend im Frühherbst, das erste Treffen im neuen Jahr, als unversehens Bony auftauchte, breit grinsend, leutselig und übertrieben kameradschaftlich. Ich hatte ihn seit Ende des Schulhalbjahres nicht mehr gesehen, und jetzt kam er mir irgendwie wie ein Fremdkörper vor, viel zu raumgreifend für Mr Twinings kleines Zimmer. ›Sieh da, Bonepenny‹, begrüßte ihn Mr Twining, ›welch unverhoffte Freude. Was führt Sie denn in unsere bescheidenen Hallen?‹ ›Meine Füße!‹, rief Bony, und die meisten von uns lachten. Dann ließ er seine Pose fallen. Von einem Augenblick auf den anderen war er wieder ganz Schuljunge, ehrerbietig und voller Bescheidenheit. ›Sagen Sie, Sir, ich habe die ganzen Ferien über darüber nachgedacht, ob Sie den Direx nicht dazu überreden könnten, uns mal diese komische Briefmarke zu zeigen.‹ Mr Twinings Stirn legte sich in Falten. ›Diese komische Briefmarke, wie Sie sich auszudrücken belieben, gehört zu den Kronjuwelen der britischen Philatelie, und ich würde nie und ›Aber Sir! Denken Sie doch an die Zukunft! Wenn wir Jungen eines Tages erwachsen sind … wenn wir selbst Familie haben …‹ Wir anderen grinsten einander verlegen an und malten mit den Schuhspitzen Muster in den Teppich. ›Dann kommt es doch zu Szenen wie in Heinrich V., Sir‹, fuhr Bony fort, ›und jene Familien in Engelland werden einst verfluchen, dass sie nicht in Greyminster gewesen sind und einen Blick auf den berühmten Rächer von Ulster erhaschen durften! Ach bitte, Sir, bitte!‹ ›Für Ihre Kühnheit haben Sie eine Eins plus verdient, Bonepenny, und für Ihre Verhohnepipelung von Shakespeare eine Kopfnuss. Andererseits...‹ Wir sahen, dass sich Mr Twining erweichen ließ. Ein Ende seines Schnurrbartes hob sich kaum wahrnehmbar. ›Ach, bitte, Sir!‹, fielen wir nun alle ein. ›Na ja …‹, sagte Mr Twining. Und so kam es tatsächlich zustande. Mr Twining sprach mit Dr. Kissing, und dieser Ehrenmann, der sich gebauchpinselt fühlte, weil sich seine Schüler für seinen Schatz interessierten, stimmte bereitwillig zu. Die Besichtigung wurde für den darauffolgenden Samstagabend nach dem Gottesdienst angesetzt und sollte in den Wohnräumen des Rektors stattfinden. Die Einladung galt nur für Mitglieder des Briefmarkenclubs, und Mrs Kissing würde den Abend mit Kakao und Keksen krönen. Das Zimmer war völlig verqualmt. Bob Stanley, der mit Bony gekommen war, schmauchte hemmungslos einen dicken Sargnagel, und niemand schien sich daran zu stören. Obwohl die Oberstufler gewisse Vorrechte genossen, war es das erste Mal, dass ich miterlebte, wie sich einer von ihnen vor den Augen des Rektors einen Glimmstängel anzündete. Ich traf als Dr. Kissing war, wie alle bedeutenden Schulleiter, kein unbegabter Selbstdarsteller. Er plauderte über dieses und jenes, über das Wetter, die Kricket-Ergebnisse, die Spenden der Ehemaligen, den besorgniserregenden Zustand der Fliesen im Anson House. Damit spannte er uns natürlich auf die Folter. Erst als wir alle kaum mehr an uns halten konnten, sagte er: ›Herrje, jetzt hätte ich beinahe vergessen, dass Sie ja hergekommen sind, um einen Blick auf meinen berühmten Papierschnipsel zu werfen.‹ Inzwischen brodelten wir wie ein ganzes Zimmer voller Teekessel. Dr. Kissing ging zu seinem Wandsafe. Seine Finger huschten in einem komplizierten Tanz über die Drehknöpfe des Kombinationsschlosses. Es machte ein paarmal Klick, dann öffnete sich die schwere Tür. Dr. Kissing griff in den Safe und holte ein blechernes Zigarettenetui heraus. Ein ganz gewöhnliches Gold-Flake-Zigarettenetui! Das rief natürlich ein paar Lacher hervor, kann ich dir sagen. Ich überlegte unwillkürlich, ob er das verbeulte Ding wohl auch dem König präsentiert hatte. Ein Raunen ging durch uns Anwesende, dann legte sich Stille über den Raum und Dr. Kissing klappte den Deckel auf. In der Dose lag, auf etliche Lagen Löschpapier gebettet, ein winziger Umschlag: viel zu klein, viel zu harmlos, hätte man denken sollen, um einen derart kostbaren Schatz zu bergen. Dr. Kissing zog mit großer Geste eine Pinzette aus seiner Westentasche, nahm damit die Briefmarke so behutsam, wie ein Sappeur den Zünder einer nicht detonierten Bombe entfernt, aus dem Umschlag und legte sie auf das Löschpapier. Wir drängten uns dicht um ihn, drückten und schoben, um besser sehen zu können. ›Vorsicht, meine Herren‹, mahnte Dr. Kissing. ›Vergessen Da lag sie nun, die sagenumwobene Marke, sah genau so aus, wie ich sie mir immer vorgestellt hatte. Dennoch war ich überwältigt. Wir konnten kaum glauben, dass wir uns im selben Raum aufhielten wie der Rächer von Ulster. Bony stand dicht hinter mir und beugte sich über meine Schulter. Ich spürte seinen warmen Atem im Nacken und glaubte, Schweinepastete und Bordeaux zu riechen. Hat er getrunken?, überlegte ich. Dann geschah etwas, das ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde und wahrscheinlich nicht mal dann. Bony schob sich blitzschnell nach vorn, ergriff die Briefmarke und hielt sie wie ein Priester die Hostie zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe. ›Aufgepasst, Sir!‹, rief er. ›Ein Zaubertrick!‹ Wir waren alle wie gelähmt. Ehe einer von uns auch nur mit der Wimper zucken konnte, hatte Bony ein Streichholz aus der Tasche gezogen und es mit dem Fingernagel angerissen. Jetzt hielt er die Flamme an eine Ecke des Rächers. Die Marke wurde schwarz und schnurrte rasch zusammen, ein kleines Flämmchen stieg auf, dann lag nur noch ein hässliches Fleckchen Asche auf Bonys Handfläche. Bony hob beide Hände und intonierte mit Grabesstimme: Asche zu Asche, Staub zu Staub Kriegt dich der König nicht, wirst du des Teufels Raub! Es war entsetzlich. Alle waren stumm vor Schreck. Dr. Kissing stand mit offenem Mund da, und Mr Twining, der uns den Zutritt zu seinem Heiligtum verschafft hatte, sah aus, als hätte ihn jemand ins Herz geschossen. ›Ist doch bloß ein Trick, Sir‹, rief Bony da und setzte sein Er griff mit der Rechten nach meiner linken Hand, mit der Linken packte er die Hand von Bob Stanley. ›Stellt euch im Kreis auf‹, kommandierte er. ›Gebt euch die Hände, und lasst uns beten!‹ ›Schluss damit!‹, rief Dr. Kissing. ›Schluss mit der Blasphemie! Legen Sie die Marke wieder in das Etui, Bonepenny.‹ ›Aber, Sir‹, widersprach Bony und, ich schwör’s, ich sah im Widerschein des Kaminfeuers seine gebleckten Zähne aufblitzen. ›Wenn wir uns nicht alle dafür einsetzen, wirkt der Zauber nicht. So ist das nun mal mit der Magie.‹ < ›Legen … Sie … die … Marke … wieder … in … das … Etui‹, wiederholte Dr. Kissing langsam und überdeutlich. Sein Gesicht glich einer der verzerrten Fratzen, wie sie die Toten im Schützengraben haben. ›Tja, dann muss ich es eben allein versuchen‹, erwiderte Bony. ›Aber ich warne Sie: Auf diese Weise ist es viel schwieriger. ‹ Ich hatte ihn noch nie so selbstbewusst erlebt, noch nie so überzeugt von sich und seinem Auftreten. Er krempelte die Ärmel hoch und reckte die langen weißen Finger hoch über den Kopf. ›Komm zurück, orangene Königin, Und erzähle uns, wo warst du hin?‹ Beim letzten Wort schnippte er mit den Fingern, und mit einem Mal hielt er eine Briefmarke in der Hand. Eine orangefarbene Briefmarke. Dr. Kissings grimmige Grimasse besänftigte sich ein wenig, ja, er schien sich fast das Schmunzeln verbeißen zu müssen. Mr Twining dagegen grub mir die Finger schmerzhaft in die Schulter, Bony hielt sich die Marke so dicht vors Gesicht, dass sie beinahe seine Nasenspitze streifte, zog mit der anderen Hand eine absurd große Lupe aus der Tasche und betrachtete die soeben materialisierte Marke mit geschürzten Lippen. Dann sprach er auf einmal mit der Stimme von Tschang Fu, dem alten Mandarin, und ich versichere dir, dass ich, obwohl er nicht geschminkt war, ganz deutlich die gelbe Haut, die langen Fingernägel und den roten Drachenkimono sah. ›Oh-ui! Ehlenwelte Volfahlen schicken falsche Bliefmalke!‹, verkündete er und hielt uns die Marke zur Begutachtung hin. Es war eine gewöhnliche Steuermarke der amerikanischen Post, eine alte Marke aus dem Bürgerkrieg, von denen wir fast alle gleich mehrere Exemplare in unseren Alben hatten. Bony ließ die Marke zu Boden flattern, zuckte die Achseln und richtete den Blick zur Zimmerdecke. ›Komm zurück, orangene Königin‹, hob er wieder an, aber Dr. Kissing packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn kräftig durch wie einen Kübel Farbe. ›Her mit der Marke!‹, befahl er und streckte fordernd die Hand aus. ›Sofort!‹ Bony stülpte nacheinander alle seine Hosentaschen um. ›Ich kann sie nicht finden, Sir. Sieht ganz so aus, als wäre der Trick schiefgegangen.‹ Er spähte in seine Ärmel, fuhr mit dem mageren Zeigefinger die Innenseite seines Hemdkragens entlang, dann ging mit seinem Gesicht eine Verwandlung vor. Mit einem Mal war er wieder ein ängstlicher Schuljunge, der aussah, als würde er sich am liebsten verdrücken. ›Es hat schon ganz oft funktioniert, Sir‹, stammelte er.› Schon ganz, ganz oft!‹ Er lief puterrot an, und ich glaubte schon, er würde in Tränen ausbrechen. ›Durchsucht ihn!‹, blaffte Dr. Kissing, und ein paar Jungen führten Bony unter der Leitung von Mr Twining ins Bad, wo sie ihn, angefangen von seinem roten Schopf bis hinunter zu den braunen Schuhen, gründlich durchsuchten. ›Es ist, wie der Junge sagt‹, berichtete Mr Twining, als sie schließlich zurückkamen. ›Die Marke scheint verschwunden zu sein.‹ ›Verschwunden?‹, wiederholte Dr. Kissing ungläubig, ›verschwunden? Wie kann das verflixte Ding einfach verschwinden? Sind Sie sicher?‹ ›Ganz sicher‹, antwortete Mr Twining. Anschließend wurde das gesamte Zimmer durchsucht. Wir hoben den Teppich hoch, verrückten die Möbel, untersuchten jeden Nippesgegenstand … vergebens. Dr. Kissing ging zu Bony hinüber. Der hockte in einer Ecke, das Gesicht in den Händen vergraben. ›Raus mit der Sprache, Bonepenny!‹ ›Ich … ich begreife es auch nicht, Sir. Offenbar ist die Marke verbrannt. Ich wollte sie bloß vertauschen, aber anscheinend habe ich … ich weiß auch nicht...‹ ›Ab ins Bett, Junge!‹, donnerte Dr. Kissing. ›Raus hier und ab ins Bett!‹ Keiner von uns hatte ihn bisher laut werden gehört. Wir waren alle zutiefst erschüttert. Ich schielte zu Bob Stanley hinüber und sah, dass er auf den Ballen wippte und dabei ungerührt zu Boden schaute, als wartete er auf die Straßenbahn. Bony stand auf und kam auf mich zugewankt. Seine Augen waren rot. Er nahm meine Hand und schüttelte sie schlaff, aber ich brachte es nicht über mich, seinen Händedruck zu erwidern. ›Tut mir leid, Schnäppi‹, sagte er bekümmert, als sei ich und nicht Bob Stanley sein Assistent. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen und drehte den Kopf zur Seite, bis ich sicher war, dass er nicht mehr neben mir stand. Als sich Bony aus dem Zimmer geschlichen hatte, unternahm der leichenblasse Mr Twining den Versuch, sich bei seinem Vorgesetzten zu entschuldigen, was aber alles nur noch schlimmer zu machen schien. ›Soll ich seine Eltern anrufen, Sir?‹, fragte er. ›Seine Eltern? Nein, Mr Twining. Ich glaube nicht, dass denen etwas vorzuwerfen ist.‹ Mr Twining stand mitten im Zimmer und rang die Hände. Weiß der Himmel, was dem Ärmsten alles durch den Kopf ging. Ich weiß ja nicht mal mehr, was mir selbst durch den Kopf ging. Als ich am darauffolgenden Montag über den Hof spazierte, lief mir Simpkins über den Weg. Er war ganz aus dem Häuschen wegen des Rächers von Ulster. Die Neuigkeit hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und wohin man auch sah, steckten Grüppchen von Jungen die Köpfe zusammen und gestikulierten aufgeregt, während sie die allerneuesten und fast gänzlich jeder Grundlage entbehrenden Gerüchte austauschten. Als wir noch ungefähr fünfzig Meter vom Anson House entfernt waren, rief jemand: ›Guckt mal! Da oben auf dem Turm! Da steht Mr Twining!‹ Ich schaute nach oben und sah den armen Kerl auf dem Dach des Glockenturms stehen. Er klammerte sich wie eine zerzauste Fledermaus an der Brüstung fest, sein Talar flatterte im Wind. Ein Sonnenstrahl brach sich zwischen den dahinjagenden Wolken Bahn und beleuchtete ihn von schräg hinten wie ein Theaterscheinwerfer. Er schien zu glühen, sein Haar, das unter der Mütze hervorstand, glich einer Scheibe aus Kupferblech ›Vorsicht, Sir‹, rief Simpkins noch zu ihm hoch. ›Die Ziegel sind locker!‹ Mr Twining schaute auf seine Füße, als erwachte er aus einem Traum und sei verwundert, sich auf einmal dreißig Meter über dem Erdboden wiederzufinden. Er betrachtete die Dachziegel, und einen Augenblick lang hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Dann richtete er sich hoch auf, hielt sich nur noch mit den Fingerspitzen an der Brüstung fest und hob den rechten Arm zum römischen Gruß. Sein Talar umwehte ihn wie die Toga eines alten römischen Kaisers auf den Wällen der Stadt. ›Vale!‹, rief er. ›Gehabt euch wohl.‹ Erst dachte ich, er sei nur vom Geländer zurückgetreten. Vielleicht hatte er es sich anders überlegt, vielleicht blendete mich auch die Sonne hinter ihm. Aber dann sah ich ihn fallen. Ein Mitschüler erzählte später einem Zeitungsreporter, er habe ausgesehen wie ein gestürzter Engel, aber das stimmt nicht. Er plumpste wie ein Strumpf mit einem Stein drin vom Dach. Poetischer lässt es sich nun mal nicht beschreiben.« Vater stockte, als suchte er nach Worten. Ich hielt den Atem an. »Der dumpfe Aufschlag«, sagte er schließlich, »verfolgt mich noch heute bis in meine Träume. Ich habe im Krieg viel gesehen und gehört, aber nicht so etwas. Er war so ein liebenswerter Mensch, und wir haben ihn umgebracht. Horace Bonepenny und ich haben ihn genauso umgebracht, als hätten wir ihn eigenhändig vom Dach gesto ßen.« »Aber nein!« Ich griff nach Vaters Hand. »Du hattest überhaupt nichts damit zu tun!« »O doch, Flavia.« »Nein!«, wiederholte ich energisch und erschrak selbst ein Rächer von Ulster vernichtet!« Vater lächelte bekümmert. »Nein, mein Schatz. Als ich nämlich an jenem Sonntagabend wieder in mein Zimmer kam und die Jacke auszog, entdeckte ich auf meiner Manschette einen klebrigen Fleck. Ich wusste sofort, was die Stunde geschlagen hatte. Als uns Bony im Wohnzimmer des Rektors abgelenkt hatte, indem er uns einen Kreis bilden ließ, hatte er mir heimlich in den Ärmel gegriffen und den Rächer an die Manschette geklebt. Aber warum mir? Warum nicht Bob Stanley? Nun, das hatte seinen guten Grund. Hätte man uns alle durchsucht, wäre die Marke in meinem Ärmel aufgetaucht und Bony hätte lauthals seine Unschuld beteuert. Kein Wunder, dass bei seiner eigenen Durchsuchung niemand die Marke entdeckt hatte! Und als er mir beim Abschied die Hand schüttelte, hatte er sich die Marke natürlich zurückgeholt. Man darf nicht vergessen, dass Bony ein Meister der Täuschung war, und da ich schon früher sein Komplize gewesen war, war es nur folgerichtig, dass seine Wahl wieder auf mich fiel. Anders konnte es gar nicht sein.« »Nein!«, sagte ich unbeirrt. »Doch.« Vater lächelte. »Und meine Geschichte ist auch gleich zu Ende. Obwohl man ihm nichts beweisen konnte, kam Bony nach den Ferien nicht wieder. Jemand erzählte mir, er sei nach Übersee ausgewandert, um irgendwelchen nachträglichen Unannehmlichkeiten vorzubeugen. Ich kann nicht behaupten, dass mich das überraschte. Ebenso wenig verwunderte es mich, als ich Jahre später erfuhr, dass Bob Stanley, nachdem er von der Medizinischen Fakultät geflogen war, irgendwo in Amerika wieder auftauchte, wo er einen Briefmarkenladen eröffnete, eine dieser Versandfirmen, die in Comic-Heftchen inserieren Was Bony betrifft, so habe ich ihn dreißig Jahre lang nicht mehr gesehen. Und dann, erst letzten Monat, bin ich nach London gefahren, zu einer internationalen Briefmarkenausstellung der Königlichen Philatelistischen Gesellschaft; vielleicht erinnerst du dich noch dran. Ein Höhepunkt der Ausstellung war die öffentliche Präsentation einiger erlesener Exemplare aus der Sammlung unseres derzeitigen Königs, darunter der seltene Rächer von Ulster, A A, der Zwillingsbruder von Dr. Kissings Marke. Ich warf nur einen flüchtigen Blick darauf, denn die Erinnerungen, die die Marke bei mir weckte, waren nicht von der angenehmen Sorte. Es gab noch etliche andere Schaustücke, die ich besichtigen wollte, weshalb der königliche Rächer meine Aufmerksamkeit nur kurz in Anspruch nahm. Kurz bevor die Ausstellung ihre Tore schloss, befand ich mich auf der entgegengesetzten Seite der Halle und betrachtete einen postfrischen Bogen, den ich mir eventuell zuzulegen gedachte, als ich zufällig den Blick umherschweifen ließ und einen auffallend roten Haarschopf erblickte, einen Schopf, wie ihn nur ein einziger Mensch besaß. Es war natürlich Bony. Er hielt gerade einen kleinen Vortrag vor ein paar Sammlern, die vor der königlichen Marke verweilt hatten. Es kam zu einer hitzigen Diskussion, und es hatte den Anschein, als brächte etwas, das Bony gesagt hatte, einen der Aufseher in Rage, denn er schüttelte energisch den Kopf, während beide Männer immer lauter wurden. Ich glaubte nicht, dass Bony mich gesehen hatte, und ich legte auch keinen Wert darauf. Zufällig kam gerade ein alter Freund aus Armeetagen vorbei, Jumbo Higginson, der mich zu einem späten Abendessen Vaters Blick verschleierte sich, und ich merkte, dass er in eins seiner persönlichen Kaninchenlöcher abgetaucht war, die ihn so oft verschluckten. Manchmal fragte ich mich, ob ich mich wohl je an sein unvermitteltes Verstummen gewöhnen würde. Aber dann, wie ein blockiertes Uhrwerk, das jäh wieder zum Leben erwacht, wenn man mit dem Finger dagegenschnippt, setzte er seine Geschichte fort, als hätte er sich nie unterbrochen. »Als ich an diesem Abend auf der Heimfahrt im Zug die Zeitung aufschlug, erfuhr ich, dass der Rächer des Königs gegen eine Fälschung vertauscht worden sei, und das anscheinend in aller Öffentlichkeit, vor der Nase etlicher unbescholtener Philatelisten und zweier Sicherheitsbeamter. Tja, ich wusste nicht nur, wer den Diebstahl ausgeführt hatte, sondern auch, zumindest ungefähr, wie der Betreffende es angestellt hatte. Als dann letzten Freitag die tote Zwergschnepfe vor unserer Tür lag, wusste ich sofort, dass Bony hier gewesen war. ›Schnäppi‹ war in Greyminster mein Spitzname gewesen, weil ich beim Essen immer so gierig zugriff und den anderen die letzte Scheibe Wurst wegschnappte. Die Buchstaben in der Ecke der Penny Black vervollständigten seinen Namen. Es ist alles reichlich verwickelt.« »B One Penny H«, sagte ich. »Bonepenny, Horace. In Greyminster wurde er Bony genannt, und du warst Schnäppi. Das habe ich längst herausgefunden.« Vater sah mich an, als wäre ich eine Natter und er müsste überlegen, ob er mich an die Brust drücken oder lieber aus dem Fenster werfen sollte. Er fuhr sich ein paarmal mit dem Zeigefinger über den Mund, als wollte er seine Lippen versiegeln, erzählte dann aber doch weiter. »Obwohl sich Bony bestimmt noch irgendwo in der Nähe Er verlangte, dass ich ihm beide Rächer abkaufte: den einen, den er kürzlich gestohlen hatte, und den anderen, den er seinerzeit aus Dr. Kissings Sammlung hatte verschwinden lassen. Er war davon unterrichtet, dass ich ein wohlhabender Mann bin. ›So eine gute Investition wird dir nicht noch mal geboten‹, meinte er. Als ich erwiderte, dass ich kein Geld hätte, drohte er, der Polizei mitzuteilen, dass ich den Diebstahl des ersten Rächers geplant und den zweiten selbst gestohlen hätte. Bob Stanley würde seine Behauptungen bezeugen. Schließlich sei ich Briefmarkensammler, nicht er. War ich denn nicht beide Male in der Nähe gewesen, als die Marken verschwanden? Der Mistkerl deutete sogar an, dass er die Rächer vielleicht schon - vielleicht schon, man stelle sich vor! - in meiner Sammlung versteckt habe. Nach unserem Gespräch war ich viel zu aufgewühlt, um schlafen zu gehen. Nachdem Bony weg war, ging ich stundenlang in meinem Arbeitszimmer auf und ab, überlegte hin und her und kam zu keinem Schluss. Ich hatte mich seit jeher für Mr Twinings Tod mitverantwortlich gefühlt. Es kostet mich große Überwindung, das zuzugeben, aber so ist es nun mal. Mein Schweigen hatte unmittelbar zum Selbstmord des liebenswürdigen alten Herrn geführt. Hätte ich als Schuljunge nur die innere Stärke gehabt, meinen Verdacht auszusprechen, wären Bonepenny und Stanley nicht ungeschoren davongekommen, und Mr Twining hätte sich nicht dazu genötigt gesehen, sich das Leben zu nehmen. Weißt du, Flavia, manchmal muss man für sein Schweigen teuer bezahlen. Nach langem Überlegen beschloss ich, entgegen allen meinen Darauf hätte ich gern die richtige Erwiderung gewusst, aber ausnahmsweise ließ mich meine Schlagfertigkeit im Stich. Ich saß da wie ein Holzklotz und brachte es nicht einmal über mich, meinen Vater anzusehen. »Irgendwann am frühen Morgen, es muss gegen vier gewesen sein, denn es wurde draußen schon hell, knipste ich die Schreibtischlampe aus. Eigentlich war ich fest entschlossen, ins Dorf und zum Dreizehn Erpel zu laufen, Bonepenny zu wecken und in seine Forderung einzuwilligen. Etwas hielt mich noch davon ab, aber was genau, kann ich nicht erklären. Ich trat auf die Terrasse hinaus, aber statt wie geplant ums Haus herum und die Auffahrt hinunterzugehen, zog mich die Remise fast magnetisch an.« Aha!, dachte ich. Also war es nicht Vater gewesen, der zur Küchentür hinausgegangen war! Er war ja von der Terrasse vor seinem Arbeitszimmer aus an der Gartenmauer entlang ohne Umweg zur Remise gegangen. Er hatte keinen Fuß in den Garten gesetzt. Er war nicht an dem sterbenden Horace Bonepenny vorbeigekommen. »Ich wollte nachdenken«, fuhr Vater fort, »aber ich brachte einfach keinen klaren Gedanken zustande.« »Da hast du dich in Harriets Rolls gesetzt«, platzte ich heraus. Manchmal könnte ich mich erschießen! Vater sah mich so bekümmert an, wie ein Wurm den schon besonders früh aufgestandenen Vogel ansieht, kurz bevor er in dessen Schnabel verschwindet. »Ja«, antwortete er leise. »Ich war müde. Ich weiß noch, dass mir irgendwann einfiel, dass Bony und Stanley, wenn Dann muss ich eingeschlafen sein, keine Ahnung. Spielt ja auch keine Rolle. Jedenfalls saß ich immer noch in Harriets Wagen, als mich die Polizisten fanden.« »Bankrott?«, wiederholte ich erstaunt. Ich konnte mich nicht beherrschen. »Aber du hast doch Buckshaw, Vater!« Vater sah mich mit feuchten Augen an, wie er mich noch nie angesehen hatte. »Buckshaw gehörte Harriet, verstehst du, und bei ihrem Tod hinterließ sie kein Testament, keinen letzten Willen. Die Erbschaftssteuer … nun ja, die Erbschaftssteuer würde uns vermutlich auffressen.« »Aber Buckshaw gehört doch dir! Es ist seit Jahrhunderten in Familienbesitz!« »Nein«, erwiderte Vater bedrückt, »es gehört mir nicht, kein Stein davon. Harriet war nämlich schon vor unserer Hochzeit eine de Luce, meine Kusine dritten Grades. Buckshaw gehörte ihr. Ich besitze nichts mehr, was ich in das Anwesen investieren könnte, keinen roten Heller. Wie schon gesagt, ich bin pleite.« Da klopfte es scheppernd, und Inspektor Hewitt kam herein. »Tut mir leid, Colonel de Luce. Wie Sie sicher wissen, achtet unser Polizeipräsident penibel darauf, dass die Vorschriften bis auf das letzte Komma eingehalten werden. Ich habe Ihnen so viel Zeit gewährt, wie ich konnte, ohne meinen Posten zu riskieren.« Vater nickte resigniert. »Komm, Flavia«, wandte sich der Inspektor an mich, »ich bring dich nach Hause.« »Ich kann aber noch nicht nach Hause«, erwiderte ich. »Jemand »Dein Fahrrad liegt hinten in meinem Auto.« »Haben Sie es schon gefunden?« Halleluja! Gladys war wieder da! »Es war gar nicht weg«, entgegnete der Inspektor. »Ich habe gesehen, wie du es vor dem Revier in den Ständer gestellt hast, und Wachtmeister Glossop angewiesen, es vorsichtshalber wegz ubringen.« »Damit ich nicht fliehe?« Angesichts meiner Dreistigkeit hob Vater die Augenbrauen, sagte aber nichts. »Das auch«, erwiderte Inspektor Hewitt, »aber vor allem, weil es draußen immer noch in Strömen gießt und man bis nach Buckshaw elend lang bergauf strampelt.« Ich umarmte Vater wortlos, wogegen er, obwohl er sich steif wie eine Eiche hielt, anscheinend nichts einzuwenden hatte. »Gib dir Mühe, und sei ein braves Mädchen, Flavia«, sagte er. Ein braves Mädchen? Fiel ihm nichts Besseres ein? Es war doch wohl nicht zu übersehen, dass unser U-Boot aufgetaucht war, dass die Besatzung die unergründlichen wundersamen Tiefen des Meeresgrundes hatte verlassen müssen. »Ich versuch’s«, entgegnete ich und drehte mich schon halb um. »Ehrlich, ich versuch’s.« »Urteile nicht zu streng über deinen Vater«, sagte Inspektor Hewitt, als er etwas langsamer fuhr, um am Wegweiser die Abzweigung nach Bishop’s Lacey zu nehmen. Ich sah ihn an. Die Lämpchen vom Armaturenbrett seines Vauxhall beleuchteten sein Gesicht von unten. Die Scheibenwischer glitten in der sonderbaren Gewitterbeleuchtung wie Sensen über die Windschutzscheibe. »Glauben Sie wirklich, dass er Horace Bonepenny umgebracht hat?«, fragte ich. Seine Antwort ließ lange, sehr lange auf sich warten, und als sie endlich kam, schwang tiefer Kummer darin mit. »Wer soll es denn sonst gewesen sein, Flavia?« »Ich … zum Beispiel.« Inspektor Hewitt stellte die Belüftung an, weil die Scheibe von unserer Unterhaltung beschlug. »Du erwartest doch nicht, dass ich dir die Geschichte mit dem Überfall und der Herzkrankheit abnehme, oder? Nie und nimmer. Daran ist Horace Bonepenny nicht gestorben.« Ich hatte eine Eingebung: »Es war der Kuchen, richtig? Der war vergiftet!« »Und du hast das Gift hineingetan, was?« Er verkniff sich ein Grinsen. »Nein«, gestand ich. »Leider nicht.« »Es war ein ganz gewöhnlicher Kuchen«, sagte der Inspektor. »Der Untersuchungsbericht liegt mir bereits vor.« Ein ganz gewöhnlicher Kuchen? Ein höheres Lob würde Mrs Mullets Backkünsten wohl nie wieder zuteil werden. »Wie du bereits herausgefunden hast«, fuhr der Inspektor fort, »hat sich Bonepenny tatsächlich ein Stück Kuchen schmecken lassen, und das etliche Stunden vor seinem Tod. Aber woher weißt du das?« »Nur ein Fremder würde sich an dem Zeug vergreifen«, erwiderte ich mit gerade so viel Ironie, dass er nicht merkte, was mich umtrieb: die jähe Erkenntnis, dass ich mich geirrt hatte. Bonepenny war tatsächlich nicht von Mrs Mullets Kuchen vergiftet worden. Es wäre kindisch gewesen, darauf zu bestehen. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ist mir nur so rausgerutscht. Jetzt halten Sie mich bestimmt für ein dummes Gör.« Wieder blieb mir Inspektor Hewitt die Antwort eine ganze Weile schuldig, dann entgegnete er: »Die Streusel schmecken süß, jedoch - viel süßer schmeckt der Boden noch … … hat meine Großmutter immer gesagt«, setzte er hinzu. »Und was soll das bedeuten?« »Das soll bedeuten … huch, wir sind ja schon in Buckshaw. Bestimmt machen sich alle schon Sorgen, wo du steckst.« »Ach so?«, fragte Ophelia gleichgültig. »Du warst weg? Ist uns gar nicht aufgefallen, stimmt’s, Daff?« Daffy riss die Augen auf. Sie war unübersehbar erschrocken, wollte sich aber nichts anmerken lassen. »Nö«, brummte sie und vertiefte sich rasch wieder in Dickens’ Bleak House. Auch wenn sonst nicht viel mit ihr los war, so war Daffy immerhin eine superschnelle Leserin. Wenn mich die beiden danach gefragt hätten, hätte ich ihnen gern von meinem Besuch bei Vater erzählt, aber sie fragten nicht. Falls seine missliche Lage ihnen Kummer bereitete, schloss das offenkundig mich nicht ein, so viel stand fest. F eely und Daffy und ich waren wie drei Larven in drei getrennten Kokons, und manchmal überlegte ich, wieso eigentlich. Charles Darwin hat mal darauf hingewiesen, dass der größte Überlebenskampf innerhalb des eigenen Stammes stattfindet, und als fünftes von sechs Kindern - also mit vier älteren Geschwistern - wusste er bestimmt, wovon er sprach. In meinen Augen war es eher ein simples chemisches Phänomen. Ein Stoff löst sich am besten in einem Lösemittel, das ihm von der Struktur her möglichst ähnlich ist. Dafür gab es keine rationale Erklärung, die Natur hatte es einfach so eingerichtet. Es war ein langer Tag gewesen, und meine Augenlider fühlten sich an, als hätte sie jemand als Austernrechen missbraucht. »Ich glaub, ich geh gleich schlafen«, verkündete ich. »Nacht, Feely. Nacht, Daffy.« Mein Versuch, gesellig zu sein, wurde einerseits mit Schweigen, anderseits mit Brummen aufgenommen. Als ich die Treppe hochging, tauchte auf einmal Dogger, wie aus dem Boden gewachsen, oben auf dem Treppenabsatz auf. In der Hand hielt er einen Kerzenleuchter, der vom Flohmarkt in Manderley hätte stammen können. »Colonel de Luce?«, raunte er. »Dem geht es gut«, erwiderte ich. Dogger nickte sorgenvoll, dann schlurften wir beide in unser jeweiliges Schlafquartier.  18 Greyminster lag dösend in der Sonne, als träumten die al ten Gemäuer von einstiger Herrlichkeit. Alles sah genau so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte: prachtvolle alte Gebäude, gepflegter, grüner Rasen, der sich bis zum breiten, trä ge dahinfließenden Fluss hinunter erstreckte, leere Spielfelder, aus denen der ferne Widerhall vergangener Kricket-Spiele, deren Teilnehmer längst von uns gegangen waren, aufzusteigen schien. Ich lehnte Gladys in einem kleinen Seitenweg, durch den ich auf das Gelände gelangt war, an einen Baum. Hinter einer Hecke tuckerte ein Traktor im Leerlauf, der Fahrer war nirgends zu sehen. Aus der Kapelle wehten die Stimmen eines Knabenchors heran, der trotz des strahlenden Morgens sang: Hinunter ist der Sonnen Schein, Die finstre Nacht bricht stark herein. Ich hörte ein paar Sekunden zu, dann brach der Gesang plötzlich ab. Nach einer kurzen Pause setzte die quäkende Orgel wieder ein, und die Sänger fingen noch einmal von vorn an. Als ich langsam über die Wiese ging, die Vater bestimmt »das Viereck« genannt hätte, starrten die hohen Fenster des Schulgebäudes ausdruckslos und abweisend auf mich herab. Ich kam mir auf einmal wie ein Insekt unter einem Mikroskop Mit Ausnahme eines einzelnen Schuljungen, der um eine Ecke gerannt kam, und zwei Lehrern in schwarzen Talaren, die im Gehen plaudernd die Köpfe zusammensteckten, waren die großen Rasenflächen und die sich dazwischen einherschlängelnden Wege von Greyminster leer. Der Himmel leuchtete so blau, dass das Ganze fast unwirklich aussah, wie eine hundertfach vergrößerte Agfacolor-Fotografie, eine Aufnahme, wie man sie in Büchern mit Titeln wie Malerisches Großbritannien fand. Der Kalksteinkasten mit dem Glockenturm auf der Ostseite des Vierecks, dachte ich, muss Anson House sein, Vaters ehemalige Bude. Die Sonne schien so gleißend, dass ich im Näherkommen die Hand schützend über die Augen an die Stirn legte. Von den Zinnen und Ziegeln dort oben musste Mr Twining damals in den Tod gesprungen sein, herab auf das uralte Pflaster, von dem ich kaum hundert Schritt entfernt stand. Neugierig schlenderte ich hinüber. Zu meiner Enttäuschung waren keine Blutflecke mehr zu erkennen. Selbstverständlich waren sie nach so langer Zeit längst verblasst. Außerdem hatte man gerade diese Blutflecken bestimmt unauffällig weggeschrubbt, noch ehe Mr Twinings zerschmetterter Leib zu dem gebettet worden war, was man »die ewige Ruhe« nannte. Bis auf die Spuren von zweihundert Jahren Abnutzung durch die Schuhsohlen privilegierter Schüler und Lehrer hatten die Pflastersteine nichts zu erzählen. Der dicht an der Hauswand entlangführende Weg war keine zwei Meter breit. Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute am Turm empor. Aus diesem Blickwinkel ragte die steile Mauer schwindelerregend hoch auf, und oben wurde sie von zierlichen Ornamenten gekrönt. Weiße Wolken zogen bedächtig über die Ausgetretene Stufen führten von dem gepflasterten Weg verlockend unter einem Steinbogen hindurch zu einer Flügeltür. Links von mir befand sich die Pförtnerloge, deren Insasse über das Telefon gebeugt war und nicht mal aufblickte, als ich an ihm vorbeihuschte. Ein kühler, gefliester, schummriger Korridor schien ins Unendliche zu führen. Ich marschierte tapfer drauflos, wobei ich Acht gab, nicht mit den Füßen zu schlurfen. An einer Wand hing eine endlose Galerie lächelnder Porträts: Manche zeigten Schüler, andere Lehrer, aber alle hatten sie einst in Greyminster gelernt oder gelehrt, und sie hatten ihr Leben fürs Vaterland gelassen. Sie hingen einzeln in schwarz lackierten Rahmen, auf deren Unterkante in einem vergoldeten Schriftband zu lesen stand: »Damit andere leben dürfen«. Am Ende des Korridors hingen, von den anderen Bildern ein wenig abgesetzt, die Fotos dreier Jungen, deren Namen mit roter Schrift auf kleine, viereckige Messingplaketten graviert waren. Unter jedem Namen stand: »Vermisst.« Vermisst? Warum hing Vaters Bild nicht auch hier? Vater war für gewöhnlich so abwesend, dass er genauso gut als »vermisst« hätte gelten können wie diese jungen Männer, deren Gebeine irgendwo in Frankreich lagen. Bei diesem Gedanken verspürte ich zwar einen Anflug von schlechtem Gewissen, aber es stimmte dennoch. Ich glaube, es war dort, in dem düsteren Flur in Vaters ehemaligem Internat, dass mir so richtig bewusst wurde, wie ungeheuer verschlossen Vater eigentlich war. Gestern hätte ich ihn liebend gern umarmt und so fest gedrückt, dass ihm die Luft weggeblieben wäre. Jetzt jedoch begriff ich, dass die traulichemir anvertraut, sondern Harriet, und wie bei dem sterbenden Horace Bonepenny war ich nicht mehr als ein zufälliger Beichtvater gewesen. Jetzt, hier in Greyminster, an jenem Ort, an dem Vaters Kummer seinen Anfang genommen hatte, kam mir diese Umgebung umso kälter, abweisender und ungastlicher vor. Hinter den Fotos führte eine Treppe in den ersten Stock. Ich ging hinauf und stand im nächsten langen Flur, der sich wie der im Erdgeschoss über die ganze Länge des Gebäudes erstreckte. Obwohl die Türen zu beiden Seiten geschlossen waren, konnte man durch kleine Scheiben einen Blick in die Räume dahinter werfen. Es waren lauter Klassenzimmer, und sie sahen alle gleich aus. Das große Eckzimmer am Ende des Korridors sah da schon vielversprechender aus. Auf dem Schild an der Tür stand: Chemieraum. Ich drückte auf die Klinke, und die Tür ging sofort auf. Der böse Bann war gebrochen! Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das jedenfalls nicht: fleckige Holztische, nichtssagende Bechergläser, blinde Destillierkolben, angestoßene Reagenzgläser, verschmutzte Bunsenbrenner und an der Wand eine bunte Tabelle mit den Elementen und einem blödsinnigen Druckfehler, durch den Arsen und Selen vertauscht waren. Es fiel mir sofort auf. Darum holte ich ein Stück blaue Kreide von der Tafelablage und nahm mir die Freiheit, den Fehler zu korrigieren, indem ich einen Pfeil malte, der in zwei Richtungen zeigte. »Falsch!«, schrieb ich darunter und unterstrich es zweimal. Das sogenannte Labor war ein Witz im Vergleich zu dem, was mir auf Buckshaw zur Verfügung stand. Ein Gedanke, bei dem mir vor Stolz die Brust schwoll. Am liebsten wäre ich auf der Stelle nach Hause geradelt, um mich an meinem Labor zu Aber diese Freuden mussten warten. Ich hatte hier noch einiges zu erledigen. Ich verließ das Labor und ging den Flur wieder zurück, bis ich ungefähr in der Mitte angelangt war. Wenn ich mich nicht irrte, musste ich mich hier direkt unter dem Turm befinden. Von hier aus musste es einfach einen Zugang geben. Eine kleine Tür in der Holzvertäfelung, hinter der ich zuerst eine Besenkammer vermutet hatte, gab den Weg zu einer Treppe frei. Mein Herz schlug höher. Dann sah ich das Schild. Auf Höhe der ersten Stufen war eine Kette quer über die Treppe gespannt. Daran hing ein handbeschriftetes Pappschild mit dem Hinweis: Zutritt zum Turm strengstens verboten. Ich duckte mich blitzschnell darunter hindurch. Es war wie im Gehäuse eines Einsiedlerkrebses. Die Treppe vollführte eine enge, eintönige Windung nach der anderen. Weder sah man, was vor einem, noch was hinter einem lag, man konnte immer nur die paar Stufen gleich über und unter sich erkennen. Eine Zeit lang zählte ich flüsternd mit, aber irgendwann sah ich ein, dass ich meine Puste brauchte, um meine Beine mit Sauerstoff zu versorgen. Es ging steil aufwärts, und bald bekam ich Seitenstechen. Darum legte ich eine kurze Verschnaufpause ein. Nur durch die kleinen Fensterschlitze, die jeweils auf einer vollen Wendelung der Treppe angebracht waren, fiel spärliches Licht. Auf dieser Seite des Turmes vermutete ich auch den Innenhof. Immer noch halbwegs außer Puste, nahm ich mein Gekraxel wieder auf. Dann war die Treppe unvermittelt zu Ende, und zwar vor einer niedrigen, halbrunden Tür. Ich dachte unwillkürlich an die kleinen Türen im Märchen, Ich schnaufte enttäuscht und hockte mich schwer atmend auf die oberste Stufe. »Verflixt und zugenäht!«, fluchte ich. Es hallte erschreckend laut durch das Treppenhaus. »Heda!«, ertönte ein dumpfer Ruf, und ich hörte jemanden die Treppe hochstapfen. »Verflixt und zugenäht!«, wiederholte ich, diesmal ganz leise. »Wer ist da oben?«, wollte jemand wissen. Ich hielt mir den Mund zu, damit ich nicht versehentlich antwortete. Als ich dabei an meine Zähne kam, hatte ich einen Geistesblitz. Vater hatte schon immer gesagt, ich würde eines Tages noch mal froh über meine Zahnspange sein. Recht hatte er! Mit Daumen und Zeigefinger hebelte ich mir die Spange aus dem Gebiss, dann machte es Klick!, und das Ding fiel mir in die Hand. Die Schritte kamen unerbittlich näher und mussten schon bald die oberste Stufe erreicht haben, auf der ich vor der versperrten Tür hockte. Ich verdrehte den Draht zu einem ›L‹ mit einem Haken am Ende und steckte die ruinierte Zahnspange in das Schlüsselloch. Vater hätte mich mit der Reitpeitsche verdroschen, aber was blieb mir anderes übrig? Es war ein altes, nicht besonders kompliziertes Schloss. Ich würde es bestimmt knacken können, wenn ich nur genug Zeit zur Verfügung hätte! »Wer ist da?«, rief es. »Ich weiß, dass du da oben bist. Ich hör dich. Der Zutritt zum Turm ist verboten. Komm sofort runter, Junge.« Junge?, dachte ich. Gesehen hatte er mich demnach nicht. Ich stocherte mit dem Draht im Schloss herum und drehte Um mich her war es finster wie im Kohlenkeller. Nicht einmal Fensterschlitze gab es hier. Die Schritte hielten vor der Tür an. Ich huschte leise bis zur Wand und drückte mich dagegen. »Wer ist da? Wer ist hier oben?« Dann wurde ein Schlüssel ins Schlüsselloch gesteckt und umgedreht, die Tür ging auf, und ein Mann streckte den Kopf herein. Der Strahl seiner Taschenlampe irrte hierhin und dorthin und beleuchtete ein Gewirr von Leitern, das sich nach oben hin im Dunkeln verlor. Der Mann richtete den Lichtstrahl auf jede Leiter und ließ ihn Sprosse für Sprosse nach oben wandern, bis das Licht ganz oben nichts mehr ausrichten konnte. Ich rührte mich nicht, blinzelte nicht einmal. Von dort aus, wo ich stand, konnte ich nur die Silhouette des Mannes in der Tür erkennen. Er hatte weißes Haar und einen Furcht einflö ßenden Schnurrbart. Wenn ich die Hand ausgestreckt hätte, hätte ich ihn anfassen können. Er blieb eine halbe Ewigkeit dort stehen. »Schon wieder diese blöden Ratten«, brummte er schließlich, dann knallte er die Tür zu und ich stand wieder allein im Dunkeln. Ein Schlüsselbund klirrte, und der Riegel rastete wieder ein. Ich war eingesperrt. Wahrscheinlich hätte ich mich bemerkbar machen und rufen sollen, aber ich dachte gar nicht daran. Ich war noch längst nicht mit meinem Latein am Ende. Im Gegenteil, mein Abenteuer fing gerade an, mir Spaß zu machen. Natürlich hätte ich das Schloss noch einmal knacken und mich die Treppe wieder hinunterschleichen können, aber dann Und da ich in der Turmkammer schließlich nicht überwintern konnte, führte der einzige Ausweg nach oben. Wie eine Schlafwandlerin setzte ich mit ausgestreckten Armen einen Fuß vor den anderen, bis meine Finger die nächstbeste Leiter streiften. Und schon ging’s hinauf. Eigentlich ist nichts dabei, im Dunkeln eine Leiter hochzuklettern, es hat sogar gewisse Vorteile, den Abgrund, der unter einem gähnt, nicht sehen zu können. Doch im Verlauf der Kletterpartie gewöhnten sich meine Augen immer mehr an die Dunkelheit, die eben doch nicht vollständig war. Winzige Fugen im Mauerwerk und im Dachstuhl ließen hier und dort nadelfeine Lichtstrahlen herein, sodass ich schon bald den Umriss der Leiter erkennen konnte, der sich schwarz gegen das graue Licht abhob. Am Ende der Sprossen stand ich auf einer kleinen Holzplattform wie ein Seemann in der Takelage. Links führte die nächste Leiter noch höher ins Halbdunkel hinauf. Ich rüttelte einmal kräftig daran. Obwohl sie beängstigend knarrte, schien sie einigermaßen stabil zu sein. Ich holte tief Luft, stieg auf die unterste Sprosse, und weiter ging’s. Kurz darauf stand ich auf einer noch kleineren, noch wackligeren Plattform. Die nächste Leiter war schmaler als die vorigen, die Sprossen dünner, und sie wackelte heftig, als ich den Fuß daraufsetzte und langsam hochstieg, beziehungsweise hochkroch. Auf halbem Weg fing ich wieder an zu zählen: »Zehn (schätzungsweise)… elf … zwölf … dreizehn …« Dann knallte mein Kopf gegen etwas Hartes, und ich sah lauter um mich herumwirbelnde Sternchen. Ich klammerte mich an den Sprossen fest, mein Kopf schien geplatzt zu sein wie eine Melone, und die streichholzdünne Leiter vibrierte unter meinen Fingern wie eine gezupfte Violinensaite. Es fühlte sich an, als hätte mich jemand skalpiert. Als ich die Hand ausstreckte und über meinen geschundenen Schädel tastete, streifte ich einen Holzgriff. Ich drückte mit letzter Kraft dagegen, und die Luke klappte auf. Im Nu war ich auf das Turmdach hinausgeklettert, wo ich wie eine Eule in die ungewohnte Helligkeit blinzelte. Von einer viereckigen Plattform in der Mitte fielen die Schieferziegel nach allen vier Himmelsrichtungen sanft ab. Die Aussicht war atemberaubend. Auf der anderen Seite des Vierecks, jenseits des Ziegeldachs der Kapelle, erstreckten sich die unterschiedlichsten Grüntöne bis zum dunstigen Horizont. Immer noch blinzelnd, trat ich ein bisschen näher an die Brüstung und hätte mir beinahe das Genick gebrochen. Ein gähnendes Loch klaffte zu meinen Füßen, und ich musste tüchtig mit den Armen rudern, um nicht hineinzufallen. Taumelnd erhaschte ich einen Blick auf das Pflaster, das in schwindelerregender Tiefe schwärzlich in der Sonne glänzte. Die Öffnung war vielleicht dreißig Zentimeter breit und hatte eine ungefähr einen Zentimeter hohe Einfassung. Alle drei Meter wurde sie von einem schmalen, gemauerten Steg überbrückt, der die vorkragende Brüstung mit dem Dach verband. Das Ganze sollte offenbar bei starkem Regen das Wasser zügig vom Turmdach ableiten. Ich holte tief Luft, sprang mit einem Satz über die Öffnung und schaute über die hüfthohe Brüstung. Unter mir lag der Hof. Da er bis an das Gebäude heranreichte, war der gepflasterte Weg neben der Hauswand gerade noch zu erkennen. Merkwürdig, dachte ich. Wenn Mr Twining hier von der Brüstung gesprungen war, hätte er eigentlich nur im Gras landen können. Es sei denn, der Hof wäre in den dreißig Jahren seit Mr Twinings Tod einschneidenden architektonischen Eingriffen unterworfen gewesen. Ein zweiter Blick durch die Öffnung hinter Da vernahm ich hinter mir ein Geräusch. Ich fuhr herum. Mitten auf dem Dach baumelte ein Erhängter an einem Galgen! Ich musste mich schwer zusammenreißen, um nicht loszuschreien. Der Leichnam schaukelte und drehte sich im auffrischenden Wind wie der gefesselte Kadaver eines hingerichteten Straßenräubers, wie ich ihn auf einer Abbildung im Almanach des Gefängnisses von Newgate gesehen hatte. Dann barst ohne jede Vorwarnung sein Bauch und sein Gedärm quoll als roter, wei ßer und blauer Strang heraus. Die Eingeweide entrollten sich flatternd und kurz darauf knatterte hoch über mir an der Spitze eines Fahnenmastes der gute alte Union Jack im Wind. Als ich mich von meinem Schreck erholt hatte, sah ich, dass die Flagge von unten, wahrscheinlich von der Pförtnerloge aus, mithilfe einer ausgetüftelten Anordnung aus Seilen und Flaschenzügen auf- und eingezogen werden konnte. Die Segeltuchhülle der Fahne mitsamt dem Mast hatte ich für einen Gehenkten am Galgen gehalten. Ich grinste betreten und schob mich vorsichtig an den Mechanismus heran, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Aber abgesehen von der genialen Konstruktion gab es nichts Spannendes zu entdecken. Als ich eben wieder der gähnenden Öffnung zustrebte, rutschte ich aus und fiel der Länge nach hin, wobei mein Kopf bis über den schwindelerregenden Abgrund hinausragte. Auch wenn ich mir jeden Knochen im Leib gebrochen hätte, hätte ich nicht gewagt, mich aufzurichten. Eine Million Meilen unter mir, so kam es mir jedenfalls vor, kamen zwei ameisengroße Gestalten aus dem Anson House und gingen quer über den Hof. Mein erster Gedanke war, dass ich noch am Leben war. Aber sobald ich mich wieder gefasst hatte, wurde ich wütend. Ich ärgerte mich darüber, dass ich so dämlich und unbeholfen war, ärgerte mich über den unsichtbaren Dämon, der mir mittels einer nicht enden wollenden Abfolge von abgesperrten Türen, aufgeschürften Schienbeinen und zerschrammten Ellenbogen das Leben schwer machte. Ich stand schwerfällig auf und klopfte mir den Schmutz ab. Aber nicht nur mein Kleid war schmutzig, ich hatte es auch fertiggebracht, mir die linke Schuhsohle halb abzureißen. Wie ich das angestellt hatte, war leicht zu begreifen. Ich war an der scharfen Kante eines vorstehenden Ziegels hängen geblieben. Dabei hatte ich ihn aus seiner Verankerung gerissen. Jetzt lag er lose auf dem Dach und glich einer der Steintafeln, auf denen Gott Moses die Zehn Gebote überreicht hatte. Ich schiebe den Ziegel lieber wieder zurück, dachte ich, sonst tropft den Bewohnern von Anson House irgendwann der Regen auf den Kopf, und wer war dann wieder schuld? - Ich! Der Ziegel war schwerer, als er aussah. Ich musste mich hinknien, um ihn dorthin zurückzuschieben, wo er hingehörte. Vielleicht hatte er sich gedreht, vielleicht waren auch die benachbarten Ziegel nach unten gerutscht, wie auch immer, jedenfalls wollte das blöde Ding nicht mehr in die Lücke passen. Ich hätte natürlich in der Lücke umhertasten und feststellen können, ob dort irgendetwas klemmte, aber mir fielen die Spinnen und Skorpione ein, die sich mit Vorliebe in solchen lichtlosen Schlupfwinkeln aufhielten. Schließlich riss ich mich doch zusammen und griff beherzt hinein. Ganz hinten in der Lücke spürte ich etwas Weiches. Ich zog die Hand sofort zurück, beugte mich vor und spähte in den Zwischenraum. Außer Dunkelheit war nichts zu erkennen. Also langte ich in Gottes Namen noch einmal hinein und zupfte meinen Fund mit spitzen Fingern heraus. Es ging ganz leicht, und das weiche Etwas entfaltete sich dabei wie zuvor die Fahne, die jetzt über meinem Kopf wehte. Es war ein großes Stück abgewetzter, schwerer schwarzer Stoff. Der Umhang eines Internatslehrers. Und fest darin eingerollt, hoffnungslos zerknautscht, fand ich ein ebenfalls schwarzes quadratisches Barett. Mir war sofort klar wie Kloßbrühe, dass diese Kleidungsstücke irgendwie mit Mr Twinings Tod zusammenhingen. In welcher Hinsicht? Das würde ich noch herausfinden! Stimmt schon, ich hätte die Sachen dort auf dem Dach liegen lassen sollen. Ich hätte das nächstbeste Telefon aufsuchen und Inspektor Hewitt anrufen sollen. Stattdessen lautete mein nächster Gedanke: Wie komme ich ungesehen wieder weg aus Greyminster? Und, wie so oft, wenn man in der Klemme steckt, fiel mir auch gleich die Lösung ein. Ich schlüpfte in den schimmligen Talar, drückte das zerbeulte Barett einigermaßen zurecht, setzte es auf und flatterte wie eine große schwarze Fledermaus das Labyrinth wackliger Leitern hinunter, bis ich wieder vor der verschlossenen Tür stand. Der Dietrich, den ich aus meiner Zahnklammer gebogen hatte, musste seine Dienste noch einmal verrichten, und als ich den Draht in das Schlüsselloch steckte, richtete ich ein stummes Stoßgebet an den Gott, der für derlei Dinge zuständig sein mochte. Nach einigem Herumstochern, einem verbogenen Draht und etlichen mäßig derben Flüchen wurde mein Gebet schließlich erhört, und der Riegel rührte sich mit mürrischem Ächzen. Ehe ich »Los!« sagen konnte, war ich die Wendeltreppe hinunter, lauschte an der unteren Tür und linste durch einen Spalt in den langen Korridor. Der lag leer und schweigend da. Ich schob vorsichtig die Tür auf, schlüpfte aus dem Treppenhaus, marschierte forschen Schrittes an der Galerie der vermissten Draußen wimmelte es von Schülern, die miteinander schwatzten, herumlümmelten, umherschlenderten und Unfug trieben. Jetzt, da die Ferien zum Greifen nah waren, genossen sie die vorübergehende Freiheit der Pausen. Instinktiv nahm ich mit meinem Barett und dem Umhang eine gebückte Haltung ein und stahl mich über den Hof. Ob ich wohl auffallen würde? Selbstverständlich - für die wölfischen Schuljungen musste ich so etwas wie das verletzte Rentier am Schluss der Herde sein. Von wegen! Ich nahm die Schultern zurück und stürmte wie ein Schüler, der zu spät zum Hürdenlauf kommt, hoch erhobenen Kopfes in Richtung Straße davon. Hoffentlich fiel niemandem auf, dass ich unter dem Talar ein Kleid trug. Nein, niemand drehte auch nur den Kopf nach mir um. Je weiter ich den Pausenhof hinter mir ließ, desto sicherer fühlte ich mich, aber mir war klar, dass ich in offenem Gelände noch viel verdächtiger aussehen musste. Direkt vor mir stand eine uralte Eiche gemütlich mitten auf dem Rasen, als stünde sie dort schon seit den Tagen Robin Hoods. Als ich anschlagen wollte (Frei!), schoss urplötzlich ein Arm hinter dem Stamm hervor und packte mich am Handgelenk. »Aua! Lass mich los! Du tust mir weh!«, entfuhr es mir, worauf ich, noch ehe ich mich richtig umgedreht hatte, ebenso urplötzlich wieder losgelassen wurde. Es war Detective Sergeant Graves, der mindestens genauso verdutzt aus der Wäsche schaute wie ich. »Wen haben wir denn da?«, fragte er, und ein Grinsen flog über sein Gesicht. »Wen haben wir denn da?« Ich wollte eine bissige Bemerkung loslassen, verkniff sie mir aber. Ich wusste, dass der Sergeant mich mochte, und ich hatte so eine Ahnung, dass ich schon bald jede Unterstützung würde gebrauchen können. »Der Inspektor hat Sehnsucht nach dir«, verkündete der Sergeant und deutete auf eine kleine Schar Leute, die palavernd auf der Straße neben Gladys standen. Das war alles, was er sagte, aber als wir uns dem Grüppchen näherten, schob er mich sanft vor sich her auf Inspektor Hewitt zu, wie ein freundlicher Terrier, der seinem Herrchen eine tote Ratte präsentiert. Meine abgerissene Schuhsohle flappte wie bei Charlie Chaplins kleinem Tramp, aber obwohl der Inspektor einen flüchtigen Blick darauf warf, war er klug genug, seine Gedanken für sich zu behalten. Neben dem blauen Vauxhall stand der lange Sergeant Woolmer. Sein Gesicht war breit und zerklüftet wie das Matterhorn. In seinem Schatten stand ein sehniger, sonnengebräunter Mann in einem Overall sowie ein Hutzelmännlein mit weißem Schnurrbart, das, kaum, dass es mich erblickte, aufgeregt mit dem Finger auf mich zeigte. »Das ist er!«, sagte er. »Der war’s!« »Ach ja?« Inspektor Hewitt nahm mir das Barett ab und streifte mir ehrerbietig wie ein Kammerdiener den Talar von den Schultern. Das Männlein machte Stielaugen. »Herrje«, brummte es enttäuscht. »Das ist ja bloß ein Mädchen!« Ich hätte ihm am liebsten eine runtergehauen. »Ja, die isses!«, sagte der Gebräunte. »Mr Ruggles hat Grund zu der Annahme, dass du oben auf dem Turm warst.« Der Inspektor nickte dem Schnurrbärtigen zu. »Und wenn schon«, erwiderte ich. »Ich hab mich nur mal umgesehen.« »Der Zutritt zum Turm ist streng verboten«, verkündete Mr Ruggles nachdrücklich. »Verboten! So steht es auch auf dem Schild. Kannst du nicht lesen?« Ich zuckte anmutig die Achseln. »Wenn ich gewusst hätte, dass du bloß ein Mädchen bist, wär ich auch noch die Leitern hochgekraxelt.« An den Inspektor gewandt fügte er hinzu: »Dabei sind meine Knie auch nicht mehr das, was sie mal waren.« Er drehte sich wieder zu mir um: »Ich wusste, dass du da oben bist, hab aber so getan, als hätt ich nix gesehen, und lieber die Polizei gerufen. Und tu bloß nicht so, als hättest du das Schloss nicht geknackt. Für das Schloss bin ich verantwortlich, und ich weiß genau, dass es abgesperrt war, so wahr ich hier in Fludd’s Lane stehe! Also so was! Ein Mädchen! Ts ts ts!«, brummelte er und schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hast also das Schloss geknackt?«, fragte mich der Inspektor. Er wollte sich nichts anmerken lassen, aber ich spürte sehr wohl, dass er ziemlich überrascht war. »Wo hast du das denn gelernt?« Das konnte ich ihm natürlich nicht verraten. Dogger musste unter allen Umständen gedeckt werden. »Ach, irgendwo und irgendwann«, antwortete ich. Der Inspektor musterte mich mit einem durchbohrenden Blick. »Manche Leute würden sich mit einer solchen Antwort zufrieden geben, Flavia, ich nicht.« Jetzt kommt gleich wieder der »König-Georg-ist-kein-alberner-Mensch«-Spruch, dachte ich, aber Inspektor Hewitt hatte offenbar beschlossen, auf eine Erwiderung meinerseits zu warten, egal wie lange es dauern mochte. »Auf Buckshaw ist nicht viel los«, sagte ich. »Da probiere ich manchmal irgendwas aus, damit mir nicht langweilig wird.« Er hielt mir den schwarzen Talar und das Barett hin. »Darum läufst du wohl auch in diesem Kostüm herum. Damit dir nicht langweilig wird.« »Das ist kein Kostüm. Wenn es Sie interessiert: Ich habe die Sachen unter einem losen Ziegel auf dem Turmdach gefunden. Sie haben irgendetwas mit Mr Twinings Tod zu tun, das steht fest.« Hatte Mr Ruggles vorher schon Stielaugen gemacht, schienen sie ihm jetzt schier aus dem Kopf zu fallen. »Mr Twining?«, sagte er. »Der Mr Twining, der damals vom Turm gesprungen ist?« »Mr Twining ist nicht gesprungen«, widersprach ich. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, es dem grässlichen Hutzelzwerg heimzuzahlen. »Er wurde …« »Danke, Flavia«, fiel mir Inspektor Hewitt ins Wort, »das reicht. Aber wir wollen Ihre Zeit nicht noch länger in Anspruch nehmen, Mr Ruggles. Sie sind ja ein vielbeschäftigter Mann.« Ruggles plusterte sich auf wie ein balzender Täuberich, nickte dem Inspektor zu, bedachte mich mit einem unverschämten Feixen und stapfte davon. »Vielen Dank, dass Sie uns verständigt haben, Mr Plover«, wandte sich der Inspektor jetzt dem Mann im Overall zu, der schweigend dabei gestanden hatte. Mr Plover zupfte an seiner Haartolle und ging wortlos zu seinem Traktor. »Unsere großen Privatschulen sind kleine wehrhafte Städte für sich«, erklärte der Inspektor mit ausholender Gebärde. »Als du in die Zufahrt eingebogen bist, hat Mr Plover dich als unbefugten Eindringling erkannt und ist sogleich zur Pförtnerloge gelaufen.« Verflucht sei Mr Plover! Und der alte Ruggles gleich mit! Wenn ich wieder zu Hause war, durfte ich nicht vergessen, den beiden einen Krug rosa Limonade zu schicken, nur um zu zeigen, dass ich nicht nachtragend war. Für Anemonen war es leider schon zu spät im Jahr, weshalb anemonin nicht infrage kam. Tollkirschen dagegen waren vereinzelt noch zu finden, wenn man wusste, wo man zu suchen hatte. Inspektor Hewitt überreichte Sergeant Graves, der schon mehrere Bögen Seidenpapier aus seiner Tasche geholt hatte, Barett und Talar. »Prima!«, sagte der Sergeant. »Damit hat uns die Kleine abgenommen, über das Dach zu robben.« Der Inspektor warf ihm einen Blick zu, der einen durchgegangenen Gaul zum Stehen gebracht hätte. »’tschuldigung, Sir«, sagte der Sergeant mit puterrotem Gesicht und wickelte die Kleidungsstücke sorgfältig ein. »Jetzt erzähl mir bitte mal ganz ausführlich, wie du die Sachen entdeckt hast«, sagte Inspektor Hewitt, als wäre nichts vorgefallen. »Lass aber nichts aus, und dichte auch nichts dazu.« Alles, was ich sagte, notierte er sich mit seiner flinken, mikroskopisch kleinen Handschrift. Da ich Feely beim Frühstück immer gegenübersaß, während sie ihr Tagebuch schrieb, war ich darin geübt, auf dem Kopf zu lesen, aber Inspektor Hewitts Zeilen glichen über die Seite krabbelnden Ameisenkolonnen. Ich erzählte ihm alles haarklein: von den knarrenden Leitern bis zu meinem beinahe tödlichen Sturz, vom losen Dachziegel bis zu dem, was sich darunter verborgen hatte, bis hin zu meiner genialen Flucht. Als ich fertig war, kritzelte er noch irgendwelche Zeichen neben meinen Bericht, deren Bedeutung ich leider nicht mal erahnen konnte, dann klappte er sein Büchlein zu. »Vielen Dank, Flavia. Damit hast du uns sehr geholfen.« Zumindest besaß er den Anstand, es zuzugeben. Ich stand erwartungsvoll vor ihm. »Leider sind König Georgs Schatztruhen nicht tief genug, um dich innerhalb von vierundzwanzig Stunden zweimal nach Hause zu chauffieren«, sagte er. »Aber wir warten noch, bis du losgeradelt bist.« »Soll ich Ihnen wieder Tee bestellen?«, fragte ich keck. Er stand einfach da, mit beiden Beinen fest im Gras. Seinen Gesichtsausdruck konnte ich nicht deuten. Kurz darauf summten Gladys’ Dunlop-Reifen munter über die Seinen, wie sich Daffy ausgedrückt hätte, blieben immer weiter zurück. Noch ehe ich eine Viertelmeile zurückgelegt hatte, überholte mich der blaue Vauxhall. Als er an mir vorbeifuhr, winkte ich wie verrückt, aber die Insassen hinter den Fenstern verzogen keine Miene. Hundert Meter weiter vorn leuchteten die Bremslichter auf, und der Wagen hielt auf dem Seitenstreifen. Als ich angeradelt kam, kurbelte der Inspektor das Seitenfenster herunter. »Wir fahren dich nach Hause. Sergeant Graves packt dein Fahrrad in den Kofferraum.« »Hat König Georg es sich anders überlegt, Herr Inspektor?« Er sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich bislang noch nicht bei ihm gesehen hatte. Blickte er etwa sorgenvoll drein? »Nein. König Georg hat es sich nicht anders überlegt. Aber ich.«  19 Ich möchte nicht übertreiben, aber in jener Nacht schlief ich den Schlaf der Verdammten. Ich träumte von Zinnen und losen Ziegeln, um die der Regen peitschte, und wo der Wind den Duft von Veilchen vom Meer heranwehte. Eine bleiche Frau in altmodischer Tracht stand an meinem Bett und raunte mir ins Ohr, die Glocken würden läuten. Ein alter Seebär im Ölzeug hockte auf einem Pfahl und flickte mit einer Ahle seine Netze, während hinter ihm, weit draußen über dem Meer, ein kleines Flugzeug der untergehenden Sonne entgegenflog. Als ich endlich aufwachte, strahlte die Sonne durchs Fenster, und ich war schauderhaft erkältet. Noch ehe ich zum Frühstück hinunterging, hatte ich alle Taschentücher aus meiner Nachttischschublade verbraucht und ein noch fast neues Badehandtuch ruiniert. Ich muss wohl nicht erklären, weshalb meine Laune nicht die allerbeste war. »Komm mir bloß nicht zu nahe!«, sagte Feely, als ich schnaufend wie ein Nilpferd ans andere Ende des Tisches wankte. »Stirb, Hexe!«, brachte ich gerade noch heraus und machte das Zeichen gegen den bösen Blick. »Flavia!« Ich stocherte in meinen Frühstücksflocken mit Milch herum und rührte sie mit einer Ecke meines Toasts um. Aber statt dass die verbrannte Kruste das Ganze ein wenig gewürzt hätte, schmeckte die teigige Pampe immer noch wie Pappendeckel. Dann gab es auf einmal einen Ruck, und ich fiel in einen anderen Bewusstseinszustand, wie bei einer schlampig geklebten Filmrolle. Ich war am Tisch eingeschlafen. »Was ist denn mit dir los?«, hörte ich Feely fragen. »Ein lähmender Schlummer hat sich ihrer bemächtigt, so geschwächt ist sie von ihren gestrigen Ausschweifungen«, warf Daffy ein. Daffy las nämlich gerade Bulwer-Lyttons Pelham, immer ein paar Seiten als Abendlektüre, und bis sie damit durch war, wurden wir tagtäglich mit absurden Kostproben eines Prosastils gequält, der steif wie ein Ladestock war. Zumindest das mit dem »gestrig« stimmte, darum nickte ich bestätigend. Plötzlich sprang Feely erschrocken auf. »Großer Gott!«, rief sie und schlug ihren Morgenmantel wie ein Leichentuch um sich. »Wer in aller Welt ist das?« Jemand, von dem nur der Umriss zu erkennen war, hatte die gewölbten Hände an die Terrassentür gelegt und spähte zu uns herein. »Ach, das ist der Schriftsteller«, sagte ich. »Der mit den englischen Landsitzen. Mr Pemberton.« Feely entfloh quietschend treppauf, wo sie in ihr enges blaues Twinset schlüpfen, ihre frühmorgendlichen Verunstaltungen mit pfundweise Puder bestäuben und die Treppe anschließend als eine andere wieder herunterschweben würde - als Olivia de Havilland zum Beispiel. So verhielt sie sich immer, wenn ein fremder Mann unser Anwesen betrat. Daffy dagegen schaute nur flüchtig auf und las weiter. Wie immer blieb alles an mir hängen. Ich ging auf die Terrasse hinaus und machte die Tür hinter mir zu. »Guten Morgen, Flavia!«, begrüßte mich Pemberton schmunzelnd. »Hast du gut geschlafen?« Ob ich gut geschlafen hatte? Blöde Frage! Ich stand ihm direkt gegenüber, den Schlaf noch in den Augen, die Haare Beeton’s Benimmbuch für Damen konnte nicht schaden. Feely hatte mir das Buch zum letzten Geburtstag geschenkt, aber es diente immer noch als Unterlage für das zu kurze Bein meines Bettes. »Geht so«, erwiderte ich. »Ich bin erkältet.« »Das tut mir aber leid. Ich hatte gehofft, mich mit deinem Vater über Buckshaw unterhalten zu können. Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber mein Aufenthalt hier in der Gegend ist leider nur von begrenzter Dauer. Seit Kriegsende sind die Preise für eine Unterkunft selbst in einem so bescheidenen Gasthaus wie dem Dreizehn Erpel schlicht erschütternd. Nicht, dass ich Mitleid schinden wollte, aber wir armen Gelehrten nagen eben doch am Hungertuch.« »Haben Sie schon gefrühstückt, Mister Pemberton?«, erkundigte ich mich. »Mrs Mullet bringt Ihnen bestimmt noch etwas.« »Sehr nett von dir, Flavia, aber der Wirt vom Dreizehn Erpel hat mir ein wahres Festmahl, bestehend aus zwei Würstchen und einem Ei, vorgesetzt, und ich muss auf meine Westenk nöpfe aufpassen.« Was ich mit letzterer Mitteilung anfangen sollte, war mir nicht ganz klar, und meine Erkältung raubte mir die Lust, näher nachzufragen. »Vielleicht kann ich Ihnen ja etwas über Buckshaw erzählen«, schlug ich vor. »Mein Vater sitzt im …« Großartig! Das hast du mal wieder schlau angestellt, Flavia! »Mein Vater sitzt bei einer Besprechung mit der Bank in der Stadt.« »Danke für das Angebot, aber ich will dich nicht langweilen. Ich habe ein paar knifflige Fragen über Entwässerungsgräben, »Dass man einen Appendix herausnimmt, habe ich ja schon mal gehört«, entfuhr es mir, »aber noch nie, dass man einen anfügt.« Noch mit Triefnase war ich in der Lage, meine Klinge mit den Allerbesten kreuzen. Ein prustender Nieser verdarb leider ein wenig die Wirkung. »Vielleicht darf ich kurz hereinkommen, mich ein wenig umsehen und mir ein paar Notizen machen? Ich störe auch nicht.« Ich dachte noch über Synonyme für »Nein« nach, als ich einen Motor tuckern hörte und Dogger hinter dem Lenker unseres alten Traktors am Ende der Allee auftauchte, wo er eine Ladung Kompost in den Garten fuhr. Mr Pemberton, der sofort gemerkt hatte, dass ich über seine Schulter spähte, drehte sich neugierig um. Als er Dogger heranrumpeln sah, winkte er ihm zu. »Das ist doch der alte Dogger, nicht wahr? Der getreue Gefolgsmann eurer Familie.« Dogger hatte angehalten und drehte sich seinerseits um, weil er wissen wollte, wem Pemberton winkte. Als er niemanden erblickte, lupfte er den Hut wie zum Gruß, kratzte sich den Kopf, stieg vom Traktor und kam quer über den Rasen auf uns zu. »Wie schon gesagt, Flavia«, sagte Pemberton und schaute auf seine Armbanduhr, »ich kann mich nicht allzu lange hier aufhalten. Ich bin drüben in Nether Eaton mit meinem Verleger verabredet. Wir wollen uns ein Grabmal ansehen, ein ausgesprochen seltenes Stück, bei dem beide Hände deutlich zu erkennen sind. Auch die Schmiedearbeit ringsherum soll au ßerordentlich sein. Der gute Quarrington hat ein Faible für Pembertons Grüfte und Grabmäler die Schublade des Autors nie verlässt.« Er warf sich den Künstlerrucksack über die Schulter und ging die Treppe hinunter. Unten angekommen blieb er kurz stehen, schloss die Augen und labte sich mit einem tiefen Atemzug an der frischen Morgenluft. »Schönen Gruß an Colonel de Luce«, rief er noch, dann war er weg. Dogger kam die Treppe hochgeschlurft, als hätte er in der Nacht kein Auge zugetan. »Besuch, Miss Flavia?«, fragte er, nahm den Hut ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Das war Mister Pemberton. Er schreibt ein Buch über Landhäuser oder Grabmäler oder irgend so was. Er wollte sich mit Vater über Buckshaw unterhalten.« »Glaube nicht, dass ich schon mal von ihm gehört hab. Aber ich bin ja auch kein großer Leser vor dem Herrn. Trotzdem, Miss Flavia …« Jetzt würde er mir gleich eine Moralpredigt halten, gespickt mit Gleichnissen und grauenerregenden Geschichten, die alle darauf hinausliefen, dass man sich nicht mit Fremden einlassen soll. Irrtum! Er begnügte sich damit, den Finger an die Hutkrempe zu legen, und wir beide standen einfach da und glotzten wie zwei Kühe über die Wiese. Botschaft abgeschickt, Botschaft erhalten. Guter alter Dogger. Das war seine Lehrmethode. Dogger war es auch gewesen, der mir seinerzeit geduldig beigebracht hatte, wie man Schlösser knackt. Ich hatte ihn eines Tages dabei angetroffen, wie er sich an der Gewächshaustür zu schaffen gemacht hatte. Bei einem seiner »Vorfälle« hatte er den Schlüssel verloren und mühte sich nun mit den verbogenen Zinken einer ausgemusterten Küchengabel ab, die er in einem Blumentopf gefunden hatte. Seine Hände zitterten heftig. Wenn Dogger in diesem Zustand war, hatte man immer den Eindruck, als bekäme man sofort einen elektrischen Schlag, wenn man ihn nur antippte. Trotzdem hatte ich ihm meine Hilfe angeboten, woraufhin er mir gezeigt hatte, wie man mit einem Dietrich umgeht. »Eigentlich ist es ganz einfach, Miss Flavia«, verkündete er nach meinem dritten vergeblichen Versuch. »Du musst nur immer an die drei D denken: Drehmoment, Druck und Durchhalten! Stell dir vor, du wohnst in diesem Schloss. Hör auf deine Fingerspitzen.« »Wo hast du das gelernt?«, fragte ich staunend, als das Schloss aufsprang. Wenn man den Bogen erst einmal raushatte, war es geradezu kinderleicht. »Irgendwo und irgendwann«, erwiderte Dogger und verschwand im Gewächshaus, wo er sich sofort in irgendeine Arbeit vertiefte, sodass ich mich nicht mehr traute, genauer nachzufragen. Obwohl die Sonne freundlich durch mein Laborfenster schien, konnte ich einfach keinen klaren Gedanken fassen. Ich war immer noch mit dem beschäftigt, was mir Vater erzählt hatte. Dazu kam das, was ich auf eigene Faust herausgefunden hatte: wie Mr Twining und Horace Bonepenny zu Tode gekommen waren. Was hatte es mit dem Barett und dem Talar auf sich, die ich auf dem Dach von Anson House gefunden hatte? Wem hatten sie gehört und warum hatte der Betreffende sie dort oben versteckt? Sowohl Vaters Schilderung als auch der Reporter des Hinley-Kurier hatten bestätigt, dass Mr Twining seinen Talar trug, als er in den Tod stürzte. Dass beide sich geirrt hatten, war ausgesprochen unwahrscheinlich. Dann war da der Diebstahl des Rächers von Ulster aus dem Was mochte aus Dr. Kissing geworden sein? Ob Miss Mountjoy das wusste? Sie schien ja auch sonst alles zu wissen. Lebte der alte Herr womöglich noch? Ich zweifelte sehr daran. Seit er seine kostbarste Marke scheinbar in Flammen hatte aufgehen sehen, waren dreißig Jahre vergangen. Mir schwirrte der Kopf, mein Hirn war wie Watte. Meine Nebenhöhlen waren verstopft, meine Augen tränten, und ich spürte, dass ein ganz fieses Kopfweh im Anmarsch war. Ich musste etwas unternehmen, um auf andere Gedanken zu kommen. Letztendlich war ich ja selber schuld. Ich hatte mir kalte Füße geholt. Mrs Mullet sagte immer: »Warme Füße, kühler Kopf, dann macht die Nase auch nicht ›tropf‹.« Wenn man sich eine Erkältung eingefangen hatte, gab es nur ein wirkungsvolles Gegenmittel, darum ging ich in die Küche hinunter, wo Mrs Mullet mit Teigausrollen beschäftigt war. »Du schniefst ja, Schatz«, sagte sie, ohne von ihrem Nudelholz aufzublicken. »Ich mach dir gleich einen schönen Teller Hühnerbrühe.« Konnte sie hellsehen? Bei »Hühnerbrühe« dämpfte sie die Stimme zu einem Flüstern und warf einen verschwörerischen Blick über die Schulter. »Heiße Hühnerbrühe!«, raunte sie. »Ein Geheimtipp, den mir Mrs Jacobson beim Teekränzchen der Landfrauen verraten hat. Das Rezept befindet sich schon seit der Flucht aus Ägypten in ihrer Familie. Aber ich habe nichts gesagt, verstanden?« Mrs Mullets zweite Lieblingsdorfweisheit rankte sich um Eukalyptus. Sie hatte Dogger gezwungen, im Gewächshaus Eukalyptusbäume zu pflanzen, und anschließend die Blätter unverdrossen überall auf Buckshaw als Schutz gegen Erkältung und Grippe versteckt. »Hat man Eukalyptus hier, bleibt die Grippe vor der Tür!«, hatte sie triumphierend verkündet und tatsächlich Recht behalten. Seit sie die wächsernen dunkelgrünen Blätter an unverdächtigen Orten im ganzen Haus versteckt hatte, hatte keiner von uns auch nur einen Schnupfen gehabt. Bis jetzt. Anscheinend war etwas schiefgegangen. »Nein danke, Mrs Mullet«, lehnte ich ab, »ich habe mir grade die Zähne geputzt.« Das war zwar gelogen, aber etwas Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Abgesehen davon, dass meiner Ausrede etwas Märtyrerhaftes anhaftete, hatte sie den zusätzlichen Vorteil, meinen angeschlagenen Ruf in punkto Körperpflege aufzupolieren. Auf dem Weg nach draußen mopste ich aus der Speisekammer eine Flasche mit gelbem Granulat, die mit dem Etikett Partingtons Geflügelfond versehen war, und von einem Wandkerzenhalter im Flur bediente ich mich mit einer Handvoll Eukalyptusblätter. Oben im Labor holte ich eine Flasche Natriumkarbonat aus dem Regal, die Onkel Tar in seiner spinnenhaften, gestochen scharfen Handschrift mit der Aufschrift Sal aeratus versehen hatte, und obendrein, akribisch wie immer, mit Sod. Bicarb., um es von Kaliumbikarbonat zu unterscheiden, das manchmal auch als Sal aeratus bezeichnet wird. Pot. Bicarb. war eher in Feuerlöschern als in menschlichen Mägen zu finden. Ich kannte das Zeug als NaHCO3, vom einfachen Volk auch kurz »Natron« beziehungsweise »Backpulver« genannt. Irgendwo hatte ich auch gehört, dass diese Leute einer tüchtigen Dosis Natron sogar zutrauen, noch die hartnäckigste Erkältung aus dem Körper zu schwemmen. Chemisch gesehen ist das durchaus folgerichtig, überlegte ich, denn wenn Natron ein Heilmittel ist und Hühnerbrühe auch, dann müsste doch ein Glas sprudelnder Hühnerbrühe wahre Wunder wirken! Mir wurde ganz schwindlig. Vielleicht De Luce’s Grippelösung - Flavias Famose Formel! Ich summte sogar vergleichsweise vergnügt vor mich hin, während ich einen Viertelliter Trinkwasser in ein Becherglas gab und das Gefäß auf den Bunsenbrenner stellte. Inzwischen kochte ich die klein gerissenen Eukalyptusblätter in einem verschlossenen Glaskolben auf und sah zu, wie sich strohgelbe Öltropfen am Ende der Destillationsschlange absetzten. Als das Wasser aufsprudelte, nahm ich es von der Flamme und ließ es ein paar Minuten abkühlen, dann gab ich zwei gehäufte Teelöffel Partingtons Geflügelfond und einen Esslöffel gutes altes NaHCO3 hinein. Anschließend rührte ich kräftig um, bis das Gebräu wie der Vesuv über den Rand des Becherglases brodelte, hielt mir die Nase zu und kippte mir die Hälfte in den Schlund. Ein Schluck, und es war unten. Hühnersekt! O Herr, schütze uns alle, die wir uns im Weinberg der Experimentalchemie abrackern! Ich nahm den Stopfen vom Kolben und kippte das Eukalyptuswasser samt den Blättern in die Reste der gelben Suppe. Dann zog ich den Pullover aus, drapierte ihn mir als Inhalierhaube um den Kopf und atmete die kampferhaltigen Dämpfe von Geflügeleukalyptus ein. Schon spürte ich, wie irgendwo in den verschleimten Abgründen meines Schädels meine Nebenhöhlen die Waffen streckten. Ich fühlte mich schon beträchtlich besser. Da klopfte es so laut, dass mir beinahe das Herz stehen blieb. In diesen Teil des Hauses verirrte sich so selten jemand, dass ein Klopfen so unerwartet kam wie die unvermittelten Orgelakkorde in einem Horrorfilm, wenn die Tür aufgeht, hinter der lauter Leichen liegen. Ich schob den Riegel zurück. Im Flur stand Dogger und wrang seine Mütze in den Händen wie eine Als ich seine Hände nahm, hörten sie sofort zu zittern auf. Auch wenn ich diese Erkenntnis nicht oft in die Tat umsetzte, so hatte ich doch die Erfahrung gemacht, dass eine Berührung manchmal mehr sagen kann als hundert Worte. »Wie lautet die Losung?«, fragte ich, verschränkte die Finger und legte die Hände auf den Kopf. Dogger sah mich ungefähr fünf Sekunden verdattert an, dann wurden seine angespannten Züge milder und er hätte beinahe gelacht. Wie ein Automat verschränkte er die Finger und ahmte mich nach. »Es liegt mir auf der Zunge …«, sagte er zögernd, dann raunte er: »Die Losung heißt: Arsen.« »Bloß nicht runterschlucken«, erwiderte ich, »das Zeug ist giftig.« Mit beträchtlicher Willensstärke rang sich Dogger ein Lächeln ab. Damit war dem Ritual ausreichend Genüge getan. »Tritt ein, mein Freund«, sagte ich und riss die Tür weit auf. Dogger kam herein und sah sich so verwundert um, als hätte es ihn unvermittelt in die Werkstatt eines mesopotamischen Alchimisten verschlagen. Er war schon so lange nicht mehr in diesem Teil des Hauses gewesen, dass er das Labor völlig vergessen hatte. »So viel Glas!«, sagte er mit bebender Stimme. Ich zog Tars altmodischen Armlehnstuhl vom Schreibtisch heran und hielt das Möbel fest, bis Dogger Platz genommen hatte. »Setz dich. Ich mach dir was zurecht.« Ich füllte einen sauberen Kolben mit Wasser und stellte ihn auf einen kleinen Gitterrost. Als ich das Streichholz an den Bunsenbrenner hielt, zuckte Dogger bei dem leisen Plop! zusammen. »Wird gleich serviert!«, verkündete ich. »Kleinen Augenblick.« Das Praktische an Laborgläsern ist, dass Wasser darin mit Lichtgeschwindigkeit kocht. Ich warf einen Teelöffel schwarze Blätter in ein Becherglas und kippte das kochende Wasser darüber. Als das Gebräu dunkelrot war, reichte ich es Dogger, der es skeptisch musterte. »Keine Sorge«, beruhigte ich ihn. »Es ist Tetley’s.« Er nippte an seinem Tee und pustete, um ihn abzukühlen. Während er trank, fiel mir der Grund ein, weshalb wir Engländer uns eher vom Tee als vom Buckingham Palace oder dem Parlament Seiner Majestät regieren lassen. Abgesehen von der Seele ist das Teekochen das Einzige, was unsereinen vom Menschenaffen unterscheidet. So hatte es jedenfalls der Vikar einmal meinem Vater gegenüber ausgedrückt, der es Feely weitererzählt hatte, die es wiederum Daffy weitererzählt hatte und die wiederum mir. »Vielen Dank«, sagte Dogger. »Jetzt geht’s mir wieder besser. Aber etwas muss ich dir noch sagen, Miss Flavia.« Ich hockte auf der Schreibtischkante und gab mir Mühe, kumpelhaft zu wirken. »Dann raus damit.« »Na ja …«, Dogger gab sich einen Ruck, »du weißt doch, dass ich hin und wieder … na ja, also, ab und zu jedenfalls, dass ich da manchmal …« »Klar, Dogger«, erwiderte ich. »Geht uns das nicht allen manchmal so?« »Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Weißt du, die Sache ist nämlich die, dass ich … als ich …« Er verdrehte die Augen wie eine Kuh im Schlachthof. »Ich glaube, ich habe womöglich jemandem etwas angetan. Und der Colonel sitzt deswegen jetzt im Bau.« »Sprichst du von Horace Bonepenny?« Dogger ließ das Becherglas mit dem Tee auf den Boden fallen. »Was weißt du über Horace Bonepenny?«, fragte er und packte mich mit eisernem Griff am Handgelenk. Bei jedem anderen außer Dogger hätte ich es mit der Angst zu tun gekriegt. »Alles«, entgegnete ich und machte mich behutsam los. »Ich habe in der Bücherei nachgeschlagen. Ich habe mit Miss Mountjoy gesprochen, und Vater hat mir gestern Abend die ganze Geschichte erzählt.« »Du hast Colonel de Luce gestern Abend gesprochen? In Hinley?« »Ja. Ich bin hingeradelt. Ich habe dir doch noch gesagt, dass es ihm gutgeht. Weißt du das nicht mehr?« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal spielt mir mein Gedächtnis einen Streich.« War das überhaupt möglich? War Dogger tatsächlich irgendwo im Haus oder im Garten Horace Bonepenny begegnet und mit ihm aneinandergeraten? War er tatsächlich am Tod des Mannes beteiligt? War es ein Unfall gewesen? Oder steckte noch mehr dahinter? »Erzähl mir, was passiert ist«, sagte ich. »Erzähl mir alles, woran du dich erinnerst.« »Ich hab geschlafen. Dann hab ich Stimmen gehört. Laute Stimmen. Ich bin aufgestanden und zum Arbeitszimmer des Colonels rübergegangen. Dort stand jemand im Flur.« »Das war ich. Ich stand im Flur.« »Das warst du«, wiederholte Dogger »Du hast im Flur gestanden.« »Richtig. Du hast gesagt, ich soll abzischen.« »Das hab ich gesagt?« Dogger war entsetzt. »Ja, du hast gesagt, ich soll wieder ins Bett gehen.« »Ein Mann kam aus dem Arbeitszimmer«, sagte Dogger unvermittelt. »Ich habe mich neben der Uhr an die Wand gedrückt, Anscheinend hatte er zu einem Zeitpunkt vorgespult, an dem ich längst wieder im Bett lag. »Hast du aber nicht … ihn angefasst, meine ich.« »Nein. Da noch nicht. Ich bin ihm in den Garten nachgegangen. Er hat mich nicht gesehen. Ich bin immer an der Mauer hinter dem Gewächshaus langgeschlichen. Er stand im Gurkenbeet … und aß irgendwas … er war aufgeregt … führte Selbstgespräche … hat zwischendurch immer ganz übel geflucht … hatte offenbar gar nicht mitgekriegt, dass er vom Weg abgekommen war. Und dann ging das Feuerwerk los.« »Das Feuerwerk?« »Na ja, du weißt schon, Raketen, Feuerräder und so was. Ich dachte, im Dorf feiern sie ein Fest. Ist ja schließlich Juni. Im Juni gibt’s oft Feste.« Im Dorf hatte kein Fest stattgefunden, da war ich ganz sicher. Lieber hätte ich mich in zerlöcherten Turnschuhen einmal quer durch den Regenwald geschleppt, als auch nur eine einzige Gelegenheit zu verpassen, auf dem Rummel an der Wurfbude Kokosnüsse zu werfen und mich an Kekskrachern und Erdbeeren mit Schlagsahne zu überfressen. Nein, was die Termine der dörflichen Festivitäten anging, die hatte ich alle drauf. »Und was ist dann passiert?«, fragte ich. Die Einzelheiten konnten wir ein andermal klären. »Dann muss ich wohl eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, lag ich im Gras. Das Gras war nass. Ich bin aufgestanden und ins Bett gegangen. Mir war nicht gut. Muss wohl einen meiner blöden Anfälle gehabt haben, keine Ahnung.« »Und jetzt hast du Angst, dass du womöglich bei einem deiner blöden Anfälle Horace Bonepenny umgebracht hast?« Dogger nickte bedrückt und fasste sich an den Hinterkopf. Wo hatte ich das schon einmal gehört? Ach ja! Hatte nicht Inspektor Hewitt das Gleiche in Bezug auf Vater gefragt? »Nimm den Kopf runter, Dogger«, sagte ich. »Tut mir leid, Miss Flavia. Wenn ich jemanden umgebracht hab, war’s bestimmt keine Absicht.« »Zeig mir mal deinen Kopf.« Dogger rutschte auf dem Stuhl in sich zusammen und beugte sich vor. Als ich seinen Kragen anhob, zuckte er zusammen. Auf seinem Nacken, schräg hinter dem Ohr, saß ein dicker Bluterguss, ungefähr so groß wie ein Schuhabsatz. Als ich ihn vorsichtig betastete, zuckte Dogger noch einmal zusammen. Ich pfiff durch die Zähne. »Von wegen Feuerwerk! Das war kein Feuerwerk, Dogger. Dir hat jemand eins über den Schädel gezogen. Und jetzt läufst du schon zwei Tage mit dem Ding rum! Das muss doch scheußlich weh tun.« »Schon, Miss Flavia. Aber ich hab schon Schlimmeres ausgehalten.« Ich muss ihn ungläubig angesehen haben. »Ich hab mir im Spiegel in die Augen geschaut«, fügte er hinzu. »Die Pupillen waren gleich groß. Eine kleine Gehirnerschütterung höchstens, halb so wild. Da bin ich bald drüber weg.« Ich wollte ihn fragen, wo er denn diese Weisheit herhatte, aber er redete schon weiter: »Hab ich bloß mal irgendwo gelesen.« Mir fiel eine wichtigere Frage ein. »Und wie hast du es bitteschön fertiggebracht, jemanden umzubringen, wenn du bewusstlos warst, Dogger?« Er stand da wie ein begossener Pudel. Er machte den Mund auf und zu, aber es kam kein Ton heraus. »Jemand hat dich überfallen!«, sagte ich. »Jemand hat dich mit einem Schuh niedergeschlagen!« »Ach, das glaub ich nicht, Miss«, sagte er bekümmert. »Denn außer Horace Bonepenny und mir war kein Mensch im Garten.«  20 Eine volle Dreiviertelstunde hatte ich damit verbracht, Dogger zu überreden, ihm einen mit Eiswürfeln gefüllten Waschlappen auf den Nacken legen zu dürfen, aber er hat te sich standhaft geweigert. Ruhe, hatte er mir versichert, sei das Einzige, was er nun brauche. Dann war er in sein Zimmer gegangen. Von meinem Fenster aus sah ich Feely auf der Südseite des Hauses auf dem Rasen liegen. Sie räkelte sich auf einer Decke und war damit beschäftigt, mithilfe mehrerer Hefte der Bildpost die Sonnenstrahlen einzufangen und auf beide Seiten ihres Gesichts zu lenken. Ich nahm Vaters altes Militärfernglas und inspizierte ihren Teint aus der Nähe. Nachdem ich ihr Gesicht ausgiebig studiert hatte, hielt ich folgende Bemerkungen in meinem Notizbuch fest: Montag, 5. Juni 1950, 9.15 Uhr. Versuchsperson wirkt äu ßerlich normal. 54 Stunden seit Verabreichung. Lösung zu schwach? Ver suchsperson immun? Die Eskimos auf der Baffin-Insel sind bekanntlich gegen Giftefeu immun. Bestätigt das etwa meine Vermutung? Aber ich war nicht recht bei der Sache. Es fiel mir schwer, mich auf Feely zu konzentrieren, wenn ich andauernd an Vater und Dogger denken musste. Ich musste meine Gedanken irgendwie festhalten. Darum blätterte ich um und schrieb: Mögliche Verdächtige VATER: Bestes Motiv von allen. Kannte den Toten schon fast sein ganzes Leben lang; wurde erpresst, hat sich kurz vor dem Mord mit Opfer gestritten. Wo er sich zum Tatzeitpunkt aufgehalten hat, ist unbekannt. Insp. Hewitt hat ihn bereits verhaftet und des Mordes beschuldigt, weshalb wir wissen, auf wen sich der Verdacht der Polizei konzentriert! DOGGER: Schlecht einzuschätzen. Ich weiß nicht viel über seine Vergangenheit, aber er ist Vater gegenüber bedingungslos loyal. Hat Vaters Streit mit Bonepenny belauscht (ich aber auch) und womöglich beschlossen, die Erpressung aus der Welt zu schaffen. Leidet an »Vorfällen«, die sein Gedächtnis beeinträchtigen. Könnte er Bonepenny während eines solchen Vorfalls umgebracht haben? Womöglich aus Versehen (Unfall)? Aber wer hat ihn dann niedergeschlagen? MRS MULLET: Kein Motiv, es sei denn, sie wollte sich an demjenigen rächen, der ihr eine tote Schnepfe vor die Küchentür gelegt hat. Zu alt. DAPHNE de LUCE und OPHELIA de LUCE: Quatsch! Sind viel zu sehr in Bücher und Spiegel vertieft, als dass sie auch nur der Küchenschabe in ihrem Suppenteller ein Härchen krümmen könnten. Haben Opfer nicht gekannt, hatten kein Motiv und lagen schnarchend im Bett, als Bonepenny sein Leben aushauchte. Fall abgeschlossen, was diese beiden Gänse angeht. MARY STOKER: Motiv: Bonepenny hat sich ihr im Dreizehn Erpel unsittlich genähert. Ist sie ihm nach Buckshaw gefolgt und hat ihn im Gurkenbeet abgemurkst? Eher unwahrscheinlich. TULLY STOKER: Bonepenny war Gast im Dreizehn Erpel. Hat Tully erfahren, was Mary zugestoßen ist? Wollte er seine Tochter rächen? Oder ist ein zahlender Gast wichtiger als die Ehre der eigenen Tochter? NED CROPPER: Ist scharf auf Mary (und andere). Wusste, was zwischen Mary und Bonepenny vorgefallen war. Wollte ihn womöglich kaltmachen. Gutes Motiv, aber kein Indiz, dass er in jener Nacht auf Buckshaw war. Könnte er Bonepenny irgendwo anders umgebracht und in einer Schubkarre hergebracht haben? Aber Tully könnte das genauso gut gemacht haben. Oder Mary! MISS MOUNTJOY: Sehr überzeugendes Motiv. Ist davon überzeugt, dass Bonepenny (und Vater) ihren Onkel, Mr Twining, umgebracht haben. Problem: Alter. Kann mir nicht vorstellen, dass Mountjoy einen großen, starken Kerl wie Bonepenny niederringt. Es sei denn, sie hat Gift benutzt. Frage: Was ist seine offizielle Todesursache? Ob Insp. Hewitt es mir verrät? INSPEKTOR HEWITT: Polizist. Nur der Vollständigkeit halber hier aufgeführt. War zur Tatzeit nicht auf Buckshaw und hat kein (mir bekanntes) Motiv. (Ist er ebenfalls Schüler in Greyminster gewesen?) DETECTIVE SERGEANTS WOOLMER & GRAVES: dito. FRANK PEMBERTON: Kam erst nach dem Mord in Bishop’s Lacey an. MAXIMILIAN BROCK: Gaga, zu alt, kein Motiv. Ich las die Liste dreimal durch und hoffte, dass ich niemanden vergessen hatte. Dann kam mir blitzartig ein Gedanke: War Horace Bonepenny nicht Diabetiker gewesen? Im Dreizehn Erpel hatte ich seine Insulinspritzen gefunden, und eine Spritze hatte gefehlt. Hatte er sie irgendwo verloren? Oder hatte jemand die Spritze geklaut? Bonepenny hatte höchstwahrscheinlich die Fähre von Stavanger Soweit mir bekannt war, hatte er die ganze Zeit über nichts gegessen! Die Pastetenkruste in seinem Zimmer (belegt durch die Feder) stammte von der Pastete, in der er die tote Zwergschnepfe ins Land geschmuggelt hatte. Hatte Tully Stoker dem Inspektor nicht erzählt, sein Gast habe in der Schankstube etwas getrunken? Von Essen war nicht die Rede gewesen! Wenn Bonepenny nun, nachdem er zu Fuß nach Buckshaw gegangen war und Vater erpresst hatte, durch die Küche wieder nach draußen gegangen war - was sehr wahrscheinlich war - und den Schmandkuchen auf dem Fensterbrett erblickt hatte? Wenn er sich nun ein Stück abgeschnitten und es heruntergeschlungen hatte, danach in den Garten gegangen war und einen Zuckerschock erlitten hatte? Mrs Mullets Schmandkuchen hauten uns Bewohner von Buckshaw schließlich auch um, und wir waren keine Diabetiker! Wenn nun tatsächlich Mrs Mullets Kuchen die Todesursache, wenn das Ganze bloß ein dummer Zufall gewesen war? Wenn alle auf meiner Liste aufgeführten Verdachtspersonen unschuldig waren? Wenn Bonepenny überhaupt nicht umgebracht worden war? Wenn dem so wäre, Flavia, meldete sich meine innere Stimme bekümmert zu Wort, warum hatte Inspektor Hewitt dann Vater festgenommen und Anklage gegen ihn erhoben? Mir lief zwar immer noch die Nase, und die Augen tränten, aber ich hatte den Eindruck, als zeigte mein Hühnertrank allmählich Wirkung. Ich las mir die Liste der Verdächtigen noch einmal durch und grübelte, bis ich Kopfschmerzen bekam. Ich kam zu keinem Schluss. Daraufhin hielt ich es für das 2O oder auch Lachgas genannt, etwas, das Buckshaw und seine Bewohner dringend nötig hatten. Lachgas und ein Mordfall - eine komische Kombination. Oder doch nicht? Ich dachte an meine Heldin Marie Anne Paulze Lavoisier, eine der Koryphäen der Chemie, deren Porträt, neben anderen Unsterblichen, in meinem Zimmer am Spiegel hing. Sie hatte das Haar wie einen Heißluftballon aufgetürmt, und neben ihr stand ihr Gatte Antoine, schaute sie bewundernd an und störte sich offenkundig kein bisschen an der albernen Frisur. Das Porträt stammte aus der Zeit der Französischen Revolution und zeigte die beiden in Antoines Labor, wo sie sämtliche Körperöffnungen ihres Gehilfen mit Pech und Bienenwachs verschlossen und ihn in einen Schlauch aus gefirnisster Seide gesteckt hatten, von wo aus er durch einen Strohhalm in Lavoisiers Messinstrumente atmete, worauf, als Marie Anne Paulze Lavoisier eben eine Darstellung des Experiments zeichnete, die Revolutionäre die Tür eintraten und ihren Mann zur Guillotine schleiften. Ich hatte Feely diese grausig amüsante Anekdote erzählt. »Eigentlich hätte ich es eher einer Person niederen Standes zugetraut, dass sie unbedingt eine Heldin nötig hat«, hatte sie arrogant genäselt. Aber alle diese Überlegungen führten zu nichts. Ich schweifte immer wieder ab, meine Gedanken waren so wirr wie die Strohhalme in einem Heuhaufen. Ich musste irgendeinen Katalysator finden, wie es beispielsweise Kirchhoff gelungen war. Er hatte entdeckt, dass in Wasser gekochte Stärke immer noch Stärke blieb; wenn man aber ein paar Tropfen Schwefelsäure hinzugab, wurde die Stärke in Glukose umgewandelt. Ich hatte das Experiment einmal wiederholt, um mich zu vergewissern, Ich ging wieder ins Haus, das mir nun seltsam still vorkam. Vor dem Salon blieb ich stehen und lauschte, aber es war nichts zu hören, weder eine klavierspielende Feely noch eine seitenumblätternde Daffy. Ich machte die Tür auf. Der Salon war leer. Mir fiel ein, dass meine Schwestern beim Frühstück davon gesprochen hatten, nach Bishop’s Lacey zu spazieren, um ihre Briefe zur Post zu bringen. Abgesehen von Mrs Mullet, die in der Küche werkelte, und Dogger, der sich oben ausruhte, war ich, womöglich zum allerersten Mal, ganz allein auf Buckshaw. Um Gesellschaft zu haben, stellte ich das Radio an, und als sich die Röhren erwärmt hatten, erfüllten die Klänge einer Operette das Zimmer. Es war Gilbert und Sullivans Der Mikado, eine meiner Lieblingsoperetten. Wäre es nicht herrlich, hatte ich irgendwann einmal gedacht, wenn Feely, Daffy und ich so glücklich und sorglos sein könnten wie Yum-Yum und ihre beiden Schwestern? Schulmädchen bringen frischen Wind, Kess wie wir Gören nun mal sind Schocken wir Eltern, Pauker, Kind - Drei Mädchen aus der Schul’! Ich lächelte, als alle drei abwechselnd sangen: Alles ist für uns nur ein Spaß. s’ gibt kein Pardon, wenn es heißt: Gib Gas! Leben heißt Freude im Übermaß! Drei Mädchen aus der Schul’! Von Musik umfangen, warf ich mich in einen üppig gepolsterten Sessel und ließ die Beine über die Lehne baumeln, nahm Ich musste kurz eingeschlafen sein, vielleicht war es auch nur ein Tagtraum gewesen, keine Ahnung, aber als ich hochschreckte, sang der kaiserliche Oberhofscharfrichter gerade: Er schnuppert Duft Von Kerkerluft Sofort musste ich wieder an Vater denken, und Tränen schossen mir in die Augen. Wir waren nicht in einer Operette, dachte ich. Das Leben war kein Spaß, es gab nicht nur Freude im Übermaß, und Feely und Daffy und ich waren keine drei kleinen Schulmädchen, sondern drei Schwestern, deren Vater des Mordes beschuldigt wurde. Ich sprang auf und wollte das Radio abstellen, aber als ich schon den Finger auf dem Knopf hatte, verkündete der Scharfrichter unerbittlich aus dem Lautsprecher: So wird jeder Kerkergast Erfahr’n, dass, auch wenn’s verhasst Die Strafe zum Verbrechen passt Die Strafe zum Verbrechen passt … Dass die Strafe zum Verbrechen passt. Aber klar! Flavia, Flavia, Flavia! Wie konntest du das übersehen? Wie eine Stahlkugel, die in eine Kristallglasvase fällt, machte es Klick! und ich wusste so sicher, wie ich meinen eigenen Namen kannte, dass Horace Bonepenny umgebracht worden war. Fehlte nur noch eines (na ja, eigentlich zweierlei, höchstens dreierlei), um alles, hübsch verpackt wie eine Pralinenschachtel, Inspektor Hewitt zu präsentieren, mit rotem Schleifchen »Mrs M«, fragte ich, »darf ich ganz offen mit Ihnen reden?« Sie drehte sich um und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Aber gewiss doch, Schatz. Machst du das nicht immer?« »Es geht um Dogger.« Ihr gutmütiges Lächeln gerann, und sie wandte sich wieder ab und machte sich an einem Knäuel Küchenfaden zu schaffen, mit dem sie den Vogel zum Braten zusammenbinden wollte. »Heutzutage ist aber auch alles Schund«, brummte sie. »Sogar die olle Schnur. Erst letzte Woche hab ich zu Alf gesagt: ›Der Faden, wo du aus der Schreibwarenhandlung mitgebracht hast … ‹« »Bitte, Mrs Mullet«, flehte ich, »ich muss Sie etwas fragen! Es geht um Leben und Tod! Bitte!« Sie sah mich über ihre Brille an wie eine Kirchenvorsteherin, und zum ersten Mal überhaupt kam ich mir in ihrer Gegenwart wie ein kleines Mädchen vor. »Sie haben mir doch mal erzählt, dass Dogger im Gefängnis war und dass er sich von Rattenfleisch ernähren musste. Und dass er gefoltert wurde.« »Genauso war’s, Schatz. Mein Alf meint ja, ich hätt’s nicht ausplaudern sollen, und es ist besser, man spricht gar nicht drüber. Der alte Dogger ist eh schon so mit den Nerven runter.« »Und woher wissen Sie das? Das mit dem Gefängnis, meine ich.« »Mein Alf war schließlich auch beim Militär. Hat’ne Weile unter dem Colonel gedient, zusammen mit Dogger. Er redet da »Hat Dogger damals jemanden umgebracht?«, fragte ich ohne Umschweife. »Würd ich doch meinen, Schatz. Er und alle anderen. Das war doch schließlich ihre Aufgabe, verstehst du?« »Ich meine von irgendwelchen Feinden abgesehen.« »Dogger hat deinem Vater das Leben gerettet, und nicht nur einmal. Er war Sanitäter oder so was, und zwar ein tüchtiger. Angeblich hat er deinem Vater eine Kugel aus der Brust geholt, gleich neben dem Herzen. Als er ihn wieder zunähen wollte, ist ein Bursche von der Luftwaffe durchgedreht, Kriegskoller hatte der, und wollte alle im Zelt niederstechen. Das hat Dogger verhindert.« Mrs Mullet zog den letzten Knoten fest und schnitt den Faden mit der Schere ab. »Verhindert?« »Ja, Schatz.« »Sie meinen, er hat den Mann umgebracht.« »Dogger konnte sich hinterher an nichts mehr erinnern. Er hatte wohl seine fünf Minuten, weißt du, und …« »Und Vater glaubt jetzt, dass es wieder passiert ist, dass ihm Dogger noch einmal das Leben gerettet hat, indem er Horace Bonepenny umgebracht hat! Darum beschuldigt er sich selbst!« »Damit kenn ich mich nicht aus, Schatz, aber ich trau es dem Colonel zu.« So musste es sein! Es war die einzige Erklärung. Was hatte Vater doch gleich gesagt, als ich ihm erzählt hatte, dass auch Es war eben doch wie in einer Operette von Gilbert und Sullivan. Ich hatte Vater in Schutz nehmen wollen, Vater wiederum nahm Dogger in Schutz. Fragte sich: Wen nahm Dogger in Schutz? »Vielen Dank, Mrs M«, sagte ich. »Natürlich behandle ich unsere Unterhaltung streng vertraulich. Kein Wort kommt über meine Lippen.« »Großes Mädchenehrenwort.« Sie schmunzelte abstoßend vertraulich. Das ging zu weit! Das war mir entschieden zu kumpelhaft und banal. Ein reichlich unedler Charakterzug brach sich in mir Bahn, und ich verwandelte mich im Handumdrehen in Flavia, die Rächerin mit den Zöpfen, deren Auftrag darin bestand, diese grausame und unerbittliche Kuchenmaschine zum Stillstand zu bringen. »Einverstanden«, entgegnete ich. »Großes Mädchenehrenwort. Und da wir gerade bei vertraulichen Geständnissen sind, kann ich Ihnen bei der Gelegenheit auch gleich anvertrauen, dass sich keiner von uns etwas aus Ihrem Schmandkuchen macht. Genauer gesagt: Wir können das Zeug nicht ausstehen!« »Na und? Das weiß ich doch längst«, erwiderte sie. »Ach ja?«, war alles, was mir dazu einfiel, so verdutzt war ich. »Aber gewiss doch. Einer Köchin bleibt nix verborgen«, antwortete sie. »Miss Harriet war noch am Leben, da hab ich schon begriffen, dass die de Luces und Schmand nicht zusammenpassen.« »Aber …« »Warum ich den Kuchen trotzdem backe? Weil Alf dann und wann Lust auf’n schönen Schmandkuchen hat. Miss Harriet pflegte zu sagen: ›Die de Luces sind allesamt steife Rhabarber »Dann ist es ja jetzt vielleicht mal gut«, entgegnete ich. Ich machte, dass ich rauskam, und stürmte in einer Staubwolke davon.  21 Im Flur machte ich Halt und lauschte reglos. Dank der Par kettböden und getäfelten Wände hatte Buckshaw eine mindestens so gute Akustik wie die Royal Albert Hall. Auch wenn alles still war, herrschte auf Buckshaw eine ganz besondere Stille, die ich überall wiedererkannt hätte. Behutsam nahm ich den Telefonhörer ab und drückte ein paarmal auf die Gabel. »Ein Ferngespräch nach Doddingsley bitte. Tut mir leid, die Nummer habe ich gerade nicht parat, aber ich möchte mit dem dortigen Gasthaus verbunden werden … wie heißt es doch gleich? Zum roten Fuchs oder Zum reichen Fährmann … jedenfalls irgendwas mit R und F.« »Augenblick bitte«, erwiderte die gelangweilte, aber kompetent klingende Stimme am anderen Ende der knackenden Leitung. Das konnte ja wohl nicht so schwer sein, dachte ich. Das R F lag gleich am Bahnhof, gegenüber vom Bahnsteig, und Doddingsley war schließlich keine Weltstadt. »Ich habe hier nur Einträge für die Traubenstube und Zum fröhlichen Kutscher.« »Das ist es! Zum fröhlichen Kutscher!« Der unanständige Laut, den ich zu hören glaubte, stammte gewiss aus dem Gebrodel ganz tief unten in meinen Gedanken. »Die gewünschte Nummer lautet Doddingsley zwo-drei. Falls Sie später noch einmal anrufen wollen.« »Danke schön«, sagte ich, da hörte ich auch schon das Freizeichen in der Leitung, und gleich darauf hob jemand ab. »Doddingsley zwo-drei, Zum fröhlichen Kutscher, Cleaver am Apparat.« Cleaver war bestimmt der Wirt. »Ich möchte bitte Mister Pemberton sprechen. Es ist dringend.« Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass man ein Hindernis, sogar ein nur angenommenes, am besten überwindet, indem man Dringlichkeit vortäuscht. »Der ist nicht da«, erwiderte Cleaver. »Ach, du lieber Himmel!« Ich trug richtig dick auf. »Da habe ich ihn wohl gerade verpasst. Könnten Sie mir sagen, wann er weggegangen ist? Dann weiß ich in etwa, wann ich ihn zu erwarten habe.« Mensch, Flave, dachte ich, du solltest dich um einen Sitz im Parlament bemühen. »Er ist am Samstagmorgen abgereist. Vorgestern.« »Verbindlichsten Dank«, säuselte ich in einem Ton, mit dem ich auch den Papst irregeführt hätte. »Sie haben mir wirklich sehr geholfen.« Ich legte den Hörer so vorsichtig wieder auf die Gabel wie ein frisch geschlüpftes Küken. »Was treibst du da?«, fragte eine dumpfe Stimme. Ich fuhr herum. Hinter mir stand Feely. Ihr Mund und das Kinn waren mit einem dicken Wollschal verhüllt. »Was treibst du da?«, wiederholte sie. »Du weißt genau, dass wir das Instrument nicht benutzen dürfen.« »Und was treibst du selber?«, konterte ich. »Willst du rodeln gehen?« Als Feely sich auf mich stürzen wollte, verrutschte der Schal und enthüllte zwei rote geschwollene Lippen von derselben Farbe wie der Südpol eines Pavians. Ich war zu erschrocken, um zu lachen. Der Giftefeu, mit Leider hatte ich gerade keine Zeit, meinen Triumph schriftlich zu dokumentieren. Mein Notizbuch würde noch ein Weilchen warten müssen. Maximilian saß in senffarben kariertem Tweed gewandet auf dem Rand der gemauerten Pferdetränke im Schatten des Marktkreuzes und baumelte wie Humpty Dumpty mit den winzigen Füßen in der Luft. Er war so klein, dass ich ihn beinahe übersehen hätte. »Haruh, mon vieux, Flavia!«, rief er, und ich brachte Gladys kurz vor den Spitzen seiner Lacklederschuhe zum Stehen. Schon wieder in die Falle getappt! Jetzt musste ich das Beste draus machen. »Tag, Max. Ich muss Sie was fragen.« »Hoho!«, machte er. »Einfach so! Du willst mich etwas fragen! Ohne irgendeine Einleitung? Ohne irgendwelche Neuigkeiten von deinen lieben Schwestern? Ohne irgendwelchen Klatsch und Tratsch aus den Konzerthallen der Welt?« »Na ja«, erwiderte ich ein bisschen verlegen, »im Radio kam Der Mikado.« »Und wie war’s? Vom Ausdruck her? Die meisten Sänger pflegen bei Gilbert und Sullivan schrecklich zu brüllen.« »Aufschlussreich.« »Aha! Aber in welcher Hinsicht? Der gute Arthur hat ein paar der großartigsten Stücke komponiert, die je in unserem Inselkönigreich geschrieben wurden, zum Beispiel Der verklungene Ton. Ich finde G. und S. immer wieder hochspannend. Weißt du eigentlich, dass ihre unverbrüchliche Freundschaft an einer Meinungsverschiedenheit über den Preis eines Teppichs zerbrach?« Ich musterte ihn forschend. Wollte er mich auf den Arm nehmen? Aber er schien es ganz ernst zu meinen. »Ich platze verständlicherweise vor Neugier darauf, was sich kürzlich Unerfreuliches bei euch auf Buckshaw zugetragen hat, meine liebe Flavia, aber ich weiß, dass deine Lippen schon aus Schamgefühl, Familiensinn und Verpflichtung gegenüber der Obrigkeit dreifach versiegelt sind. Wenn auch nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge, hab ich Recht?« Ich nickte. »Dann darfst du nunmehr deine Frage an das Orakel richten.« »Sind Sie in Greyminster zur Schule gegangen?« Max kicherte zwitschernd wie ein kleiner gelber Vogel. »Wo denkst du hin! Das wäre dann doch eine Nummer zu edel für mich gewesen. Nein, ich bin auf dem Kontinent zur Schule gegangen, besser gesagt in Paris, und dort fand meine Ausbildung eher draußen als drinnen statt. Aber mein Vetter Lombard ist ein alter Greyminsterianer. Er lobt die Schule in den höchsten Tönen, wenn er nicht gerade beim Pferderennen ist oder bei Montfort Karten spielt.« »Hat Ihr Vetter irgendwann einmal den Rektor Dr. Kissing erwähnt?« »Den Briefmarken-Guru? Mein liebes Mädchen, er spricht kaum von jemand anderem. Er verehrt den alten Herrn richtiggehend. Behauptet steif und fest, nur dem alten Kissing hätte er das zu verdanken, was aus ihm geworden ist, was zwar nichts Besonderes ist, aber immerhin …« »Lebt er denn noch? Dr. Kissing, meine ich? Er muss doch schon steinalt sein, oder? Ich würde alle meine Besitztümer drauf verwetten, dass er längst tot ist.« »Dann wärst du dein Geld aber schnell los«, erwiderte Max amüsiert. »Und zwar bis auf den letzten Penny!« Haus Krähenwinkel schmiegte sich in die Kissen des gemütlichen Bettes, das von den Junkerbergen und dem sogenannten Kürbiskopf gebildet wurde. Letzteres war eine eigenartige Erhebung, die von weitem wie ein Hügelgrab aus der Eisenzeit aussah, aus der Nähe betrachtet jedoch deutlich größer und wie ein Totenschädel geformt war. Ich lenkte Gladys in die Pooker’s Lane, die am Unterkiefer des Schädels, beziehungsweise an seinem östlichen Rand entlangführte. Am Ende der Straße säumten dichte Hecken die Zufahrt zum Haus Krähenwinkel. War man an diesen struppigen Überlebenden längst vergangener Zeiten vorbeigefahren, erstreckten sich nach Osten, Westen und Süden ungepflegte, stachlige Rasenflächen. Trotz des sonnigen Tages lagen an mehreren schattigen Stellen noch letzte Nebelschwaden über dem ungemähten Gras. Hier und da ragte eine riesige Rotbuche auf. Die dicken Stämme und die herabhängenden Zweige dieser Bäume ließen mich immer an eine bedrückte Elefantenfamilie denken, die allein durch die kahle afrikanische Savanne zieht. Hinter den Rotbuchen spazierten zwei uralte Damen in lebhaftem Zwiegespräch daher, als konkurrierten sie um die Rolle der Lady Macbeth. Die eine war in ein durchsichtiges Musselin-Nachthemd gewandet und hatte eine Morgenhaube auf dem Kopf, die dem 18. Jahrhundert zu entstammen schien, während ihre Gefährtin, die in ein zyanblaues Zeltkleid gehüllt war, Messingohrringe groß wie Suppenteller trug. Das Haus selbst war das, was man oft schwärmerisch als »altehrwürdiges Gemäuer« bezeichnet. Der ehemalige Stammsitz der Familie de Lacey, von der die Ortschaft Bishop’s Lacey ihren Namen hat (angeblich waren es entfernte Verwandte der de Luces), war im Lauf der Zeit immer mehr heruntergekommen, vom Landhaus eines geschäftstüchtigen, erfolgreichen hugenottischen Leinenhändlers zu dem, was es heute war, nämlich einem privaten Altersheim, das Daffy und ich sofort Zwei staubbedeckte Automobile, die nebeneinander auf dem Vorhof standen, bezeugten den Mangel sowohl an Personal als auch an Besuchern. Ich ließ Gladys neben einer uralten Araukarie ins Gras fallen und ging die bemooste, abgebröckelte Vortreppe hoch. Auf einem handgemalten Schild stand Bitte klingeln. Ich zog an dem Emaillegriff. Von drinnen ertönte ein hohles Scheppern wie von einem auf Kuhglocken gespielten Angelus-Läuten und kündigte den Bewohnern, wer sie auch sein mochten, meine Ankunft an. Da nichts geschah, klingelte ich noch einmal. Die beiden alten Damen spielten mittlerweile »Teegesellschaft«, knicksten anmutig und affektiert, hielten unsichtbare Tassen und Untertassen vor sich und spreizten zierlich die kleinen Finger ab. Ich legte das Ohr an die wuchtige Tür, aber bis auf einen Grundton, bei dem es sich offenbar um die Atemzüge des Gebäudes handelte, war nichts zu vernehmen. Daraufhin schob ich die Tür auf und trat ein. Das Erste, was mir auffiel, war der Geruch. Es roch nach Kohl, Schaumgummikissen, Abwaschwasser und Tod. Unter dieser Mischung lag wie eine Grundierung der strenge Geruch des Desinfektionsmittels, mit dem die Böden gewischt wurden. Ich tippte auf Dimethyl-Benzyl-Ammoniumchlorid, denn ich nahm einen Hauch von Bittermandelaroma wahr, das genauso unverkennbar roch wie Blausäure - das Gas, mit dem in Amerikas Gaskammern Mörder hingerichtet wurden. Die weitläufige Diele war in Irrenhaus-Apfelgrün gestrichen: grüne Wände, grüne Wandtäfelung, grüne Decke. Auf dem Boden lag billiges braunes Linoleum, das mit derart brutalen Furchen und Rillen übersät war, dass man vermuten konnte, ein Archäologe habe es aus dem Kolosseum in Rom geborgen und Pffft! von sich. Irgendwann würde ich mich einmal mit der Frage beschäftigen müssen, ob ein Farbton eigentlich Brechreiz verursachen kann. An der Wand ganz hinten saß in einem chromblitzenden Rollstuhl ein Greis und starrte mit offenem Mund an die Decke, als wartete er darauf, dass dort eine Erscheinung auftauchte. An einer anderen Wand stand ein Schreibtisch. Er war unbesetzt. Nur eine silberne Glocke und ein abgegriffenes Pappschild mit der Aufschrift Bitte klingeln deutete auf das Vorhandensein irgendwelchen verborgenen Personals hin. Ich schlug viermal auf den Klingelknopf. Bei jedem Bing zwinkerte der alte Mann heftig, löste den Blick aber nicht von der Decke. Da erschien mit einem Mal, als wäre sie durch eine Geheimtür in der Holzvertäfelung geschlüpft, ein Hauch von einer Frau. Sie trug eine weiße Uniform und eine blaue Haube, unter die sie emsig lose, fettige, strohblonde Strähnen stopfte. Sie machte den Eindruck, als hätte sie etwas verbrochen und wäre sich darüber im Klaren, dass ich davon wusste. »Ja, bitte?«, fragte sie in piepsigem, aber nichtsdestotrotz energischem und somit typischem Krankenschwesternton. »Ich möchte Dr. Kissing besuchen«, sagte ich. »Ich bin seine Urenkelin.« »Dr. Isaac Kissing?« »Eben den. Gibt es denn hier noch einen Dr. Kissing?« Daraufhin machte das Phantom in Weiß wortlos auf dem Absatz kehrt, und ich folgte ihr durch einen Durchgang in einen schmalen Wintergarten, der sich über die gesamte Länge des Gebäudes erstreckte. Auf halbem Weg blieb sie stehen und deutete wie der dritte Geist in Dickens’ Weihnachtsgeschichte mit dem Finger, dann war sie verschwunden. Am anderen Ende des mit hohen Fenstern versehenen Wintergartens, im Schein des einzigen Sonnenstrahls, dem es gelungen war, in das düstere Gebäude einzudringen, saß ein alter Mann in einem Korbrollstuhl. Ein Heiligenschein aus blauem Rauch umschwebte sein Haupt. Auf einem Beistelltischchen türmte sich ein unordentlicher Stapel Zeitungen, der jederzeit einstürzen konnte. Der Mann war in einen mausgrauen Morgenmantel gehüllt, genau wie Sherlock Holmes, nur dass sein Morgenmantel mit lauter Brandlöchern übersät war, wodurch er entfernt an einen Leoparden erinnerte. Darunter trug er einen schwarzen Anzug und ein gestärktes Hemd mit altmodischem Vatermörderkragen. Auf seinem langen, gelockten gelblich-grauen Haar saß ein pflaumenfarbenes Samtkäppchen, und an seiner Unterlippe klebte eine brennende Zigarette, deren graue Asche sich wie eine mumifizierte Nacktschnecke krümmte. »Tag, Flavia«, begrüßte er mich. »Ich habe schon auf dich gewartet.« Eine Stunde war vergangen. Eine Stunde, in der mir zum ersten Mal richtig bewusst geworden war, was wir im Krieg alles verloren hatten. Der Auftakt war nicht sehr vielversprechend gewesen. »Ich muss dich gleich warnen, dass ich wenig Übung darin habe, mich mit kleinen Mädchen zu unterhalten«, hatte Dr. Kissing verkündet. Ich biss mir auf die Zunge und hielt die Klappe. »Bei Jungen hat es sich bewährt, sie mittels Schlägen und anderen Kunstgriffen zu halbwegs zivilisierten Menschen zu erziehen, aber ein Mädchen, dem aufgrund seiner Natur solche Züchtigungen vorenthalten bleiben müssen, bleibt doch immer eine Art terra incognita, nicht wahr?« Mir war klar, dass es eine rein rhetorische Frage war. Ich zog die Mundwinkel hoch und hoffte, so etwas wie ein Mona-Lisa-Lächeln »Du bist also Schnäppis Tochter«, fuhr der Alte fort. »Dabei siehst du ihm kein bisschen ähnlich.« »Angeblich komme ich mehr nach meiner Mutter Harriet.« »Ach ja, die gute Harriet. Was für eine Tragödie. Wie furchtbar für euch alle.« Er streckte die Hand aus und tippte auf eine Lupe, die bedenklich wacklig auf dem Zeitungseisberg balancierte. Außerdem öffnete er ein Etui mit Players, aus dem er sich eine neue Zigarette auswählte. »Ich tue mein Bestes, um mit dem Weltgeschehen Schritt zu halten, jedenfalls mit dem Weltgeschehen, wie es sich in den Augen dieser Schreiberlinge darstellt. Meine eigenen Augen, das gebe ich zu, beobachten diese Parade nun seit fünfundneunzig Jahren und sind des Ganzen ein wenig müde geworden. Trotzdem gelingt es mir, über die Geburten, Todesfälle, Hochzeiten und Verbrechen, die sich in unserer beschaulichen Grafschaft ereignen, einigermaßen auf dem Laufenden zu bleiben. Und ich habe natürlich weiterhin Punch und Lilliput abonniert. Soviel ich weiß, hast du zwei Schwestern, Ophelia und Daphne.« Ich nickte abermals. »Ja, ja, unser Schnäppi hatte immer eine Vorliebe für alles Ausgefallene. Darum habe ich mich auch nicht gewundert, als ich gelesen habe, dass er seine ersten beiden Nachfahren nach einer Hysterikerin bei Shakespeare und einem griechischen Nadelkissen benannt hat.« »Wie bitte?« »Daphne wurde von Eros mit einem liebestötenden Pfeil durchbohrt, ehe sie von ihrem Vater in einen Baum verwandelt wurde.« »Ich meinte die andere, die wahnsinnige Ophelia.« »Die ist ja nun völlig übergeschnappt.« Er drückte den Stummel in dem überquellenden Aschenbecher aus und zündete sich die nächste Zigarette an. »Oder bist du anderer Meinung?« Die Augen, die mich aus dem runzligen Greisengesicht ansahen, blickten so wach und aufmerksam wie die jeden Lehrers, der mit dem Zeigestock in der Hand vor einer Wandtafel steht, und ich spürte, dass meine Rechnung aufgehen würde. Ich war kein »kleines Mädchen« mehr. Im Gegensatz zu Daphne, die lediglich in einen Lorbeerbaum verwandelt worden war, hatte ich mich in einen Schuljungen aus der Unterstufe verwandelt. »Eigentlich nicht, Sir«, erwiderte ich. »Ich glaube eher, dass Ophelia für Shakespeare eine Art Symbol war … wie die Kräuter und Blumen, die sie pflückt.« »Hä? Wie kommst du denn darauf?« »Na ja, Ophelia ist das unschuldige Opfer einer mörderischen Familie, deren Mitglieder allesamt in höchstem Maße selbstsüchtig sind. So sehe ich das zumindest.« »Soso. Ist ja ausgesprochen interessant.« »Trotzdem«, setzte er nach einer kurzen Pause hinzu, »war es mir eine Genugtuung, dass dein Vater vom Lateinunterricht immerhin so viel behalten hat, um dich Flavia zu nennen, die Goldhaarige.« »Mein Haar ist aber eher mausbraun.« »Ach so.« Wir schienen in einer der Sackgassen angelangt zu sein, wie es sie im Gespräch mit alten Menschen öfter gibt. Ich dachte schon, der alte Mann sei mit offenen Augen eingedöst. Aber da sagte er unvermittelt: »Na schön, dann zeig mal her.« »Sir?« »Meinen Rächer von Ulster. Ich würde gern einen Blick drauf werfen. Du hast ihn doch dabei, nicht wahr?« »Ich … schon, Sir, aber woher …?« »Dann wollen wir mal kombinieren«, sagte er seelenruhig, als hätte er verkündet: Lasset uns beten. »Horace Bonepenny, seinerzeit Zauberkünstler sowie langjähriger Schwindler und Betrüger, liegt auf einmal tot im Garten seines alten Schulfreundes Schnäppi de Luce. Wieso? Höchstwahrscheinlich ist Erpressung im Spiel. Darum wollen wir von Erpressung ausgehen. Nur ein paar Stunden sind vergangen, da stöbert Schnäppis Tochter im Zeitungsarchiv von Bishop’s Lacey nach Artikeln über das Ableben meines lieben alten Kollegen Mr Twining, er ruhe in Frieden. Woher ich das weiß? Das liegt doch auf der Hand.« »Miss Mountjoy.« »Sehr gut, Kleine. Tilda Mountjoy, ganz recht. Seit einem Vierteljahrhundert meine Augen und Ohren im Dorf und der Umgebung.« Ich hätte es wissen müssen! Miss Mountjoy war ein Spitzel! »Weiter im Text. Am letzten Tag seines Lebens kam es dem Dieb Bonepenny in den Sinn, sich im Dreizehn Erpel einzuquartieren. Anschließend gelingt es dem dummen Grünschnabel - nun ja, ein Grünschnabel ist er nicht mehr, aber dumm allemal -, sich von irgendwem abmurksen zu lassen. Ich habe schon seinerzeit zu Mr Twining gesagt, dass es mit dem Burschen kein gutes Ende nehmen würde. Meine Vorhersage war zutreffend, wie ich in aller Bescheidenheit anmerken möchte. Dieser Bonepenny hatte schon immer etwas Teuflisches an sich. Aber ich schweife ab. Kurz nach seinem Ableben wird sein Zimmer im Gasthaus von einer holden Maid durchsucht, deren Namen ich nicht zu nennen wage, die mir aber gerade eben sittsam gegenübersitzt und in ihrer Tasche herumspielt. Was mag wohl darinnen sein? Ich tippe auf ein gewisses Fitzelchen orangenmarmeladenfarbenes Papier mit dem Porträt unserer Quod erat demonstrandum - Q. E. D.« »Q. E. D.«, bestätigte ich, holte den Pergamin-Umschlag heraus und hielt ihn dem Greis hin. Mit zitternden Händen - ob vor Alter oder vor Aufregung, hätte ich nicht zu sagen gewusst - und indem er das hauchdünne Papier wie eine Pinzette benutzte, schälte er die Seiten des Umschlags mit nikotinfleckigen Fingern nach unten. Als die orangefarbenen Ecken der beiden Rächer frei lagen, fiel mir auf, dass seine fleckigen Fingerkuppen und die Briefmarken fast dieselbe Farbe hatten. »Alle Wetter!«, schnaufte er sichtlich erschüttert. »Du hastAAwiedergefunden! Diese Marke gehört Seiner Ma jestät, weißt du das? Sie wurde erst vor wenigen Wochen bei einer Ausstellung in London gestohlen, das stand in allen Zeitungen.« Er blickte mich vorwurfsvoll über den Rand seiner Brille an, musste aber sofort wieder den Schatz betrachten, den er in Händen hielt. Er schien mich ganz zu vergessen. »Seid mir gegrüßt, meine Freunde«, flüsterte er. »Wir haben uns ja so lange nicht gesehen!« Er griff zur Lupe und studierte beide Marken gründlich. »Und du, meine heißgeliebte kleine TL- was du wohl alles zu erzählen hast!« »Horace Bonepenny trug alle beide bei sich«, warf ich ein. »Ich habe sie im Gasthaus in seinem Gepäck entdeckt.« »Du hast sein Gepäck durchwühlt?« Dr. Kissing blickte nicht auf. »Uff! Die Polizei wird nicht gerade Purzelbäume über den Dorfanger schlagen, wenn sie das hört … und du dann wohl auch nicht mehr.« »Ich habe sein Gepäck nicht durchwühlt. Er hatte die Marken unter einem Aufkleber auf seinem Koffer versteckt.« »Unter dem sie einfach hervorgepurzelt kamen, als du zufällig draufgetippt hast.« »Genauso war’s.« »Sag mal«, er hob jäh den Kopf und sah mich an, »weiß dein Vater eigentlich, dass du hier bist?« »Nein. Vater ist wegen Mordes angeklagt. Er sitzt in Hinley im Arrest.« »Großer Gott! Ist er’s denn gewesen?« »Keine Ahnung. Manchmal denke ich ja, dann wieder nein. Das Ganze ist ein einziges Kuddelmuddel.« »Am Anfang ist alles immer ein einziges Kuddelmuddel. Sag mir eins, Flavia: Wofür interessierst du dich von allen Wissensgebieten dieser Welt am meisten? Was ist deine allergrößte Leidenschaft?« »Die Chemie«, antwortete ich, ohne zu überlegen. »Bravo!«, sagte Dr. Kissing. »Diese Frage habe ich zu meiner Zeit ganzen Heerscharen von Hottentotten gestellt, und alle haben irgendeinen Blödsinn geantwortet. Große Töne spucken und hirnverbrannte Träumereien. Du dagegen hast es fertiggebracht, dich auf ein einziges Wort zu beschränken.« Das Korbgeflecht ächzte grässlich, als er sich mir zuwandte. Ich bekam schon einen Schreck, weil es sich anhörte, als hätte er sich die morsche Wirbelsäule gebrochen. »Natriumnitrit«, sagte er. »Das ist dir ja sicherlich ein Begriff.« Ein Begriff? Natriumnitrit war ein bewährtes Gegenmittel bei Zyankalivergiftung. Ich kannte mich mit allen seinen Verbindungen aus. Wie aber kam er ausgerechnet auf dieses Beispiel? Konnte er Gedanken lesen? »Schließ die Augen«, fuhr er fort. »Stell dir vor, du hältst ein Reagenzglas in der Hand, das zur Hälfte mit einer drei ßigprozentigen Salzsäurelösung gefüllt ist. Dazu gibst du ein paar Kristalle Natriumnitrit. Was geschieht?« »Dazu brauche ich nicht die Augen zuzumachen. Die Lösung wird orange … orange und trüb.« »Ausgezeichnet! Orange wie diese beiden eigensinnigen Briefmarken, nicht wahr? Und dann?« »Nach einer Weile, nach zwanzig, dreißig Minuten vielleicht, wird die Lösung wieder klar.« »Klar. Damit wäre meine Herleitung abgeschlossen.« Ich grinste befreit und ein bisschen dümmlich, als wäre mir eine große Last von den Schultern genommen. »Als Lehrer müssen Sie ein wahrer Zauberer gewesen sein, Sir.« »Ja, das war ich wohl … zu meiner Zeit. Und jetzt hast du mir meinen kleinen Schatz wiedergebracht.« Er heftete den Blick wieder auf die Briefmarken. Damit hatte ich nicht gerechnet, ja, ich war gar nicht auf die Idee gekommen. Ich hatte nur herausfinden wollen, ob der Besitzer des Rächers noch am Leben war. Anschließend hätte ich Vater die Marke ausgehändigt, der sie der Polizei übergeben hätte, die wiederum dafür sorgen würde, dass sie ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückerstattet würde. Dr. Kissing merkte sofort, dass ich verunsichert war. »Andere Frage«, sagte er. »Was hättest du getan, wenn du hergekommen wärst und man dir mitgeteilt hätte, dass ich bereits in den ewigen Jagdgründen weile?« »Sie meinen … dass Sie gestorben wären, Sir?« »Ach, richtig, so heißt das ja, ›gestorben‹.« »Dann hätte ich die Marke wahrscheinlich meinem Vater gegeben.« »Damit er sie behält?« »Er weiß bestimmt, was damit zu tun ist.« »Das dürfte der Besitzer der Marke wohl am allerbesten wissen, oder?« Ich wusste schon, dass die richtige Antwort »Ja« lautete, aber es wollte mir nicht über die Lippen. Ich wollte die Marke unbedingt Vater geben, auch wenn mir das eigentlich nicht zustand. Genauso dringend wollte ich beide Marken Inspektor Hewitt übergeben. Warum bloß? Dr. Kissing zündete sich noch eine Zigarette an und sah aus »Hier hast du die AA. Sie ist nicht mein, sie gehört mir nicht, wie es im Volkslied heißt. Soll dein Vater damit verfahren, wie er es für richtig hält. Es ist nicht an mir, das zu entscheiden.« Ich nahm den Rächer von Ulster entgegen und schlug ihn vorsichtig in mein Taschentuch ein. »Die exquisite kleine TL dagegen gehört mir, da beißt die Maus keinen Faden ab.« »Sie freuen sich doch bestimmt, dass Sie die wertvolle Marke wieder in Ihr Album einsortieren können, Sir«, sagte ich enttäuscht und steckte den anderen Rächer ein. »In mein Album?« Sein krächzendes Lachen endete in einem Hustenanfall. »Meine Alben sind längst, wie es der selige Dowson einmal nannte, vom Winde verweht.« Er wandte das Greisengesicht wieder dem Fenster zu und schaute geistesabwesend in den Park hinaus, wo die beiden alten Damen unter den vom Sonnenschein besprenkelten Buchen immer noch wie exotische Schmetterlinge umherflatterten und eine Art kunstvollen Tanz aufführten. »So viel hab ich vergessen, Cynara, vom Winde verweht, Die Rosen, übermütig in die Menge geworfen, Der Tanz, um nicht an deine bleichen Lilien zu denken, Doch elend war ich, krank vor einst’ger Leidenschaft, Die ganze Zeit, denn lang hab ich getanzt … Ich war dir treu, Cynara - doch auf meine Art! Das stammt aus seinem Non Sum Qualis eram Bonae Sub Regn o Cynarae, du kennst es vielleicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber es ist sehr schön.« »An einem so abgeschiedenen Ort wie diesem untergebracht Er sah mich an, als hätte er einen gelungenen Witz gemacht. Als ich keine Miene verzog, zeigte er auf den Tisch. »Gib mir mal eins von den Alben. Das oberste.« Da sah ich erst, dass unter der Tischplatte noch ein Fach angebracht war, in dem zwei dicke, in Leder gebundene Alben klemmten. Ich pustete den Staub weg und reichte ihm das oberste. »Nein, nein … schlag du es auf.« Ich öffnete das Album auf der ersten Seite, die nur zwei Marken enthielt, eine schwarze und eine rote. Doch an den gummihaltigen Spuren und den mit einem Lineal gezogenen Linien erkannte man, dass die Seite einmal voll gewesen sein musste. Ich blätterte zur nächsten Seite weiter … und zur übernächsten. Das Album war nur noch eine ausgeweidete Hülle, geplündert und so spärlich bestückt, dass es sogar ein Schuljunge schamhaft versteckt hätte. »Wie du siehst, kostet es nicht wenig, ein noch schlagendes Herz zu versorgen. Quadrätchen für Quadrätchen trennt man sich von seinem Leben. Viel ist nicht mehr davon übrig, was?« »Aber der Rächer von Ulster!«, rief ich aus. »Der muss doch ein Vermögen wert sein!« »Allerdings.« Dr. Kissing betrachtete seinen Schatz abermals durch die Lupe. »In Romanen ist manchmal von einer Gnadenfrist zu lesen, die jemandem gewährt wird, wenn die Falle bereits zugeschnappt ist, oder aber von dem Pferd, dem kurz vor der Ziellinie das Herz stehen bleibt.« Er kicherte ironisch und zog ein Taschentuch hervor, um sich die Augen zu wischen. »›Zu spät! Zu spät!, so die Maid‹, und so weiter. ›Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo.‹« »Ach, das Schicksal treibt gern seine Späße«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. »Wer hat das gesagt? War das nicht Cyrano de Bergerac?« Ganz kurz dachte ich, welchen Spaß es Daffy machen würde, sich mit dem alten Herrn zu unterhalten, aber nur ganz kurz. Dann zuckte ich die Achseln. Mit einem heiteren Lächeln nahm Dr. Kissing die Zigarette aus dem Mund und hielt die glühende Spitze an die Ecke des Rächers von Ulster. Mir war zumute, als hätte mir jemand einen Feuerball ins Gesicht geschleudert und Stacheldraht um die Brust gespannt. Ich fuhr erst zusammen, dann erstarrte ich vor Schreck, konnte nur hilflos zusehen, wie die Briefmarke zu qualmen anfing und ein Flämmchen sich gemächlich, aber unerbittlich durch das jugendliche Antlitz Königin Viktorias fraß. Als das Flämmchen an seinen Fingern ankam, ließ Dr. Kissing die geschwärzte Marke auf den Boden fallen. Unter dem Saum seines Morgenmantels tauchte ein blank gewienerter schwarzer Schuh auf, stellte sich sachte auf die Asche und zermalmte sie mit ein paar kurzen Drehbewegungen. Es dauerte nur drei dröhnende Herzschläge, dann erinnerte nur noch ein schwarzer Fleck auf dem Linoleum in Haus Krähenwinkel an den Rächer von Ulster. »Die Marke in deiner Tasche hat ihren Wert soeben verdoppelt«, verkündete Dr. Kissing. »Hüte sie gut, Flavia. Jetzt ist sie die Einzige ihrer Art auf der ganzen Welt.«  22 Immer wenn ich im Freien bin und mal so richtig nachden ken will, lege ich mich auf den Rücken, strecke Arme und Beine aus, sodass ich wie ein Seestern aussehe, und schaue in den Himmel. Erst amüsiere ich mich ein Weilchen mit meinen »Schwimmern«, den wurmähnlichen Proteinfäden, die wie kleine dunkle Galaxien kreuz und quer durch mein Gesichtsfeld treiben. Wenn ich es nicht eilig habe, mache ich einen Kopfstand, um sie durcheinanderzuwirbeln, dann lege ich mich wieder hin und schaue mir die Vorstellung an wie einen Zeichentrickfilm. Heute jedoch ging mir viel zu viel im Kopf herum, weshalb ich mich, nachdem ich fast zwei Kilometer weit von Haus Krähenwinkel weggeradelt war, auf die grasbewachsene Stra ßenböschung legte und einfach nur in den Sommerhimmel blickte. Etwas, das mir Vater erzählt hatte, wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, nämlich dass die beiden, er und Horace Bonepenny, Mr Twining umgebracht hätten; dass sie persönlich für seinen Tod verantwortlich seien. Wäre es nur wieder mal eines von Vaters Hirngespinsten gewesen, hätte ich es längst wieder vergessen, aber an der Sache war eindeutig mehr dran. Auch Miss Mountjoy war davon überzeugt, dass die Jungen ihren Onkel umgebracht hatten, das hatte sie mir selbst gesagt. Dass Vater sein schlechtes Gewissen plagte, war nicht zu übersehen. Schließlich hatte auch er darauf gedrungen, Dr. Nein, an der Sache musste noch mehr dran sein, aber ich kam einfach nicht darauf, was. Ich lag im Gras und schaute so eindringlich zum blauen Himmelsgewölbe empor, wie die alten, auf Säulen hockenden indischen Fakire damals in die Sonne gestarrt hatten, ehe wir gekommen waren, um sie zu zivilisieren, aber mir wollte partout nichts Brauchbares einfallen. Unmittelbar über mir stand die Sonne wie eine große, gleißende Null und brannte mir auf den leeren Schädel. Ich dachte messerscharf nach, rasiermesserscharf, skalpellscharf - es half alles nichts. Aber halt! Genau! Das war’s! Vater hatte nichts getan. Gar nichts! Er hatte im selben Augenblick, als es geschah, gewusst oder zumindest vermutet, dass Bonepenny die kostbare Marke des Rektors gestohlen hatte … und trotzdem hatte er niemandem ein Sterbenswörtchen davon gesagt. Das war ganz klar eine Unterlassungssünde gewesen: eines jener Vergehen aus dem kirchlichen Verzeichnis der Verfehlungen, das Feely so gern im Munde führte und das anscheinend auf jedermann anzuwenden war außer auf sie selbst. Aber Vaters Schuld war eine moralische, und von daher mochte ich mich nicht zum Richter über ihn aufschwingen. Trotzdem ließ es sich nicht abstreiten: Vater hatte geschwiegen und durch sein Schweigen womöglich den herzensguten alten Mr Twining dazu gebracht, die Schuld ganz allein auf sich zu nehmen und den Vertrauensbruch mit seinem Leben zu bezahlen. Es musste doch damals Gerüchte gegeben haben … Die Einheimischen in diesem Winkel Englands waren noch nie für ihre Verschwiegenheit bekannt gewesen, ganz im Gegenteil.Hundert Alltagsfragen und Antworten für den anspruchsvollen Haushalt, die Mrs Mullet in der Speisekammer liegen hatte, war mir schon länger aufgefallen, dass man am besten zurechtkommt, wenn man den Nächstbesten anspricht und sich einfach erkundigt. Dann kann man auf derlei Nachschlagewerke verzichten. Ich konnte Vater schlecht danach fragen, warum er damals als Schuljunge geschwiegen hatte. Selbst wenn ich mich getraut hätte, so saß er doch auf der Polizeiwache in der Arrestzelle und würde vorerst auch dort bleiben. Miss Mountjoy konnte ich auch nicht fragen. Die hatte mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, weil sie in mir die Nachfahrin eines kaltblütigen Mörders sah. Kurz gesagt, ich war ganz auf mich gestellt. Den ganzen Tag über hatte es in meinem Hinterkopf gedudelt wie ein Grammophon in einem abgelegenen Zimmer. Hätte ich doch bloß die Melodie erkennen können! Das Gedudel hatte eingesetzt, als ich in der Bücherei die Zeitungsstapel durchgewühlt hatte. Es handelte sich um etwas, das jemand gesagt hatte … Aber was? Manchmal lässt sich ein flüchtiger Gedanke so schwer fangen wie ein durchs Fenster hereingeflogener Vogel. Man schleicht sich auf Zehenspitzen heran, will zupacken … und der Vogel ist auf und davon, schlägt mit den Flügeln … Richtig! Flügel! Er sah wie ein gestürzter Engel aus, hatte der eine Schüler aus Greyminster gesagt. Toby Lonsdale, jetzt fiel mir der Name wieder ein. Ein sonderbarer Vergleich. Beschrieb ein Schuljunge mit solchen Worten, wie sein Lehrer von einem Ärgerlicherweise hatte ich nicht gründlich genug gewühlt. Der Hinley-Kurier hatte unmissverständlich vermeldet, dass die polizeilichen Ermittlungen sowohl bezüglich Mr Twinings Tod als auch hinsichtlich des Diebstahls von Dr. Kissings Briefmarke noch nicht abgeschlossen seien. Und der Nachruf? Der musste natürlich später erschienen sein. Was hatte darin gestanden? Ruckzuck schwang ich mich wieder auf Gladys’ Sattel und radelte wie ein geölter Blitz in Richtung Bishop’s Lacey und Cow Lane. Erst als ich nur noch drei Meter von der Büchereitür entfernt war, sah ich das Schild: »Geschlossen«. Natürlich! Manchmal hast du wirklich Pudding im Hirn, Flavia, da hat Feely ganz Recht. Heute war Montag. Die Bücherei würde erst wieder am Dienstagmorgen um zehn Uhr öffnen. Als ich Gladys zum Fluss und zur Garage mit dem Archiv schob, musste ich an die albernen Geschichten aus der Kinderstunde im Radio denken: erzieherisch wertvolle Geschichtchen wie die von der kleinen Lok (Ich schaff es schon … ich schaff es schon …), die einen ganzen Güterzug über den Berg ziehen kann, nur weil sie fest daran glaubt, dass sie es schafft. Und weil sie nicht aufgibt. Nie aufgeben, das war der Schlüssel zum Erfolg. Der Schlüssel? Ich hatte Miss Mountjoy den Schlüssel zum Magazin zurückgegeben, da war ich ganz sicher. Gab es vielleicht einen Zweitschlüssel? Einen Ersatzschlüssel, der unter einem Fensterbrett versteckt lag für den Fall, dass irgendein vergesslicher Mensch nach Blackpool in Urlaub gefahren war und das Original noch in der Tasche hatte? Da Bishop’s Lacey nicht gerade als landesweit berüchtigtes Verbrechernest galt Ich befühlte den Türsturz, schaute unter die Geranientöpfe, die den Weg zum Eingang säumten, und hob sogar ein paar verdächtige Steine hoch. Nichts. Ich stocherte in den Fugen der Mauer, die von der Straße bis zum Eingang führte. Nichts, aber auch gar nichts. Ich spähte durchs Fenster zu den alten Zeitungen hinein, die Stapel neben Stapel friedlich auf den Regalen ruhten. So nah und doch so fern. Ich hätte vor Wut am liebsten ausgespuckt … und das tat ich auch. Was hätte Marie Anne Lavoisier an meiner Stelle getan?, überlegte ich. Hätte sie sich schäumend und qualmend vor der Tür aufgebaut wie einer dieser Minivulkane, die entstehen, wenn man ein Häufchen Ammoniumdichromat anzündet? Wohl kaum. Marie Anne hätte die Chemie Chemie sein lassen und sich die Tür vorgenommen. Ich drehte kräftig am Türknauf, warf mich gegen die Tür - und kippte vornüber. Irgendein Blödmann war hier gewesen und hatte nicht wieder abgeschlossen! Hoffentlich hatte mich niemand gesehen. Zum Glück fiel mir das noch ein, denn das bewog mich, Gladys mit hinter die Mauer zu nehmen, wo sie vor neugierigen Blicken sicher war. Ich ging um die mit Brettern abgedeckte Mechanikergrube herum und an den Regalen mit vergilbten Zeitungen entlang. Im Handumdrehen entdeckte ich die gesuchte Ausgabe des Hinley-Kurier. Wie vermutet war der Nachruf auf Mr Twining am Freitag nach dem Artikel über seinen Tod erschienen: Twining, Grenville, M A (Oxfordshire), vergangenen Montag in der Greyminster School bei Hinley im Alter von Und wo lag der Verstorbene begraben? Hatte man seinen Leichnam in seine Heimatstadt Winchester überführt und an der Seite seiner Eltern beigesetzt? Oder war er in Greyminster beerdigt worden? Eher nicht. Mir kam es wahrscheinlicher vor, dass ich sein Grab auf dem Friedhof von St. Tankred finden würde, keine zwei Minuten vom Magazin entfernt. Ich ließ Gladys hinter der Garage stehen, denn ich wollte keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Wenn ich mich duckte und mich immer an der Hecke hielt, die den Treidelpfad säumte, konnte ich ungesehen auf den Friedhof gelangen. Als ich die Tür nach draußen aufmachte, vernahm ich Hundegebell. Vorne an der Gasse stand Mrs Fairweather, Vorsitzende des kirchlichen Frauenkreises, der für den Blumenschmuck auf dem Altar zuständig war, mit ihrem Corgi. Ich zog die Tür leise wieder zu, ehe sie oder der Hund mich erblickte, und beobachtete verstohlen durchs Fenster, wie der Hund eine Eiche beschnüffelte, während Mrs Fairweather unverwandt in die Ferne sah und tat, als wüsste sie nicht, was am anderen Ende der Leine vor sich ging. Verflixt! Jetzt musste ich warten, bis der Köter sein Geschäft erledigt hatte. Ich sah mich um. Zu beiden Seiten standen behelfsmäßige Regale, deren grob gesägte, durchhängende Bretter den Eindruck machten, als hätte sie ein williger, aber unfähiger Amateurschreiner angebracht. Rechts standen die verstaubten Jahrgänge längst veralteter Nachschlagewerke wie Crockfords Kirchenlexikon, Hazells’ Jahrbuch, Whitakers Almanach, Kellys Branchenverzeichnis und Brasseys Marinejahrbuch, und alle waren sie dicht an dicht auf die unbehandelten Fächer gestapelt, die einst edlen roten, blauen und schwarzen Einbände von der Zeit und dem gelegentlich einfallenden Tageslicht braun geworden, und allesamt rochen sie nach Mäusen. Die Regale linkerhand waren reihenweise mit gleich aussehenden Bänden bestückt, auf deren Rücken mit verschnörkelten gotischen Buchstaben Der Greyminsterianer eingeprägt war. Das mussten die Jahrbücher von Vaters alter Schule sein, denn solche Wälzer standen auch auf Buckshaw. Ich zog einen Band heraus, sah aber gleich, dass er aus dem Jahr 1942 stammte. Ich schob ihn wieder zurück und fuhr mit dem Zeigefinger die Bücherrücken entlang: 1930 … 1925 … 1920! Mit bebenden Händen nahm ich den Band heraus und blätterte ihn hastig von hinten nach vorn durch. Lauter Artikel über Kricket-spiele, Ruderwettkämpfe, Leichtathletik, Stipendien, Rugby, über Fotografie und Naturkunde. Über den Magischen Zirkel oder den Briefmarkenclub konnte ich nichts finden, dafür hier und da Fotos, auf denen in Reihen aufgestellte Jungen in die Kamera grinsten und manchmal auch Grimassen schnitten. Gegenüber der Titelseite war ein schwarz gerahmtes Porträtfoto abgedruckt. Ein ehrwürdiger Herr mit Barett und Talar saß ungezwungen auf der Kante eines Lehrerpults, hielt ein Lateinbuch in der Hand und blickte den Fotografen mit verhaltener Belustigung an. Unter dem Foto stand: »Grenville Twining 1848-1920«. Das war alles. Kein Wort zu den näheren Umständen seines Todes, kein Nachruf, kein liebevolles Gedenken. Hatte es eine allumfassende Verschwörung des Schweigens gegeben? An dem Mann war mehr dran, als man auf den ersten Blick vermuten mochte. Ich blätterte langsamer, diesmal in umgekehrter Richtung, überflog die Artikel und las die gelegentlichen Bildunterschriften. Als ich zu zwei Dritteln durch war, stach mir der Name »de Luce« ins Auge. Das zugehörige Foto zeigte drei Jungen in kurzärmligen Hemden und mit Schülermützen auf den Köpfen. Vor ihnen, auf einer auf der Wiese ausgebreiteten Decke, stand ein Picknickkorb. Auf der Decke lagen alle möglichen Lebensmittel. Offenbar veranstalteten die drei ein zünftiges Picknick. Es gab einen Laib Brot, ein Glas Marmelade, einen Obstkuchen, Äpfel und etliche Flaschen mit Ingwerbier. Die Unterschrift lautete: »Wie weiland bei Omar Khayyam - üppig bewirtet aus Greyminsters Küche. Von links nach rechts: Haviland de Luce, Horace Bonepenny und Bob Stanley posieren für ein lebendes Bild nach dem Werk des persischen Dichters.« Der Junge ganz links, der im Schneidersitz auf der Decke saß, war unverkennbar Vater. Er sah glücklicher und fröhlicher und sorgloser aus, als ich ihn je gekannt hatte. Der lange, knochige Bursche in der Mitte, der tat, als wollte er gerade in ein belegtes Brot beißen, war Horace Bonepenny. Ihn hätte ich sogar ohne Beschriftung erkannt. Seine feuerroten Locken erschienen auf dem Foto als geisterhaft weiße Aura um seinen Kopf. Ich erschauerte, denn ich musste daran denken, wie er im Tode ausgesehen hatte. Etwas abseits seiner beiden Kameraden schien der dritte Junge großen Wert darauf zu legen, im Profil aufgenommen zu werden, denn er legte den Kopf unnatürlich schief. Er war ein dunkler Typ, gut aussehend und älter als die beiden anderen, und hatte etwas Verführerisches an sich, wie ein Stummfilmstar. Ich konnte es nicht erklären, aber sein Gesicht kam mir seltsam bekannt vor. Dann zuckte ich zusammen, als hätte mir jemand eine Eidechse in den Kragen gesteckt. Ich hatte ihn tatsächlich schon einmal gesehen, und das erst kürzlich! Der dritte Junge auf dem Foto war zu ebenjenem Mann herangewachsen, der sich mir erst gestern als Frank Pemberton vorgestellt hatte, Frank Pemberton, der im Tempelchen neben mir im Regen gestanden hatte, Frank Pemberton, der mir heute Morgen erzählt hatte, er wolle in Nether Eaton ein Grabmal besichtigen. Mit einem Mal fügte sich eins zum anderen, und ich sah die Lösung so deutlich vor mir, als wären mir, wie einst Saulus, Schuppen von den Augen gefallen. Frank Pemberton war Bob Stanley, und Bob Stanley war sozusagen »Der Dritte Mann«. Er war es, der Horace Bonepenny in unserem Gurkenbeet umgebracht hatte, dafür hätte ich jederzeit mein Leben verwettet. Als mit einem Mal alle Puzzleteilchen zusammenpassten, hämmerte mein Herz zum Zerspringen. Von Anfang an war etwas an Pemberton nicht ganz koscher gewesen, und auch daran hatte ich seit unserer gestrigen Begegnung im Tempelchen nicht mehr gedacht. Was hatte er da doch gleich gesagt? Wir hatten übers Wetter gesprochen, wir hatten uns einander vorgestellt. Er hatte zugegeben, dass er bereits wusste, wer ich war, weil er meine Familie im Who’s Who nachgeschlagen hatte. Wozu, wenn er doch Vater seit Urzeiten kannte? Hatte diese Lüge meine unsichtbaren Antennen zum Zucken gebracht? Er hatte einen leichten Akzent gehabt, fiel mir ein. Nicht sehr auffällig, aber dennoch … Er hatte mir erzählt, dass er an einem Buch arbeitete: Pembertons Herrensitze - Ein Bummel durch die Zeitläufte. Das mochte stimmen. Was hatte er sonst noch gesagt? Nichts von Bedeutung, ein paar belanglose Bemerkungen darüber, dass wir beide Schiffbrüchige Da loderte das Stückchen Holzkohle, das die ganze Zeit in meinem Hinterkopf geglüht hatte, mit einem Mal hell auf! »Bestimmt werden wir irgendwann noch richtig gute Freunde.« Wortwörtlich. Und wo hatte ich das schon einmal gehört? Wie ein Ball an einer Gummischnur flogen meine Gedanken zu einem Wintertag zurück. Obwohl es noch früher Morgen war, hatten sich die Bäume vor dem Salonfenster von gelb über orange nach grau verfärbt, und der Farbton des Himmels war von Kobaltblau zu Tiefschwarz umgeschlagen. Mrs Mullet hatte ein Tablett mit Hefebrötchen hereingebracht und die Vorhänge zugezogen. Feely saß auf der Couch und begaffte sich in der Rückseite eines Teelöffels, Daffy fläzte sich in Vaters altem Polstersessel am Kamin. Sie las uns laut aus Penrod vor, einem Buch, das sie aus dem Regal mit Harriets Lieblingskinderbüchern in ihrem Ankleidezimmer requiriert hatte. Penrod Schofield war zwölf, ein Jahr und ein paar Monate älter als ich, aber altersmäßig doch nahe genug an mir dran, um mein flüchtiges Interesse zu wecken. Er kam mir vor wie eine Art Huckleberry Finn, aber in die Zeit des Ersten Weltkriegs versetzt, irgendwo in einer ungenannten Kleinstadt im amerikanischen Mittelwesten. Obwohl in dem Buch lauter Ställe, Gässchen, hohe Bretterzäune und Lieferwagen vorkamen, die damals noch von Pferden gezogen wurden, erschien mir die ganze Szenerie so fremd, als spielte die Geschichte auf dem Planeten Pluto. Feely und ich hatten uns gebannt von Daffy Scaramouche, Die Schatzinsel und Die Geschichte zweier Städte vorlesen lassen, aber Penrod und seine Welt waren uns aus unerfindlichen Gründen so fern wie die letzte Eiszeit. Feely, die jedem Buch eine Tonart zuzuordnen pflegte, meinte, es sei in c-Moll geschrieben. Trotzdem hatten wir hin und wieder lachen müssen, wenn Penrod gegen seine Eltern und die Obrigkeit rebellierte, aber ich hatte mich schon damals gewundert, was die junge Harriet de Luce an diesem aufsässigen Jungen spannend und womöglich liebenswert gefunden hatte. Vielleicht kam ich der Antwort jetzt näher. Die amüsanteste Szene schilderte meiner Erinnerung nach, wie Penrod dem scheinheiligen Reverend Mr Kinosling vorgestellt wird, der ihm den Kopf tätschelt und im breitesten Mittelwesten-Dialekt sagt: »Bestimmt werden wir irgendwann noch richtig gute Freunde.« Genau mit dieser Art von Herablassung hatte auch ich es immer wieder zu tun, und wahrscheinl ich habe ich mich totgelacht. Das Entscheidende war jedoch, dass Penrod ein amerikanisches Buch war, verfasst von einem Amerikaner. Es dürfte in England längst nicht so bekannt sein wie auf der anderen Seite des Ozeans. Ob Bob Stanley alias Frank Pemberton hier in England auf das Buch beziehungsweise den Satz gestoßen war? Das war natürlich möglich, trotzdem hielt ich es für unwahrscheinlich. Und hatte mir Vater nicht erzählt, Bob Stanley, ebenjener Bob Stanley, der Horace Bonepennys Komplize gewesen war, sei nach Amerika ausgewandert, wo er einen zwielichtigen Briefmarkenhandel betrieben hatte? Pemberton sprach mit amerikanischem Akzent! Ein ehemaliger Greyminsterianer mit einem Anflug von Neuer Welt. Wie beschränkt ich doch gewesen war! Der nächste Blick aus dem Fenster offenbarte mir, dass Mrs Fairweather verschwunden und die Cow Lane wieder menschenleer war. Ich ließ das Buch offen auf dem Tisch liegen, schlüpfte ins Freie und ging von der Rückseite der Garage aus zum Fluss. Vor hundert Jahren war der Fluss Efon einmal Teil eines Kanalsystems gewesen, von dem heutzutage bis auf den Treidelpfad Ich kletterte über das morsche Friedhofstor und stand auf dem alten Kirchhof, wo die alten Grabsteine wie kreuz und quer treibende Bojen aus einem Grasmeer aufragten. Das Gras war so hoch, dass ich hindurchwaten musste wie ein Badegast, der bis zur Hüfte im Meer steht. Die ältesten Gräber und diejenigen der wohlhabendsten verblichenen Gemeindemitglieder standen nah bei der Kirche, während hier hinten an der Feldsteinmauer jene der erst kürzlich Verstorbenen zu finden waren. Abgesehen davon gab es auch eine senkrechte Schichtung. Fünfhundert Jahre ununterbrochener Benutzung hatten dem Friedhof das Aussehen eines Brotlaibs verliehen: ein dickes, frisch gebackenes, grünes Brot, das beträchtlich über das Niveau des Bodens ringsum aufgegangen war. Bei dem Gedanken an die gärenden Überreste unter meinen Füßen überlief mich ein wohliger Schauer. Eine Zeit lang streifte ich ziellos zwischen den Grabsteinen umher und las die Familiennamen, die man in Bishop’s Lacey heute noch alle naselang hört: Coombs, Nesbit, Barker, Hoare und Carmichael. Hier lag der kleine William mit einem eingemeißelten Lamm auf dem Stein, der kleine Sohn von Tully Stoker, der, wäre er am Leben geblieben, inzwischen ein erwachsener Mann von dreißig und Marys großer Bruder wäre. Der kleine William war im Alter von fünf Monaten und vier Tagen im Frühjahr 1919 an »Krupp« gestorben, wie auf dem Stein zu lesen stand, ein Jahr bevor Mr Twining in Greyminster vom Glockenturm sprang. Demnach standen die Chancen Schon dachte ich, ich hätte ihn gefunden, denn ein schwarzer Stein mit pyramidenähnlicher Spitze trug die grob gehauene Inschrift »Twining«. Aber dieser Twining erwies sich bei näherer Betrachtung als ein gewisser Adolphus, der 1809 auf See verschollen war. Sein Stein war so gut erhalten, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, über die kühle, geschliffene Oberfläche zu streichen. »Ruhe sanft, Adolphus«, sagte ich, »wo immer du auch sein magst.« Mr Twinings Grabstein, so er denn einen hatte - und das konnte eigentlich nicht anders sein -, war gewiss keines der verwitterten Exemplare, die wie schartige braune Zähne aus dem Boden ragten, und auch keines jener gewaltigen, von Säulen eingefassten Denkmäler mit durchhängenden Ketten und schmiedeeisernen Einzäunungen, wie sie die reichsten und vornehmsten Familien von Bishop’s Lacey besaßen (darunter übrigens sämtliche de Luces). Ich stemmte die Hände in die Hüften und stellte mich mitten in das hohe, von Unkraut durchsetzte Gras. Hinter der Mauer verlief der Treidelpfad und dahinter der Fluss. Irgendwo dort hinten war Miss Mountjoy verschwunden, als sie aus der Kirche geflüchtet war, gleich nachdem uns der Vikar aufgefordert hatte, für Horace Bonepennys Seele zu beten. Wo hatte die Bibliothekarin so eilig hingewollt? Ich kletterte abermals über das Friedhofstor und sprang auf den Treidelpfad. Jetzt konnte ich die Trittsteine erkennen, die zwischen den breiten, im Wasser wogenden Bändern des Wassergrases dicht unter der Oberfläche des träge dahinströmenden Flusses lagen. Die Steine führten in einer Schlangenlinie über den sich verbreiternden Teich bis zum gegenüberliegenden, flachen und sandigen Ufer hinüber. Oberhalb des Ufers und parallel zu ihm Ich zog Schuhe und Strümpfe aus und trat auf den ersten Stein. Das Wasser war eiskalt. Meine Nase lief immer noch ein bisschen, und meine Augen tränten, und mir ging durch den Kopf, dass ich womöglich in ein, zwei Tagen an Lungenentzündung sterben und mich Haste-nicht-gesehen zu den Dauerbewohnern des Friedhofs von St. Tankred gesellen würde. Mit wie Schranken ausgebreiteten Armen balancierte ich vorsichtig durchs Wasser und watete drüben angekommen unbeholfen durch den Uferschlamm. Dann hangelte ich mich am Gestrüpp die Böschung hinauf, die zugleich einen Deich aus festgestampfter Erde zwischen dem Fluss und der angrenzenden Wiese bildete. Dort angekommen musste ich mich erst einmal hinsetzen, ein wenig verschnaufen und mir mit einem Grasbüschel vom Heckensaum die Füße sauber wischen. Ganz in der Nähe trällerte eine Goldammer »Wie-wie-wie-hab-ich-dich-liiieeeb« - und verstummte jäh. Ich spitzte die Ohren, konnte aber nur das ferne Gebrumm des Landlebens vernehmen, das dudelsackähnliche Dröhnen irgendwelcher weit entfernter landwirtschaftlicher Maschinen. Als ich Strümpfe und Schuhe wieder angezogen hatte, klopfte ich mir den Staub von den Kleidern und schlenderte an der Hecke entlang, die wie ein undurchdringliches Dornendickicht aussah. Gerade als ich wieder kehrtmachen wollte, entdeckte ich eine Stelle, an der sich die Ranken ein wenig lichteten. Ich zwängte mich hindurch und kam hinter der Hecke wieder heraus. Ein paar Meter in Richtung Kirche ragte etwas aus dem Gras. Ich näherte mich vorsichtig, wobei mir ein noch von den Neandertalern stammender Urinstinkt eine Gänsehaut am ganzen Leib verpasste. Es war ein Grabstein. Mit kunstlosen Lettern stand darauf geschrieben: »Grenville Twining«. Auf dem schiefen Sockel war nur ein einziges Wort eingemeißelt: Vale. Vale … das hatte Mr Twining auf dem Turm ausgerufen, ehe er sprang! Das hatte der sterbende Horace Bonepenny mir ins Gesicht geröchelt! Jetzt endlich schlug die Erkenntnis wie eine Welle über mir zusammen: Den sterbenden Bonepenny hatte das Gewissen gedrückt, aber der Tod hatte ihm nur noch ein Wort gewährt, um den Mord an Mr Twining zu gestehen. Da ich der einzige Mensch war, der seine Beichte gehört hatte, war ich auch die einzige noch lebende Person, die einen Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen herstellen konnte. Ich und vielleicht noch Bob Stanley. Mein Mr Pemberton. Bei dieser Vorstellung lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Auf Mr Twinings Grabstein waren keine Daten vermerkt, als hätte derjenige, der ihn hier bestattet hat, jede Erinnerung an sein Leben tilgen wollen. Daffy hatte uns Geschichten vorgelesen, in denen Selbstmörder außerhalb der Friedhofsmauer oder an Kreuzwegen begraben wurden, aber ich hatte das bis dahin für frömmlerische Ammenmärchen gehalten. Trotzdem überlegte ich unwillkürlich, ob ich wohl gerade über Mr Twinings Leichnam stand, der wie Graf Dracula in seinem Umhang in seinen Lehrertalar gehüllt dalag. Aber der Talar, den ich auf dem Turm von Anson House gefunden hatte und der nun bei der Polizei verwahrt wurde, hatte nicht Mr Twining gehört. Vater hatte mehrmals erwähnt, dass Mr Twining mit wehendem Talar vom Dach gestürzt war, und so hatte es auch Toby Lonsdale dem Hinley-Kurier erzählt. Konnten sie sich beide geirrt haben? Vater hatte schließlich auch eingeräumt, dass die Sonne ihn geblendet haben mochte. Was hatte er noch erzählt? Ich rief mir noch einmal ins Gedächtnis, wie er Mr Twinings Erscheinung oben auf dem Dach beschrieben hatte. »Sein Kopf schien zu glühen, sein Haar glich einer Scheibe aus Kupferblech, wie die Heiligenscheine in einer bebilderten mittelalterlichen Handschrift.« Die Lösung des Rätsels traf mich so plötzlich, dass mir fast schlecht wurde: Derjenige, der auf dem Dach an der Brüstung gestanden hatte, war nicht Mr Twining, sondern Horace Bonepenny gewesen! Horace Bonepenny mit dem feuerroten Schopf, Horace Bonepenny der Schauspieler, Horace Bonepenny der Zauberkünstler. Das Ganze war eine gründlich geplante Täuschung gewesen! Miss Mountjoy hatte tatsächlich Recht gehabt: Bonepenny hatte ihren Onkel auf dem Gewissen. Er und sein Komplize Bob Stanley mussten Mr Twining aufs Turmdach gelockt haben, höchst wahrscheinlich unter dem Vorwand, ihm die gestohlene Briefmarke zurückgeben zu wollen, die sie angeblich dort versteckt hatten. Vater hatte mir von Bonepennys ausgefallenen mathematischen Berechnungen erzählt. Seine architektonischen Streifzüge dürften ihn mit den Turmziegeln so vertraut gemacht haben wie mit seiner Westentasche. Als Mr Twining dann drohte, die beiden auffliegen zu lassen, hatten sie ihn umgebracht. Vermutlich hatten sie ihn mit einem Ziegelstein erschlagen. Nach dem schrecklichen Sturz vom Dach waren davon keine Spuren mehr nachzuweisen gewesen. Anschließend hatten die beiden den Selbstmord wie eine Theatervorstellung aufgeführt, nachdem sie ihn in allen Einzelheiten kaltblütig geplant, in Gedanken durchgespielt, ja, womöglich sogar geprobt hatten. Mr Twining war tatsächlich vom Dach gestürzt, aber es war Bonepenny gewesen, der mit Talar und Barett im Schein der Morgensonne an der Brüstung gestanden und »Vale!« gerufen Nach dieser kleinen Vorstellung hatte sich der Schurke hinter die Brüstung geduckt, während Stanley den toten Twining durch die Entwässerungsöffnung im Dach gestoßen hatte. Für einen, zumal von der Sonne geblendeten, Beobachter von unten musste es ausgesehen haben, als wäre der Alte gesprungen. Im Grunde war es ihre bewährte Nummer Die Auferstehung des Tschang Fu, nur auf einer größeren Bühne. Den geblendeten Zuschauern war etwas vorgegaukelt worden. Und das ausgesprochen überzeugend! Seit jenem Tag war Vater davon überzeugt, sein Schweigen habe Mr Twining in den Selbstmord getrieben, er habe den Tod des Alten verschuldet! Was für eine furchtbare Bürde! Wie schrecklich! Dreißig Jahre hatte niemand die Beweisstücke unter den Dachziegeln von Anson House entdeckt, hatte niemand einen Gedanken darauf verschwendet, dass es auch ein Mord hätte sein können. Und beinahe wären die Verschwörer damit durchgekommen. Ich musste mich an Mr Twinings Grabstein festhalten. »Soso, du hast ihn also gefunden«, sagte da jemand hinter mir. Beim Klang der Stimme gefror mir das Blut in den Adern. Ich fuhr herum. Hinter mir stand Frank Pemberton.  23 Wenn sich jemand in einem Roman oder einem Kinofilm einem Mörder gegenübersieht, sind dessen erste Worte immer voller finsterer Drohungen, oft bedient sich der Betref fende sogar bei Shakespeare. »Hoho!«, macht dann der Bösewicht und zitiert:«Liebe findt zuletzt ihr Stündlein« oder »Klug allzubald, sagt man, wird nimmer alt.« Frank Pemberton jedoch sagte nichts dergleichen. Ganz im Gegenteil. »Tag, Flavia.« Er grinste schief. »Das ist ja lustig, dass wir uns hier begegnen.« Mein Herz raste, und ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss, sodass sie trotz der kalten Schauer, die mich überliefen, heiß wie Backbleche wurden. Mir schoss nur ein Gedanke durch den Kopf: Ich darf mir nichts anmerken lassen … Ich darf mir nichts anmerken lassen. Er darf auf keinen Fall merken, dass ich weiß, dass er Bob Stanley ist. »Guten Tag«, erwiderte ich mit möglichst fester Stimme. »Wie war’s beim Grabmal?« Ich merkte gleich, dass ich damit niemandem etwas vormachen konnte. Er musterte mich wie die Katze den Kanarienvogel, wenn beide allein zu Hause sind. »Das Grabmal? Ach! Ein Praliné aus weißem Marmor. Sah einer Marzipanmandel verblüffend ähnlich, bloß viel grö ßer.« Ich beschloss, so lange mitzuspielen, bis ich mir einen Plan zurechtgelegt hatte. »Ihr Verleger war doch bestimmt begeistert.« »Mein Verleger? Ach, ja. Der alte …« »… Quarrington«, sagte ich. »Ganz recht, der alte Quarrington. Der war völlig aus dem Häuschen.« Pemberton, wie ich ihn insgeheim immer noch nannte, stellte seinen Rucksack ab und knotete die Lederbänder seiner Mappe auf. »Puh!«, machte er. »Ganz schön warm heute, was?« Er zog die Jacke aus, warf sie achtlos über die Schulter und deutete mit dem Daumen auf Mr Twinings Grabstein. »Was findest du denn an diesem Grab so spannend?« »Mr Twining ist ein ehemaliger Lehrer meines Vaters«, antwortete ich. »Ach so!« Er setzte sich ins Gras und lehnte sich so ungezwungen an den Sockel, als wäre er Lewis Carroll und ich Alice und wir säßen am Fluss Isis beim Picknick. Wie viel weiß er?, überlegte ich fieberhaft. Ich wartete auf seine Eröffnung. Bis dahin blieb mir noch Zeit zum Nachdenken. Ich plante bereits meine Flucht. Konnte ich ihm entkommen, wenn ich einfach losrannte? Ich hatte so meine Zweifel. Wenn ich zum Fluss lief, würde er mich einholen, ehe ich auch nur halb drüben war. Ich konnte natürlich auch über die Wiese zum Malplaquet-Hof rennen, aber dort Hilfe aufzutreiben würde noch schwieriger sein als auf der Hauptstraße. »Ich habe gehört, dass dein Vater ein großer Briefmarkensammler ist«, sagte Pemberton unvermittelt und schaute unbekümmert zu dem Bauernhof hinüber. »Er sammelt Briefmarken, ja. Woher wissen Sie das?« »Mein Verleger, der alte Quarrington, hat es heute Vormittag erwähnt. Er erwägt, deinen Vater zu bitten, ein Buch über Das war gelogen, und ich merkte es sofort. Da ich selbst eine gewiefte Schwindlerin war, roch ich Lunte, noch ehe er ausgeredet hatte: seine übertrieben ausführliche Schilderung, die beiläufige Präsentation und die Verpackung in harmloses Geplauder. »Dabei könnte durchaus ein schöner Batzen Geld herausspringen«, setzte er hinzu. »Der alte Quarrington ist ziemlich flüssig, seit er in die Norwood-Millionen eingeheiratet hat. Aber verrate bloß nicht, dass ich dir das erzählt habe. Ich könnte mir denken, dass dein Vater zu einem bisschen Kleingeld nicht Nein sagen würde. Davon könnte er sich wieder eine neue New-Guinea-Halfpenny-Dingsbums kaufen, stimmt’s? Es ist doch bestimmt kostspielig, ein großes Anwesen wie Buckshaw zu unterhalten.« Das ging nun aber entschieden zu weit. Für wie naiv hielt mich der Kerl? »Vater hat momentan ziemlich viel zu tun«, entgegnete ich. »Aber ich kann ihn ja mal darauf ansprechen.« »Richtig, du hattest ja von einem unerwarteten Todesfall erzählt … mit Polizei und allem Drum und Dran. Das zerrt bestimmt an den Nerven.« Wollte er nun heraus mit der Sprache, oder wollte er Konversation machen, bis es dunkel wurde? Vielleicht war es geschickter, wenn ich die Initiative ergriff. Dann konnte ich mir vielleicht den Überraschungseffekt zunutze machen. Aber wie? Da fiel mir ein schwesterlicher Rat ein, den Feely mir und Daffy einmal erteilt hatte: »Wenn ein Mann euch mal zu aufdringlich wird«, hatte sie Das hatte sich zwar seinerzeit wie ein nützlicher Hinweis angehört, dumm war nur, dass ich keine Ahnung hatte, wo sich besagte »Casanovas« befanden. Also musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Ich scharrte mit dem Schuh im Sand. Sollte ich ihm eine Handvoll Sand in die Augen werfen? Ich spürte, dass er mich beobachtete. Dann stand er auf und klopfte sich den Hosenboden ab. »Manchmal tut man etwas Überstürztes und bereut es hinterher«, sagte er im Plauderton. Meinte er damit Horace Bonepenny oder sich selbst? Oder wollte er mich vor unüberlegten Handlungen warnen? »Ich habe dich übrigens im Dreizehn Erpel gesehen. Du warst im Foyer und hast ins Gästebuch geschaut, als mein Taxi kam.« Mist! Ich war also doch gesehen worden! »Meine beiden Freunde Mary und Ned arbeiten dort«, erwiderte ich. »Manchmal fahre ich hin und statte ihnen einen kleinen Besuch ab.« »Und schnüffelst in den Gästezimmern herum?« Ich spürte, dass ich knallrot wurde. »Offenbar habe ich ins Schwarze getroffen. Pass auf, Flavia, ich will dir nichts vormachen. Ein Geschäftsfreund hatte einen Gegenstand in seinen Besitz gebracht, der nicht ihm gehörte, sondern mir. Anders als mein Geschäftsfreund weiß ich zufällig, dass du und die Wirtstochter die einzigen beiden Menschen seid, die in seinem Zimmer gewesen sind. Ich weiß auch, dass Mary Stoker keinen Anlass hätte, sich den bewussten Gegenstand anzueignen. Was soll ich nun davon halten?« »Sprechen Sie zufällig von einer ollen Briefmarke?« Es würde ein Drahtseilakt werden, und ich streifte bereits »Du gibst es also zu? Dann bist du sogar noch klüger, als ich dachte.« »Die Marke lag auf dem Boden unter dem Koffer. Sie ist wohl herausgefallen. Ich habe Mary beim Putzen geholfen. Sie war nicht gründlich genug gewesen, und weil ihr Vater ziemlich unangenehm werden kann, na ja, Sie verstehen schon …« »Ich verstehe sehr gut. Du hast meine Marke also geklaut und mit heimgenommen.« Ich biss mir auf die Lippe, verzog das Gesicht und rieb mir die Augen. »Nicht geklaut. Ich dachte, sie ist jemandem heruntergefallen. Nein, das stimmt nicht ganz. Ich wusste, dass sie Horace Bonepenny heruntergefallen war, und weil er ja tot war, hatte er offensichtlich keine Verwendung mehr dafür. Da fiel mir ein, dass die Marke doch ein prima Geschenk für meinen Vater wäre. Vielleicht wäre er dann nicht mehr sauer auf mich, weil ich die Tiffanyvase zerschmissen habe. So. Jetzt wissen Sie’s.« Pemberton stieß einen Pfiff aus. »Eine Tiffanyvase?« Ich spielte die Zerknirschte. »Es war keine Absicht. Eigentlich darf ich im Haus nicht Tennis spielen.« »Nun«, sagte Pemberton, »damit wäre das Problem gelöst, nicht wahr? Du gibst mir die Briefmarke, und der Fall hat sich erledigt. Einverstanden?« Ich nickte eifrig. »Ich laufe sofort nach Hause und hole sie.« Pemberton brach in ein taktloses Gelächter aus und klatschte sich auf den Oberschenkel. Als er sich wieder eingekriegt hatte, japste er: »Für dein Alter bist du richtig gut, das muss ich schon sagen. Du erinnerst mich an mich selbst. Du läufst nach Hause und holst die Marke! Haha!« »Na gut. Meinetwegen verrate ich Ihnen, wo ich sie versteckt habe, und Sie holen sie sich selbst. Ich bleibe so lange hier. Großes Pfadfinderinnenehrenwort!« Ich machte den dreiohrigen Pfadfinder-Hasengruß. Natürlich verriet ich ihm nicht, dass ich dieser Organisation streng genommen gar nicht mehr angehörte, seit man mich damals rausgeworfen hatte, weil ich Eisenhydroxid hergestellt hatte, um mir mein Hauswirtschaftsabzeichen zu verdienen. Es hatte anscheinend niemanden beeindruckt, dass es sich um das Gegenmittel bei Arsenvergiftung handelte. Pemberton schaute auf seine Armbanduhr. »Es ist schon spät. Genug geplaudert, würde ich sagen.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, als hätte jemand einen Vorhang vorgezogen. Mich fröstelte mit einem Mal. Pemberton machte einen Satz und packte mich am Handgelenk. Ich schrie vor Schreck und Schmerz auf. Weil er mir ohnehin gleich den Arm auf den Rücken drehen würde, sträubte ich mich nicht. »Ich habe die Marke in Vaters Ankleidezimmer versteckt«, sprudelte ich hervor. »In dem Zimmer gibt es zwei Uhren: eine große auf dem Kaminsims und eine kleinere auf dem Nachttisch neben dem Bett. Die Briefmarke klebt auf der Rückseite des Pendels der Kaminuhr.« Worauf etwas Furchtbares und, wie sich herausstellen sollte, zugleich Rettendes geschah. Meine schon fast vergessene Erkältung hatte sich den ganzen Tag über zurückgehalten. Mir war schon früher aufgefallen, dass Erkältungen, genauso, wie sie sich zurückziehen, wenn man schläft, sich oft gerade dann bemerkbar machen, wenn man eigentlich viel zu beschäftigt ist, sich ihnen zu widmen. Meine Erkältung jedenfalls kehrte in diesem Augenblick schlagartig zurück. Ich vergaß einen Augenblick, dass der Rächer von Ulster noch darinsteckte, und zog mein Taschentuch heraus. Der erschrockene Wie auch immer, als ich das Taschentuch an die Nase führte, packte er, noch ehe ich das Tuch richtig entfaltet hatte, blitzschnell meine Hand, knüllte das Tuch fest zusammen und stopfte es mir samt Briefmarke in den Mund. »So!«, sagte er. »Dann werden wir doch mal sehen.« Er nahm die Jacke von der Schulter, breitete sie wie einen Torreroumhang aus, und das Letzte, was ich sah, als er mir das Ding über den Kopf warf, war Mr Twinings Grabstein mit der Inschrift »Vale!«. Gehabt euch wohl! Etwas spannte sich um meine Schläfen und ich vermutete, dass Pemberton die Jacke mit den Riemen seiner Zeichenmappe über meinem Kopf festzurrte. Dann warf er mich über seine Schulter und trug mich mühelos wie ein Metzger ein Stück Rindfleisch wieder auf die andere Flussseite. Mir drehte sich noch alles, da hatte er mich auch schon unsanft wieder auf die Füße gestellt. Er packte mich mit einer Hand im Nacken, hielt mit der anderen meinen Arm fest und stieß mich den Treidelpfad entlang. »Setz immer schön einen Fuß vor den anderen, bis ich dir sage, dass du stehen bleiben sollst.« Ich versuchte, um Hilfe zu rufen, aber mein Mund war voll nassem Taschentuch, sodass ich nur ein quiekendes Grunzen wie von einem Schweinchen zustande brachte. Ich konnte mich nicht mal beschweren, dass er mir weh tat. Da begriff ich, dass ich noch nie in meinem Leben solche Angst gehabt hatte. Während ich blindlings vor ihm her stolperte, sprach ich ein Stoßgebet nach dem anderen. Irgendjemand musste uns doch sehen! Dann würde uns der Betreffende bestimmt etwas zurufen, und das würde ich wohl trotz der um den Kopf gebundenen »Halt!«, befahl er plötzlich unvermittelt, nachdem er mich ungefähr hundert Meter weit vor sich hergeschubst hatte. »Rühr dich nicht vom Fleck.« Ich gehorchte. Ich hörte es scheppern, dann knarrte es wie von ungeölten Türangeln. Die Garage! »Eine Stufe hoch«, sagte er. »So ist’s recht … und jetzt drei Schritte geradeaus. Und wieder stehen bleiben.« Hinter uns schloss sich die Tür mit hölzernem Ächzen wie ein Sargdeckel. »Taschen ausleeren!«, kommandierte Pemberton. Ich hatte nur eine Tasche, nämlich die in meinem Pullover. Und da war nichts drin außer dem Schlüssel zur Küchentür von Buckshaw. Vater bestand darauf, dass wir Schwestern für Notfälle immer einen Schlüssel bei uns trugen, und da er hin und wieder Stichproben machte, ging ich nie ohne Schlüssel aus dem Haus. Als ich die Tasche umkehrte, hörte ich, wie der Schlüssel auf den Holzboden fiel, weghüpfte und über die Dielen schlitterte. Dann verriet mir ein leises Klackern, dass er auf Beton gelandet war. »Verdammter Mist!«, fluchte Pemberton. Wunderbar! Der Schlüssel war bestimmt in die Mechanikergrube gefallen. Jetzt musste Pemberton die Bretter abnehmen und hinuntersteigen. Meine Hände waren frei. Ich konnte mir die Jacke vom Kopf reißen, zur Tür rausrennen, mir den Knebel herausziehen und wie am Spieß schreiend zur Hauptstraße laufen. Die war kaum eine Minute entfernt. Ich behielt Recht. Schon hörte ich das unverwechselbare Geräusch von schweren Bohlen, die über den Boden geschleift Seit wir hereingekommen waren, hatte ich mich nicht von der Stelle gerührt. Wenn ich mich nicht irrte, war hinter mir die Tür und vor mir die Grube. Demnach musste ich mich um hundertachtzig Grad drehen, und das blind. Entweder konnte Pemberton Gedanken lesen oder ihm war aufgefallen, dass ich unmerklich den Kopf drehte. Im Handumdrehen war er bei mir und drehte mich ein paarmal im Kreis, als wollten wir Blindekuh spielen. Die blinde Kuh war ich, das stand mal fest. Als er endlich aufhörte, war mir so schwindlig, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. »Das hätten wir«, sagte er zufrieden. »Und jetzt klettern wir runter. Pass auf, wo du hintrittst.« Ich schüttelte heftig den Kopf und stellte mir dabei vor, wie albern das mit einer Jacke um den Kopf aussehen musste. »Hör gut zu, Flavia. Wenn du ein braves Mädchen bist, muss ich dir nicht wehtun. Sobald ich die Marke habe, schicke ich jemanden her, der dich hier rausholt. Andernfalls …« Andernfalls? »…sehe ich mich zu etwas ausgesprochen Unerfreulichem gezwungen.« Vor meinen blinden Augen erschien das Bild des sterbenden Horace Bonepenny, und mir wurde klar, dass Pemberton kein Mann der leeren Worte war. Er zog mich am Ellenbogen ein Stück weiter, bis ich vermutlich am Rand der Grube stand. »Es sind acht Stufen. Ich zähle mit. Keine Angst, ich halte dich fest.« Ich trat ins Leere. »Eins«, sagte Pemberton, als mein Fuß Halt fand. Ich blieb schwankend stehen. »Schön langsam … zwei … drei … jetzt bist du gleich unten.« Ich streckte die rechte Hand aus und spürte, dass sich der Rand der Grube auf der Höhe meiner Schulter befand. Als ein kalter Hauch meine bloßen Knie streifte, fing mein Arm zu zittern an wie ein abgestorbener Zweig im Winterwind, und in meinem Hals bildete sich ein Kloß. »Gut so … vier … fünf … jetzt sind’s nur noch zwei.« Er kam hinter mir die Stufen heruntergestapft, immer eine nach der anderen. Sollte ich ihn am Arm packen und umreißen? Vielleicht schlug er sich ja auf dem Betonboden den Schädel ein, und ich konnte über ihn drübersteigen und wieder hinausklettern. Da blieb er wie angewurzelt stehen und grub mir die Finger in den Oberarm. Ich stieß einen erstickten Schrei aus, und er lockerte seinen Griff. »Schnauze!«, knurrte er. Mit ihm war eindeutig nicht zu spaßen. Draußen in der Cow Lane stieß ein Lastwagen zurück. Der Rückwärtsgang jaulte und jammerte immer lauter. Da kam jemand! Pemberton stand reglos da. Nur sein Keuchen war in der kalten Grube zu hören. Wegen der Jacke konnte ich die Stimmen draußen nur gedämpft hören. Eine Ladeklappe polterte. Aus irgendeinem Grund musste ich in diesem Augenblick an Feely denken. Warum, würde sie fragen, schreist du nicht? Warum reißt du dir nicht die Jacke runter und schlägst diesem Pemberton die Zähne in den Arm? Sie würde sich alles haarklein erzählen lassen, und was ich auch sagte, sie würde alles widerlegen, als wäre sie der Oberste Richter persönlich. In Wirklichkeit hatte ich schon Schwierigkeiten, überhaupt genug Luft zu kriegen. Mein Taschentuch aus derbem praktischem Wenn ich würgen musste, war ich geliefert. Bei der kleinsten Anstrengung wurde mir schauderhaft schwindlig. Abgesehen davon standen die Männer dort draußen neben einem Lastwagen mit laufendem Motor, dessen Geratter und Gerumpel mich ohnehin übertönen würde. Da hätte ich schon einen wahrhaft ohrenbetäubenden Lärm veranstalten müssen. Darum war es das Beste, wenn ich mich vorerst still verhielt und meine Kräfte schonte. Die Ladeklappe schlug zu, zwei Türen klappten, dann fuhr der Lastwagen im ersten Gang gemächlich davon. Wir waren wieder allein. »Und jetzt«, sagte Pemberton, »gehst du brav weiter. Noch zwei Stufen.« Er zwickte mich fest in den Arm, und ich schob den Fuß nach vorn. »Sieben«, zählte er. Ich blieb stehen. Es widerstrebte mir, den letzten Schritt in meinen Kerker zu tun. »Noch eine. Langsam.« Als würde er einer alten Dame über die Straße helfen. Mit dem letzten Schritt stand ich knöcheltief in Unrat. Ich hörte Pemberton mit dem Fuß darin herumscharren. Er hielt mich immer noch mit eisernem Griff am Arm fest und ließ nur einmal kurz locker, als er sich bückte, um etwas aufzuheben. Den Schlüssel. Wenn er den sehen konnte, dachte ich, fiel offenbar ein Schimmer Tageslicht auf den Boden der Grube. Der Boden der Grube … Aus unerfindlichen Gründen fielen mir Inspektor Hewitts rätselhafte Worte ein, als er mich von der Polizeiwache nach Hause gefahren hatte. Die Streusel schmecken süß, jedoch, viel süßer schmeckt der Boden noch! Was zum Kuckuck sollte das bedeuten? Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. »Tut mir leid, Flavia«, unterbrach Pemberton meine Grübeleien, »ich muss dich leider fesseln.« Ich hatte noch gar nicht begriffen, was er gesagt hatte, da drehte er mir auch schon die Arme auf den Rücken und band mir die Handgelenke zusammen. Mit seiner Krawatte vielleicht? Aber ich legte geistesgegenwärtig wieder die Fingerspitzen zusammen und drückte die Hände auseinander, wie neulich, als mich Feely und Daffy in den Wandschrank gesperrt hatten. Wann war das gewesen? Letzten Mittwoch? Es hätte auch vor tausend Jahren sein können. Bedauerlicherweise war Pemberton nicht blöd. Er durchschaute sofort, was ich vorhatte, zwickte mich schmerzhaft in die Handrücken, und mein Dächlein stürzte ein. Anschlie ßend zurrte er die Fesseln ordentlich fest und verknotete sie doppelt und dreifach, wobei er bei jedem Knoten sicherheitshalber noch einmal kräftig zog. Als ich mit dem Daumen über den Knoten fuhr, fühlte er sich glatt und weich an. Seidenweich. Er hatte tatsächlich seine Krawatte benutzt. Ein niederschmetternder Befund! Meine Handgelenke schwitzten schon, und Feuchtigkeit lässt Seidenfasern einlaufen. Besser gesagt: Seidenfasern bestehen wie Haare aus Eiweiß und schrumpfen zwar selbst nicht, können sich aber bei entsprechender Webtechnik und unter der Einwirkung von Feuchtigkeit erbarmungslos zusammenziehen. Bald würden meine Hände nicht mehr richtig durchblutet werden, und nach einer Weile … »Hinsetzen!« Pemberton drückte mich an der Schulter zu Boden, und ich setzte mich. Seine Gürtelschnalle klirrte, dann schlang er mir den Gürtel um die Knöchel und zog ihn fest. Anschließend sagte er nichts mehr. Seine Schritte knirschten Kurz darauf war alles still. Er war weg. Ich war allein in der Grube, und außer Pemberton wusste kein Mensch, wo ich war. Einsam und verlassen würde ich hier unten sterben müssen, und wenn irgendwann jemand meine Leiche entdeckte, würde man meine sterblichen Überreste in einen blitzblanken schwarzen Leichenwagen verfrachten und in ein muffiges Leichenschauhaus überführen und dort auf einen Edelstahltisch legen. Als Erstes würde man mir die Kiefer öffnen und den durchweichten Knebel herausziehen, und wenn man das Taschentuch neben meinen gebleichten Knochen ausbreitete, würde eine orangefarbene Briefmarke heraus- und zu Boden flattern - eine Briefmarke aus dem Besitz des Königs höchstpersönlich. Das hörte sich an wie aus einem Krimi von Agatha Christie, und bestimmt würde jemand, wenn auch vielleicht nicht Miss Christie selbst, einen Roman darüber verfassen. Ich wäre dann zwar tot, aber meine Geschichte würde auf der Titelseite der News of the World prangen. Wäre ich nicht so zerschlagen und verängstigt gewesen, hätte mich diese Vorstellung womöglich belustigt.  24 Entführt zu werden ist irgendwie anders, als man es sich gemeinhin vorstellt. Zunächst einmal hatte ich meinen Entführer weder gebissen noch gekratzt. Ich hatte auch nicht geschrien. Ich war still und gehorsam neben ihm hergetrabt wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird. Die einzige Entschuldigung, die mir dafür einfällt, ist die, dass ich ganz und gar mit fieberhaftem Nachdenken beschäftigt war, und keine Kraft mehr für meine Gliedmaßen übrig blieb. Es war ein erstaunlicher Haufen Unsinn, der mir jetzt durch den Kopf ging. Zum Beispiel fiel mir ein, dass Maximilian behauptet hatte, auf den Kanalinseln brauche man als Opfer eines Verbrechens nur zu rufen: Haruh! Haruh, mon Prince! On me fait tort! Leicht gesagt, aber schwer getan, wenn man den Mund voll Taschentuch hat und der Kopf in ein fremdes Tweedjackett gewickelt ist, das betäubend nach Schweiß und Pomade riecht. Abgesehen davon ist England heutzutage mit Prinzen nicht mehr allzu gut bestückt. Die einzigen, die mir in diesem Moment einfielen, waren Prinzessin Elisabeths Gatte Prinz Philip und deren kleiner Sohn, Prinz Charles. Unterm Strich kam heraus, dass ich allein zurechtkommen musste. Was hätte wohl Marie Anne Paulze Lavoisier an meiner Stelle getan?, fragte ich mich abermals. Oder ihr Mann Antoine? Meine gegenwärtige missliche Lage erinnerte mich entschieden Nein, es war zu entmutigend, über Marie Anne und ihre todgeweihte Familie nachzudenken. Ich musste mich von anderen bedeutenden Chemikern anregen lassen. Was hätten beispielsweise Robert Bunsen oder Henry Cavendish gemacht, wenn sie gefesselt und geknebelt in einer Mechanikergrube gesessen hätten? Ich staunte selbst, wie schnell mir die Antwort einfiel: Die beiden hätten eine Bestandsaufnahme vorgenommen. Jawohl - und genau das machte ich auch. Ich befand mich in einer ein Meter achtzig tiefen Grube, deren Ausmaße auf beklemmende Weise an die eines Grabes erinnerten. Ich war an Händen und Füßen gefesselt und konnte kaum umhertasten. Pemberton hatte mir seine Jacke um den Kopf gewickelt und vermutlich obendrein mit den Ärmeln festgebunden, damit ich nichts sehen konnte. Der schwere Stoff beeinträchtigte auch mein Gehör, und mein Geschmackssinn war von dem Taschentuchknebel lahmgelegt. Ich konnte nur mit Mühe atmen, und da meine Nase teilweise zugedeckt war, verbrauchte schon die kleinste Anstrengung das bisschen Sauerstoff, das überhaupt bis in meine Lungen gelangte. Sich still zu verhalten war das Gebot der Stunde. Derjenige meiner fünf Sinne, der als Einziger Überstunden zu machen schien, war mein Geruchssinn. Trotz der dicken Jacke drang mir der Geruch der Grube ungehindert in die Nase. Vorherrschend war der säuerliche Geruch von Erde, die jahrelang unter einer menschlichen Behausung liegt, das bittere Aroma von Dingen, über die man lieber nicht nachdenkt. Dazu kamen ein süßlicher Hauch von ranzigem Motoröl, der bei Und eine Spur Ammoniak, die mir schon zuvor im Magazin aufgefallen war. Miss Mountjoy hatte etwas von Ratten gesagt, und ehrlich gesagt hätte mich deren Anwesenheit in diesen verlassenen Gebäuden am Fluss nicht sonderlich erstaunt. Am beunruhigendsten war dieser Geruch von Faulschlammgas, ein unappetitliches Gemisch aus Methan, Schwefelwasserstoff und Stickstoffoxid, ein Mief nach Verwesung und Verfall, der Gestank eines offenen Abflussrohrs, das vom Flussufer unmittelbar in die Grube führte, in der ich gefangensaß. Bei der Vorstellung, was womöglich in eben diesem Augenblick zu mir hereingespült wurde, überlief es mich eiskalt. Ich gönne meiner Fantasie lieber eine Pause, dachte ich, und setze die Erkundung der Grube fort. Beinahe hätte ich vergessen, dass ich saß. Pembertons Befehl, mich hinzusetzen, dem er so unsanft Nachdruck verliehen hatte, war vorhin so überraschend gekommen, dass mir nicht aufgefallen war, worauf ich überhaupt saß. Jetzt spürte ich es unter mir. Es war flach und hart. Als ich hin und her rutschte, gab es ein wenig nach, außerdem knarrte es. Eine große Teekiste, dachte ich, oder etwas ganz Ähnliches. Hatte Pemberton die Kiste in weiser Voraussicht hier aufgestellt, ehe er mich auf dem Friedhof angesprochen hatte? Im selben Augenblick merkte ich, dass ich einen Bärenhunger hatte. Seit meinem dürftigen Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen, und selbst dabei war ich von Pembertons plötzlichem Auftauchen am Fenster gestört worden. Während sich mein Magen nachhaltig beschwerte, bereute ich es, meinen Toast und meine Frühstücksflocken nicht besser gewürdigt zu haben. Außerdem war ich müde. Müde war gar kein Ausdruck - Jetzt mal ganz ruhig, Flave. Behalte einen kühlen Kopf. Pemberton ist bestimmt bald wieder da. Ich hatte damit gerechnet, dass ihn, nachdem er das Haus betreten hatte, um den Rächer an sich zu bringen, Dogger aufhalten und ihm dann ohne viel Federlesen das Handwerk legen würde. Guter alter Dogger! Er fehlte mir schrecklich, dieser Große Unbekannte, der mit mir unter einem Dach wohnte und den ich noch nie offen nach seiner Vergangenheit gefragt hatte. Sollte ich je wieder aus dieser teuflischen Klemme herauskommen, das schwor ich mir, würde ich bei der nächstbesten Gelegenheit mit ihm ein Zweierpicknick veranstalten. Ich würde mit ihm zur künstlichen Ruine hinüberrudern, ihn mit Marmite-Broten füttern und gnadenlos ausquetschen, sämtliche bluttriefenden Einzelheiten inbegriffen. Garantiert wäre er so froh darüber, dass ich gesund und munter war, dass er mir keinen Wunsch abschlagen konnte. Die treue Seele hatte behauptet, Horace Bonepenny umgebracht zu haben, wenn auch nur versehentlich, bei einem seiner Anfälle. Damit hatte er sich in erster Linie vor Vater stellen wollen, da war ich ganz sicher. Schließlich hatten wir beide nachts vor Vaters Arbeitszimmer gestanden. Schließlich hatten wir beide den Streit belauscht, der Bonepennys Tod vorausgegangen war. Ja, was auch geschah, Dogger würde sich der Sache annehmen. Dogger war meinem Vater bedingungslos ergeben - und mir auch. Er war treu bis in den Tod. Also … Dogger würde Pemberton am Schlafittchen packen, und damit wäre die Sache erledigt. Oder nicht? Wenn sich Pemberton nun unentdeckt Zutritt zum Haus Das war doch sonnenklar. Er würde in die Garage zurückkehren und mich foltern. Daraus folgte zwangsläufig: Ich musste rechtzeitig fliehen - also sofort! Als ich aufstand, knackten meine Knie wie morsche Äste. Zuallererst musste ich die Grube erkunden. Ich musste mir klarmachen, wie groß sie war und ob sich darin irgendetwas befand, das mir zur Flucht verhelfen konnte. Mit auf den Rücken gefesselten Händen konnte ich die Betonwand nur ausmessen, indem ich langsam einmal rundherum ging und den Rücken dagegendrückte, um mit den Fingerkuppen jeden Zentimeter abzutasten. Vielleicht entdeckte ich ja einen scharfkantigen Vorsprung, an dem ich die Fesseln durchscheuern konnte. Meine Füße waren so fest zusammengebunden, dass die Knöchel gegeneinanderrieben. Ich musste hüpfen wie ein Frosch, um überhaupt von der Stelle zu kommen. Bei jedem Hüpfer raschelten die alten Zeitungen unter meinen Füßen. Dort, wo ich das andere Ende der Grube vermutete, umströmte kalte Luft meine Fußknöchel, als gäbe es in Bodennähe eine Öffnung in der Grubenwand. Ich drehte mich zur Wand und versuchte, irgendwo einen Zeh einzuhaken, aber die Fesseln waren zu eng. Jedes Mal, wenn ich mich nach vorne beugte, drohte ich aufs Gesicht zu fallen. Obendrein spürte ich, dass meine Hände inzwischen mit der ranzigen Schmiere bedeckt waren, die an den Wänden klebte. Von dem Gestank wurde mir ganz flau im Magen. Und wenn es mir gelang, auf die Teekiste zu klettern? Dann müsste mein Kopf doch über den Rand der Grube reichen, und vielleicht gab es ja irgendwo oben an der Wand einen Haken, Allerdings musste ich dafür erst einmal wieder zu meiner Kiste zurückfinden. Gefesselt, wie ich war, dauerte das länger als gedacht. Aber irgendwann musste ich ja gegen die Kiste stoßen, spätestens dann, wenn ich einmal rundherum gehüpft war. Nach weiteren zehn Minuten hechelte ich wie ein russischer Windhund und war immer noch nicht gegen die Kiste gelaufen. Hatte ich sie verpasst? Sollte ich weiterhopsen oder kehrtmachen? Vielleicht stand die Kiste ja auch in der Mitte, und ich war im Karree darum herumgehüpft. Bei meinem ersten Besuch in der Garage war die Grube zwar mit Brettern abgedeckt gewesen und ich hatte nicht hineinschauen können, trotzdem schätzte ich sie auf höchstens zweieinhalb Meter mal eins achtzig. Mit zusammengeschnürten Knöcheln konnte ich in jede Richtung nicht weiter als fünfzehn Zentimeter auf einmal hüpfen, sagen wir zwölf mal sechzehn Hüpfer. Demnach war die Mitte der Grube, wenn ich mit dem Rücken zur Wand stand, entweder sechs oder acht Hüpfer weit weg. Die Erschöpfung drohte mich zu übermannen. Ich sprang wie ein Grashüpfer im Marmeladenglas auf und ab und kam doch nicht voran. Und dann, als ich schon aufgeben wollte, schlug ich mir das Schienbein an der Teekiste an. Ich setzte mich sofort hin, um wieder zu Atem zu kommen. Als ich mich ein wenig erholt hatte, ließ ich die Schultern kreisen, erst nach hinten, dann nach rechts. Als ich es mit links versuchte, streifte ich die Wand. Das munterte mich gehörig auf! Meine Kiste stand an der Wand oder jedenfalls dicht davor. Wenn es mir gelang hinaufzuklettern, würde es mir vielleicht auch gelingen, mich abzustoßen und über den Rand emporzuschnellen wie ein Seelöwe im Aquarium. Hatte ich die Grube erst einmal verlassen, war die Wahrscheinlichkeit erheblich Ganz behutsam drehte ich mich um neunzig Grad, sodass ich mit dem Rücken zur Wand stand. Ich schob meinen Allerwertesten an die hintere Kante der Kiste, und es gelang mir, vorne die Fersen darauf zu stellen. Dann langsam … vorsichtig … fing ich an, die Beine durchzustrecken und Zentimeter für Zentimeter an der Wand heraufzurutschen. Wir bildeten ein rechtwinkliges Dreieck. Die Wand und die Oberfläche der Kiste waren die Schenkel und ich die zitternde Hypotenuse. Plötzlich schoss mir ein Krampf in die Wade, so heftig, dass ich hätte schreien mögen. Wenn ich zuließ, dass der Schmerz die Oberhand gewann, würde ich von der Kiste kippen und mir wahrscheinlich einen Arm oder ein Bein brechen. Also riss ich mich zusammen und wartete, dass der Schmerz nachließ, wobei ich mir so fest in die Wange biss, dass ich fast sofort mein warmes, salziges Blut schmeckte. Halt durch, Flave, ermahnte ich mich, es gibt Schlimmeres. Aber mir wollte absolut nichts Schlimmeres einfallen. Ich weiß nicht, wie lange ich so zitternd dagestanden habe, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Ich war schweißgebadet, aber immerhin kam von irgendwoher ein kühler Lufthauch, dessen stetigen, leisen Strom ich auf meinen nackten Beinen spüren konnte. Nach einem langen Kampf stand ich endlich aufrecht auf der Teekiste. Ich tastete mit den Fingern so viel von der Wand ab wie möglich, aber sie war zum Wahnsinnigwerden glatt. Schwerfällig wie eine Elefantenballerina rotierte ich um hundertachtzig Grad, bis ich mit dem Gesicht zur Wand stand. Dann beugte ich mich vor und spürte - vielmehr glaubte ich Es gab keinen Ausweg, zumindest nicht in dieser Richtung. Ich kam mir vor wie ein Hamster, der in seinem Käfig auf die Leiter gestiegen war und oben erkennen musste, dass er nirgendwohin konnte als wieder runter. Dabei wussten Hamster in ihren kleinen Hamsterherzen bestimmt, dass Flucht sinnlos war; nur wir Menschen sind unfähig, unsere Hilflosigkeit zu akzeptieren. Also ließ ich mich auf der Teekiste auf die Knie fallen. Wenigstens war es leichter, von ihr runterzusteigen als herauf, obwohl das gesplitterte Holz und etwas, das sich schmerzhaft wie ein schmaler Metallrand rings um den Deckel der Kiste anfühlte, mir ordentlich die nackten Knie aufschrammte. Von dort aus war ich in der Lage, mich seitlich in eine sitzende Stellung zu drehen und die Beine über den Rand zu hieven, bis ich wieder den Grubenboden unter den Füßen spürte. Wenn ich die Öffnung, durch die die kalte Luft in die Grube wehte, nicht finden konnte, blieb nur ein einziger Fluchtweg: nach oben. Falls es tatsächlich ein Rohr oder irgendeinen Durchlass vom Fluss bis hierherein gab, war er dann groß genug, damit ich durchkriechen konnte? Und selbst wenn, war er vielleicht verstopft und ich würde plötzlich mit dem Gesicht voran wie ein riesiger Blindwurm in völliger Dunkelheit gegen etwas Widerliches stoßen und in der Röhre stecken bleiben, mich nicht mehr vorwärts und auch nicht mehr zurück bewegen können. Würden meine Knochen in einem zukünftigen England von einem verblüfften Archäologen gefunden werden? Würde ich in einer Vitrine im British Museum ausgestellt und von den Besuchermassen angestarrt werden? Meine Gedanken rasten hin und her, wogen das Pro und Kontra ab. Aber halt! Ich hatte die Treppe am Ende der Grube vergessen! In diesem Moment überkam mich etwas, erstickte mein Bewusstsein wie ein Kopfkissen. Ehe ich meine Erschöpfung als das erkennen konnte, was sie war, ehe ich mich dagegen aufbäumen konnte, war ich bereits erledigt. Ich spürte noch, wie ich zwischen den raschelnden Zeitungen zu Boden sank und auf das Papier fiel, das mir trotz der kalten Luft aus dem Durchlass auf einmal erstaunlich warm vorkam. Ich bewegte mich ein wenig, als wollte ich mich noch tiefer in sie hineingraben, und zog die Knie bis unter das Kinn an. Und schon war ich eingeschlafen. Ich träumte, Daffy würde zu Weihnachten eine Pantomime aufführen. Die große Eingangshalle auf Buckshaw hatte sich in ein prunkvolles Wiener Theater verwandelt, mit rotem Samtvorhang und einem großen Kristallkronleuchter, in dem die Flammen Hunderter Kerzen hüpften und flackerten. Dogger, Feely, Mrs Mullet und ich saßen nebeneinander auf Stühlen, während Vater ganz in der Nähe an einer Holzschnitzerbank mit seinen Briefmarken beschäftigt war. Das Stück war Romeo und Julia, und Daffy spielte in einer bemerkenswerten Eine-Frau-Aufführung sämtliche Rollen. Eben war sie Julia auf dem Balkon (der Absatz oben auf unserer Westtreppe), im nächsten Moment erschien sie, obwohl sie kaum länger als einen Wimpernschlag weg gewesen war, unten im Rang als Romeo. Sie flitzte hoch und runter, hoch und runter und bewegte unsere Herzen mit Worten von zärtlicher Liebe. Ab und zu legte Dogger den Zeigefinger an die Lippen und Mrs Mullet lachte und lachte über Julias alte Amme, wurde ganz rot und warf uns allen merkwürdige Blicke zu, als wäre in den Worten eine verklausulierte Nachricht verborgen, die nur sie verstand. Sie wischte sich mit einem getupften Taschentuch über das rote Gesicht, wrang es in den Händen hin und her, bis sie es zusammenknüllte und in den Mund steckte, um ihr hysterisches Lachen zu ersticken. Jetzt beschrieb Daffy (als Mercutio), wie Mab, die Zauberfee, galoppiert: Der Schönen Lippen, die von Küssen träumen - Oft plagt die böse Mab mit Bläschen diese, weil ihren Odem Näscherei verdarb. Ich warf Feely einen verstohlenen Blick zu, die, trotz der Tatsache, dass ihre Lippen aussahen wie etwas, das man auf dem Karren eines Fischhändlers finden mochte, Neds Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte. Ned saß hinter ihr und beugte sich über ihre Schulter nach vorne, bat mit gespitzten Lippen um einen Kuss. Aber jedes Mal, wenn Daffy als Romeo vom Balkon in den Rang herabhuschte (wobei sie mit dem bleistiftdünnen Oberlippenbart eher wie David Niven in Irrtum im Jenseits als wie der noble Montague aussah), sprang Ned auf und klatschte frenetisch Beifall, begleitet von gellenden Pfiffen, die er mit zwei Fingern produzierte, während Feely ungerührt ein Pfefferminzbonbon nach dem anderen in den Mund warf und erst dann erstaunt die Luft anhielt, als Romeo in Julias Marmorgrab eindrang: Denn hier liegt Julia: ihre Schönheit macht Zur lichten Feierhalle dies Gewölb’. Da lieg begraben, Tod … Ich erwachte. Verdammt! Etwas rannte mir über die Füße: etwas Nasses und Pelziges. »Dogger!«, versuchte ich zu schreien, aber mein Mund war voll. Mein Unterkiefer tat weh, und mein Kopf fühlte sich an, als wäre er gerade vom Henkersblock heruntergezogen worden. Ich trat mit beiden Füßen aus, und etwas trippelte mit wütendem Zwitschern über das raschelnde Papier. Eine Wasserratte. Wahrscheinlich wimmelte es in der Grube von ihnen. Hatten sie mich im Schlaf bereits angeknabbert? Allein der Gedanke ließ mich zusammenzucken. Ich setzte mich mühevoll auf und lehnte mich wieder an die Wand, die Knie unters Kinn gezogen. Es war wohl zu viel erwartet, dass die Ratten meine Fesseln durchknabberten, so wie im Märchen. Eher würden sie mir die Fußgelenke bis zum Knochen abnagen, und ich würde nicht einmal etwas dagegen tun können. Hör schon auf, Flave, dachte ich. Jetzt nicht die Fantasie mit dir durchgehen lassen. In der Vergangenheit war es mir schon einige Male passiert, bei der Arbeit im Chemielabor etwa, oder auch abends im Bett, dass ich mich unverhofft bei dem Gedanken ertappte: »Du bist ganz allein mit Flavia de Luce«, was manchmal ein beunruhigender Gedanke war und manchmal nicht. Das in der Grube war eine der unheimlicheren Situationen. Ich konnte das Trippeln deutlich hören: Etwas raschelte in der Ecke der Grube zwischen den Zeitungen herum. Wenn ich die Beine oder den Kopf bewegte, verstummten die Geräusche einen Augenblick, um kurz darauf wieder einzusetzen. Wie lange hatte ich geschlafen? Waren es Stunden oder nur Ich dachte daran, dass die Bücherei bis Dienstagmorgen geschlossen war, und heute war erst Montag. Ich konnte also noch eine ganze Weile hier unten sitzen. Irgendwann würde mich jemand als vermisst melden, klar, höchstwahrscheinlich Dogger. Konnte ich wirklich darauf hoffen, dass er Pemberton beim unbefugten Betreten von Buckshaw erwischte? Aber selbst wenn er geschnappt wurde, hieß das noch lange nicht, dass ihnen Pemberton verriet, wo er mich versteckt hatte. Langsam wurden meine Hände und Füße taub. Ich musste an den alten Ernie Forbes denken, dessen Enkel ihn auf einem kleinen Rollbrett über die Hauptstraße ziehen mussten. Ernie hatte im Krieg eine Hand und beide Füße durch Wundbrand verloren, und Feely hatte mir einmal erzählt, dass man ihn … Lass den Quatsch, Flave! Sei gefälligst nicht so ein elender Jammerlappen! Denk an etwas anderes. An irgendwas. Zum Beispiel an … Rache?  25 Manchmal, besonders dann, wenn ich irgendwo einge sperrt bin, neigen meine Gedanken dazu, wie verrückt in sämtliche Richtungen zu schweifen, wie bei dem Mann in Stephen Leacocks Kurzgeschichte. Ich schäme mich fast, die Dinge zuzugeben, die mir zuerst in den Kopf kamen. Die meisten hatten irgendetwas mit Gefängnis zu tun, einige beschäftigten sich mit Haushaltsgeräten, und alle drehten sich um Frank Pemberton. Meine Gedanken flogen zu unserer ersten Begegnung im Dreizehn Erpel zurück. Ich hatte zwar sein Taxi vor der Tür anhalten sehen und Tully Stoker nach Mary rufen hören, weil Mister Pemberton frühzeitig eingetroffen sei, aber ich hatte den Mann selbst nicht mit eigenen Augen gesehen. Das geschah erst am Sonntag, auf der Insel mit dem Tempelchen. Obwohl es mehr als eine Ungereimtheit hinsichtlich Pembertons plötzlichem Erscheinen auf Buckshaw gab, hatte ich noch keine Zeit gehabt, in aller Ruhe darüber nachzudenken. Zunächst einmal war er erst mehrere Stunden, nachdem Horace Bonepenny sein Leben ausgehaucht hatte, in Bishop’s Lacey aufgetaucht. Oder nicht? Als ich Pemberton am Seeufer hatte stehen sehen, war ich überrascht gewesen. Aber warum? Ich war auf Buckshaw zu Hause: Dort war ich zur Welt gekommen und hatte zeit meines Lebens dort gewohnt. Was war so verwunderlich an einem Mann, der am Ufer eines künstlich angelegten Sees stand? Ich spürte, wie die Antwort auf diese Frage bereits an dem Haken knabberte, den ich in mein Unbewusstes hinabgelassen hatte. Nicht so verbissen darauf starren, dachte ich, denk an etwas anderes, oder tu zumindest so. An jenem Tag hatte es geregnet oder gerade angefangen zu regnen. Ich hatte von den Stufen der kleinen Tempelruine, auf denen ich saß, aufgeblickt, und ihn auf der anderen Seite, der Südseite des Sees stehen sehen, der Südostseite, um genau zu sein. Warum um alles in der Welt war er aus dieser Richtung aufgetaucht? Das war die Frage, deren Antwort ich bereits seit einiger Zeit kannte. Bishop’s Lacey lag nordöstlich von Buckshaw. Vom Mulford-Tor am Eingang unserer Kastanienallee führte die Straße in sanften Kurven mehr oder weniger direkt ins Dorf. Trotzdem war Pemberton von Südosten her gekommen, aus Richtung Doddingsley, das ungefähr vier Meilen hinter den Feldern lag. Warum nur, in drei Teufels Namen, hatte ich mich gefragt, war er bloß aus dieser Richtung gekommen? Da es nicht allzu viele Gründe dafür gab, hatte ich sie rasch in meinem geistigen Notizbuch notiert: 1. Falls (wie ich vermutete) Pemberton der Mörder H orace Bonepennys war, konnte es sein, dass es ihn, wie angeblich alle Mörder, an den Ort seiner Tat zurückgetrieben hatte? Hatte er vielleicht etwas vergessen? Etwa die Mordwaffe? War er nach Buckshaw zurückgekommen, um sie zu holen? 2. Da er bereits in der Nacht davor auf Buckshaw gewesen war, kannte er den Weg über die Felder und vermied es so, gesehen zu werden (siehe Punkt 1 oben). Was, wenn Pemberton am Freitag, am Abend vor dem Mord, Bonepenny von Bishop’s Lacey nach Buckshaw gefolgt war in Rächer von Ulster bei sich hatte, und ihn dann ermordet hatte? Langsam, Flave, dachte ich. Immer mit der Ruhe. Nicht gleich so davongaloppieren. Warum sollte Pemberton seinem Opfer nicht einfach irgendwo hinter einer Hecke auflauern? In diesem Teil Englands wurde doch jede kleine Landstraße von einer Hecke gesäumt. Die Antwort eröffnete sich mir, als leuchtete sie mitten auf dem Piccadilly Circus in grellroter Neonschrift: weil er das Verbrechen Vater in die Schuhe schieben wollte! Bonepenny musste auf Buckshaw ermordet werden! Aber natürlich! Da Vater buchstäblich ein Einsiedler war, musste Pemberton nicht befürchten, dass er irgendwann einmal nicht zu Hause sein würde. Morde, zumindest jene, in denen der Mörder der Gerechtigkeit zu entkommen hofft, mussten im Voraus geplant werden, oft genug bis ins kleinste Detail. Es lag auf der Hand, dass man ein philatelistisches Verbrechen auf einen Briefmarkensammler zurückführen würde. Da Vater aller Voraussicht nach nicht zum Tatort kommen würde, musste man den Tatort eben zu Vater bringen. Und genau so war es geschehen. Obwohl ich diese Ereigniskette bereits vor Stunden formuliert hatte - zumindest einige ihrer Glieder -, war ich erst jetzt, da ich gezwungen war, mit Flavia de Luce allein zu sein, in der Lage, sämtliche Puzzlestücke zusammenzufügen. Ich bin stolz auf dich, Flavia! Auch Marie Anne Paulze Lavoisier wäre stolz auf dich! Also: Pemberton war Bonepenny natürlich bis nach Doddingsley gefolgt, vielleicht sogar schon von Stavanger aus. Vater hatte beide erst vor einem Monaten bei der Ausstellung in London gesehen, was ein Beweis dafür war, dass keiner von beiden sich ständig im Ausland aufhielt. Womöglich hatten sie gemeinsam ausgeheckt, Vater zu erpressen. Genau wie sie den Mord an Mr Twining geplant hatten. Sobald er wusste, dass Bonepenny nach Bishop’s Lacey unterwegs war (wo sollte er auch sonst hin?), war Pemberton in Doddingsley aus dem Zug gestiegen und hatte sich dort im Fröhlichen Kutscher einquartiert. Das wusste ich mit Sicherheit. Am Mordabend brauchte er dann nur über die Felder und Weiden nach Bishop’s Lacey zu spazieren. Dort hatte er gewartet, bis er Bonepenny das Wirtshaus verlassen und zu Fuß nach Buckshaw gehen sah. Nachdem Bonepenny weg war und keinen Verdacht hegte, dass er verfolgt worden war, hatte Pemberton das Zimmer im Dreizehn Erpel, inklusive Bonepennys Gepäck, durchsucht und nichts gefunden. Natürlich hatte er nicht, so wie ich, daran gedacht, die Aufkleber aufzuschlitzen. Inzwischen musste er stinkwütend gewesen sein. Er hatte sich ungesehen aus dem Wirtshaus davongestohlen (höchstwahrscheinlich über die steile Hintertreppe) und sein Opfer zu Fuß nach Buckshaw verfolgt, wo sie in unserem Garten aneinandergeraten sein mussten. Ich fragte mich nur, warum ich sie dort nicht gehört hatte. Eine halbe Stunde später hatte er Bonepenny, in der Annahme, dass er tot sei, dort liegen lassen, nachdem er dessen Taschen und Börse durchsucht hatte. Abermals Fehlanzeige: Bonepenny hatte die Briefmarken auch nicht bei sich. Nach getaner Tat war Pemberton einfach in die Nacht davongegangen, über die Felder zum Fröhlichen Kutscher nach Doddingsley. Am darauffolgenden Morgen war er mit großem Trara in einem Taxi vor dem Dreizehn Erpel vorgefahren und hatte so getan, als sei er gerade mit dem Zug aus London gekommen. Er musste das Zimmer noch einmal durchsuchen. Das war zwar riskant, aber unumgänglich, denn die Briefmarken mussten sich immer noch dort befinden. Das eine oder andere dieser Folge von Ereignissen hatte ich Fröhlichen Kutschers, bestätigt worden. Rückblickend erschien alles ganz einfach. Ich hörte für einen Moment auf nachzudenken und lauschte meinem Atem. Er ging langsam und regelmäßig. Ich hatte immer noch den Kopf auf die Knie gelegt, die ein umgekehrtes »V« bildeten. In diesem Augenblick fiel mir etwas ein, das Vater uns einmal erzählt hatte, nämlich dass Napoleon die Engländer einmal »eine Nation von Buchhaltern« genannt hatte. Weit gefehlt, Napoleon! Nachdem wir gerade einen Krieg durchgemacht hatten, in dem Tonnen von Trinitrotonuol im Dunkeln auf unsere Köpfe abgeworfen worden waren, waren wir zu einer Nation von Überlebenskünstlern geworden, und ich, Flavia Sabina de Luce, stellte das sogar an meiner eigenen Person fest. Dann murmelte ich zur Selbstvergewisserung einen Teil des 23. Psalms vor mich hin. Das konnte nie schaden. Und jetzt: der Mord. Wieder schwebte das Gesicht des sterbenden Horace Bonepenny vor mir in der Dunkelheit. Der Mund klappte wie bei einem gestrandeten Fisch auf und zu. Sein letztes Wort war zugleich sein letzter Hauch gewesen: »Vale«, hatte er gesagt, und Wort und Hauch waren aus seinem Mund direkt in meine Nasenlöcher geschlüpft. Und zwar auf einer Woge Tetrachlorkohlenstoff. Es bestand überhaupt kein Zweifel daran, dass es Tetrachlorkohlenstoff gewesen war, eine der faszinierendsten chemischen Zusammensetzungen. Für einen Chemiker ist sein süßer, wenn auch sehr flüchtiger Geruch unverwechselbar. Er unterscheidet sich nicht sehr von Bei Tetrachlorkohlenstoff (einer seiner vielen Decknamen) spielen vier Chloratome mit einem einzigen Kohlenstoffatom Ringelreihen. Es ist ein wirkungsvolles Insektengift, das noch immer hin und wieder bei hartnäckigem Befall von Hakenwürmern benutzt wurde, diese winzigen, stummen Parasiten, die sich am Blut von Mensch und Tier laben, das sie in völliger Dunkelheit aus deren Eingeweiden saugen. Wichtiger jedoch ist die Tatsache, dass Briefmarkensammler Tetrachlorkohlenstoff dazu benutzen, um fast unsichtbare Wasserzeichen einer Briefmarke wieder erkennbar zu machen. Vater hatte das Zeug flaschenweise in seinem Arbeitszimmer stehen. Ich dachte wieder an Bonepennys Zimmer im Dreizehn Erpel. Wie dumm ich doch mit meiner Vermutung hinsichtlich der vergifteten Pastete gewesen war! Wir befanden uns schließlich nicht in einem von Grimms Märchen, sondern in der Geschichte von Flavia de Luce. Die Pastetenkruste war nichts weiter als eben das: Pastetenkruste. Vor seiner Abreise aus Norwegen hatte Bonepenny die Füllung herausgenommen und die Zwergschnepfe hineingestopft, mit der er Vater einen Schrecken einjagen wollte. Auf diese Weise hatte er den toten Vogel nach England geschmuggelt. Es war nicht so sehr das, was ich in seinem Zimmer gefunden hatte, als das, was ich nicht gefunden hatte. Und das war natürlich der einzige Gegenstand, der in dem kleinen Lederetui fehlte, in dem Bonepenny seine Diabetikerutensilien transportierte: eine Spritze. Pemberton hatte die Spritze gefunden und eingesteckt, als er Bonepennys Zimmer kurz vor dem Mord durchsuchte. Dessen war ich mir sicher. Die beiden steckten unter einer Decke, und niemand hätte Selbst wenn Pemberton geplant hatte, sein Opfer auf eine andere Weise loszuwerden - etwa per Stein gegen den Hinterkopf oder per Strangulation mit einer grünen Weidenrute -, muss ihm die Spritze in Bonepennys Gepäck wie ein Geschenk Gottes vorgekommen sein. Allein der Gedanke daran, wie er seine Tat durchgeführt haben musste, ließ mich erschauern. Ich konnte mir vorstellen, wie die beiden im Mondlicht miteinander rangen. Bonepenny war groß, aber nicht sehr kräftig. Pemberton musste ihn niedergerungen haben wie ein Berglöwe einen Hirschen. Dann die Spritze raus und rein damit in Bonepennys Hirnbasis. Einfach so. Es dürfte nicht länger als eine Sekunde gedauert haben, die Wirkung musste fast augenblicklich eingetreten sein. Ich war mir sicher, dass Horace Bonepenny auf diese Weise den Tod gefunden hatte. Hätte er die Substanz durch den Mund zu sich genommen - wobei es ziemlich unmöglich gewesen wäre, ihn dazu zu zwingen -, wäre eine wesentlich größere Menge des Giftes nötig gewesen: eine Menge, die er prompt wieder ausgewürgt hätte. Wohingegen fünf Milliliter, direkt in die Hirnbasis injiziert, ausreichten, um einen Ochsen zu fällen. Die unverwechselbaren Dünste des Tetrachlorkohlenstoffs sind rasch in seinen Mund und in die Nasenhöhlen weitergeleitet worden, was ich ja festgestellt hatte. Bis Inspektor Hewitt und seine beiden Sergeanten eintrafen, war natürlich alles längst spurlos verdunstet. Es war beinahe das perfekte Verbrechen. Es wäre perfekt gewesen, wenn ich nicht vorzeitig in den Garten hinuntergegangen wäre. Daran hatte ich noch nicht gedacht. War die Tatsache, dass ich immer noch am Leben war, das Einzige, was zwischen Frank Pemberton und seiner Freiheit stand? Irgendwo knirschte etwas. Ich konnte nicht sagen, aus welcher Richtung das Geräusch kam, drehte aber den Kopf, und das Knirschen hörte sofort auf. Ein paar Sekunden lang herrschte Stille. Ich spitzte die Ohren, hörte aber nur das Geräusch meines eigenen Atems, der, wie mir auffiel, wieder viel schneller und abgerissener ging. Da war es wieder! Als würde ein Stück Holz mit erstaunlicher Langsamkeit über eine sandige Oberfläche geschleift. »Wer ist da?«, wollte ich rufen, aber das harte Taschentuchknäuel in meinem Mund reduzierte meine Worte zu einem erstickten Blöken. Bei der Anstrengung fühlte sich mein Kiefergelenk an, als hätte jemand von beiden Seiten einen Eisennagel durch meinen Kopf getrieben. Lieber weiter lauschen, dachte ich. Ratten ziehen kein Holz durch die Gegend, und falls ich mich nicht erbärmlich täuschte, befand ich mich nicht mehr allein in der Garage. Wie eine Schlange bewegte ich langsam den Kopf von einer Seite zur anderen, versuchte einen Vorteil aus meinem überlegenen Hörsinn zu gewinnen, aber der schwere Tweed, der um meinen Kopf gewickelt war, dämpfte auch die lautesten Geräusche. Die Scharrgeräusche waren nicht halb so enervierend wie die Stille dazwischen. Was auch immer in der Grube war, es versuchte, seine Anwesenheit geheim zu halten. Oder verhielt es sich nur still, um mich zu verunsichern? Ein Piepsen, dann ein leises Tick, als wäre ein Kiesel auf einen großen Stein gefallen. Langsam wie eine sich öffnende Blüte streckte ich die Beine vor mir aus, aber als sie auf keinen Widerstand trafen, zog ich sie wieder bis unters Kinn zurück. So zusammengerollt, dachte ich, bot ich ein kleineres Ziel. Für einen Augenblick konzentrierte ich meine Aufmerksamkeit auf meine Hände, die immer noch auf dem Rücken gefesselt Und wer würde mich vermissen? Niemand. Nach einer angemessenen Trauerzeit würde Vater sich wieder seinen Briefmarken zuwenden. Daphne würde die nächste Bücherkiste aus der Bibliothek von Buckshaw herunterschleifen und Ophelia würde einen neuen Lippenstiftfarbton für sich entdecken. Bald schon, erschreckend bald, würde alles so sein, als hätte es mich nie gegeben. Niemand liebte mich, so viel war klar. Harriet vielleicht, damals, als ich noch klein war, aber sie war schon lange tot. Und dann stellte ich zu meinem eigenen Entsetzen fest, dass ich weinte. Es war abstoßend. Tränen in den Augen waren etwas, wogegen ich mich schon so lange ich denken konnte gewehrt hatte, aber jetzt sah ich trotz meiner verbundenen Augen ein freundliches Gesicht vor mir schweben, ein Gesicht, das ich in meinem Elend vergessen hatte. Es handelte sich um Doggers Gesicht - wessen Gesicht sonst? Dogger würde bestimmt wie ein Hund leiden, wenn ich tot war! Reiß dich zusammen, Flave … es ist doch bloß eine Grube. Wie ging diese Geschichte, die Daffy uns von dieser Grube vorgelesen hatte? Diese Geschichte von Edgar Allen Poe? Die mit dem Pendel? Nein! Daran wollte ich nicht denken! Auf gar keinen Fall! Dann gab es noch das Schwarze Loch von Kalkutta, in dem der Nawab von Bengalen einhundertsechsundvierzig britische Soldaten in einer Zelle eingesperrt hatte, die eigentlich nur für drei Insassen gedacht war. Wie viele hatten eine einzige Nacht in diesem erstickenden Brutofen überlebt? Dreiundzwanzig, erinnerte ich mich, die am Morgen bis zum letzten Mann wahnsinnig geworden waren. Nein! Nicht, Flavia! Meine Gedanken waren wie ein Strudel, der sich drehte … immer schneller drehte. Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen, und meine Nasenlöcher nahmen den Geruch von Methan wahr. Aber natürlich! Das Rohr zum Flussufer musste voll davon sein. Alles, was ich brauchte, war eine Möglichkeit, es zu entzünden; über die nachfolgende Explosion würde man noch in vielen Jahren reden. Ich musste die Mündung des Rohres finden und dagegentreten. Mit etwas Glück sprangen aus den Nägeln an meinen Schuhsohlen Funken, das Methan explodierte - und das wär’s dann. Der einzige Nachteil dieses Planes bestand darin, dass ich an der Öffnung des Rohrs stehen würde, wenn das Ding losging. Das wäre dann in etwa so, als würde man vor die Mündung einer Kanone gebunden. Ach, was kümmerten mich irgendwelche Kanonen! Ich würde jedenfalls nicht kampflos hier unten in dieser stinkenden Grube sterben. Ich sammelte alle meine verbliebenen Kräfte, stemmte die Fersen gegen den Boden und schob mich an der Wand hinauf, bis ich aufrecht stand. Es dauerte länger, als ich erwartet hatte, aber letztendlich stand ich dann doch einigermaßen gerade da. Jetzt war keine Zeit mehr zum Nachdenken. Ich würde die Quelle des Methangases finden oder bei dem Versuch draufgehen! Als ich vorsichtig in die Richtung hopste, in der ich die Röhre vermutete, flüsterte mir eine kalte Stimme ins Ohr: »Und jetzt zu Flavia.«  26 Es war Pemberton. Als ich seine Stimme hörte, blieb mir fast das Herz stehen. Was meinte er mit: »Und jetzt zu Flavia«? Hatte er Daffy bereits etwas Schreckliches angetan? Oder Feely? Oder … Dogger? Noch ehe ich mir Einzelheiten ausmalen konnte, packte er meinen Oberarm mit einem lähmenden Griff, wobei er mir wie schon vorher den Daumen grob in den Muskel bohrte. Ich versuchte zu schreien, kriegte aber keinen Ton heraus. Beinahe hätte ich brechen müssen. Ich schüttelte heftig den Kopf, aber er ließ mich erst nach einer halben Ewigkeit los. »Aber zuerst müssen Frank und Flavia sich ein bisschen unterhalten«, sagte er in einem so netten, plauderhaften Ton, als spazierten wir gemeinsam durch den Park, und in diesem Augenblick wurde mir erst so richtig klar, dass ich hier ganz allein mit einem Verrückten in meinem persönlichen schwarzen Loch von Kalkutta saß. »Ich nehme dir jetzt die Jacke vom Kopf, verstanden?« Ich stand einfach nur wie versteinert da. »Hör mir gut zu, Flavia. Wenn du nicht genau das tust, was ich dir sage, bringe ich dich um. So einfach ist das. Hast du mich verstanden?« Ich nickte kurz. »Gut. Und jetzt keinen Ton mehr.« Ich spürte, wie er grob an den Knoten herumriss, die er in seine Jacke gemacht hatte, und im nächsten Augenblick Der Strahl seiner Taschenlampe traf mich wie ein Hammerschlag und blendete mich brutal. Erschrocken wich ich zurück. Blitzende Sterne und schwarze Flecken durchzuckten abwechselnd mein Gesichtsfeld. Ich war so lange im Dunkeln gewesen, dass sogar das Licht eines einzigen Streichholzes quälend gewesen wäre. Pemberton leuchtete mir aber mit einer kräftigen Taschenlampe direkt und absichtlich in die Augen. Da ich mir nicht die Hände schützend vors Gesicht halten konnte, blieb mir nur, den Kopf zur Seite zu drehen, die Augenlider zusammenzupressen und zu warten, bis die Übelkeit wieder verging. »Tu weh, hm?«, fragte er. »Aber das ist gar nichts gegen das, was ich mit dir anstelle, wenn du mich noch einmal anlügst.« Ich machte die brennenden Augen auf und versuchte, mich auf eine dunkle Ecke der Grube zu konzentrieren. »Sieh mich an!«, verlangte er. Ich drehte den Kopf und blinzelte ihn mit einer höchstwahrscheinlich ziemlich grässlichen Grimasse an. Ich sah nichts von dem Mann hinter der runden Linse seiner Taschenlampe, deren grausamer Strahl sich mir immer noch wie eine riesenhafte weiße Wüstensonne ins Gehirn brannte. Er ließ sich sehr viel Zeit dabei, den gleißenden Strahl weg von mir und auf den Boden zu richten. Irgendwo hinter dem Licht war er nicht mehr als eine Stimme in der Dunkelheit. »Du hast mich angelogen.« Meine Antwort bestand aus einer Art Achselzucken. »Du hast mich angelogen«, wiederholte Pemberton jetzt lauter, und dieses Mal nahm ich die Anspannung in seiner Stimme deutlich wahr. »In dieser Uhr war außer der Penny Black nichts versteckt.« Also war er tatsächlich auf Buckshaw gewesen! Mein Herz flatterte wie ein Vogel im Käfig. »Mngg«, sagte ich. Pemberton dachte ein paar Sekunden darüber nach, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. »Ich nehme dir das Taschentuch aus dem Mund, aber zuerst will ich dir etwas zeigen.« Er hob seine Tweedjacke vom Boden auf, fasste in die Tasche und zog einen glänzenden Gegenstand aus Glas und Metall heraus. Bonepennys Spritze! Er hielt sie vor mich, damit ich sie genau betrachten konnte. »Die hast du doch gesucht, oder? Im Gasthaus und in eurem Garten! Dabei ist sie die ganze Zeit hier in meiner Jacke gewesen!« Er lachte schnaubend wie ein Schwein durch die Nase und setzte sich auf die Treppe. Dort klemmte er sich die Taschenlampe zwischen die Knie, hielt die Spritze senkrecht nach oben und kramte wieder in seiner Jacke herum, bis er eine kleine braune Flasche herauszog. Ich hatte kaum Zeit, das Etikett zu lesen, da nahm er schon den Verschluss ab und befüllte rasch die Spritze damit. »Ich denke mal, du weißt, was das hier ist, Fräulein Schlaumeier?« Unsere Blicke begegneten sich, aber ich ließ nicht erkennen, ob ich ihn gehört hatte. »Und denk ja nicht, dass ich nicht genau weiß, wie und wohin man das hier injiziert. Schließlich habe ich nicht umsonst so viele Stunden im Sezierraum in London zugebracht. Nachdem ich den alten Bony bewusstlos geschlagen hatte, war die eigentliche Injektion beinahe lächerlich einfach: ein bisschen schräg halten beim Einstechen, dann durch splenius capitus und semispinalis capitis, das Band zwischen Atlas und Axis punktieren und dann die Nadel über den Wirbelbogen schieben. Und - zack! - schon gehen die Lichter aus! Fast sofort Genau wie ich gefolgert hatte! Ich wusste genau, wie er es getan hatte! Der Mann war komplett verrückt. »Jetzt hör zu«, sagte er. »Ich nehme dir das Taschentuch aus dem Mund, und du sagst mir, was du mit den Rächern von Ulster gemacht hast. Ein falsches Wort … eine falsche Bewegung, und …« Er hielt mir die Spritze fast bis an die Nase und drückte leicht auf den Kolben. Ein paar Tropfen Tetrachlorkohlenstoff zeigten sich einen Moment lang wie Tau auf der Nadelspitze und tropften dann auf den Boden. Meine Nase nahm den vertrauten Duft sofort wahr. Pemberton legte die Taschenlampe auf die Treppe und richtete ihren Strahl so aus, dass sie mir ins Gesicht leuchtete. Die Spritze legte er daneben. »Mund auf«, sagte er. Dabei schoss mir Folgendes durch den Kopf: Er würde mir Daumen und Zeigefinger in den Mund stecken, um das Taschentuch herauszuholen. Ich würde zubeißen, so fest ich konnte, und sie ihm einfach abbeißen! Aber was dann? Ich war immer noch an Händen und Fü ßen gefesselt, und selbst wenn ich ihn schlimm erwischte, war Pemberton immer noch in der Lage, mich ganz einfach umzubringen. Ich öffnete meine schmerzenden Kiefer ein bisschen. »Weiter auf«, sagte er und wartete noch. Dann stießen seine Finger blitzschnell vor und zogen mir das durchtränkte Taschentuch aus dem Mund. Einen Moment befand sich der Schatten seiner Hand vor dem Licht der Taschenlampe, sodass er das, was ich sah, nicht sehen konnte: ein kurzes orangefarbenes Aufblitzen, als das nasse Knäuel in der Dunkelheit auf den Boden fiel. »Danke«, flüsterte ich heiser und machte meinen ersten Zug in dieser zweiten Partie unseres Spiels. Pemberton wirkte verblüfft. »Jemand muss sie gefunden haben«, krächzte ich. »Die Briefmarken, meine ich. Ich habe sie in der Uhr versteckt, ich schwöre es.« Ich wusste sofort, dass ich zu weit gegangen war. Aber wenn ich die Wahrheit sagen würde, hätte Pemberton keinen Grund mehr gehabt, mich am Leben zu lassen. Ich war die Einzige, die wusste, dass er der Mörder war. »Es sei denn …«, fügte ich eilig hinzu. »Es sei denn was? Was?« Er stürzte sich auf die Worte wie ein Schakal auf eine verwundete Antilope. »Meine Füße«, jammerte ich. »Es tut so weh. Ich kann nicht … machen Sie es doch bitte lockerer … wenigstens ein bisschen lockerer.« »Na schön«, sagte er erstaunlicherweise sofort. »Aber deine Hände bleiben gefesselt. Damit kommst du auch nicht weit.« Ich nickte eifrig. Pemberton ging in die Knie und löste seine Gürtelschnalle. Als der Lederriemen von meinen Knöcheln fiel, nahm ich all meine Kraft zusammen und trat ihm in die Zähne. Sein Kopf flog nach hinten und knallte gegen den Beton, und ich hörte etwas Gläsernes auf den Boden fallen und in die Ecke rollen. Pemberton rutschte langsam an der Wand herunter, bis er saß, während ich auf die Treppe zuhumpelte. Dann ging ich hinauf … eine Stufe … zwei … meine schwerfälligen Füße traten gegen die Taschenlampe, die kreiselnd auf den Grubenboden fiel, wo sie liegen blieb und einen von Pembertons Schuhen anstrahlte. Drei … vier … Meine Füße fühlten sich an wie an den Knöcheln abgehackte Stummel. Fünf … Jetzt musste mein Kopf eigentlich schon über den Rand der Grube hinausragen. Falls ja, lag der ganze Raum in schwärzester Dunkelheit. Es musste Nacht sein. Demnach hatte ich mehrere Stunden geschlafen. Während ich versuchte, mich daran zu erinnern, in welcher Richtung die Tür lag, fing es in der Grube an zu scharren. Der Strahl der Taschenlampe fingerte über die Decke und plötzlich war Pemberton auf der Treppe und stand hinter mir. Er warf die Arme um mich und quetschte mich dermaßen zusammen, dass ich nicht mehr atmen konnte. Ich hörte die Knochen in meinen Schultern und Ellenbogen knacken. Ich versuchte, gegen seine Schienbeine zu treten, aber er hatte mich rasch überwältigt. Wie zwei Kreisel taumelten wir in dem Raum von einer Seite zur anderen. »Nein!«, schrie er auf, verlor das Gleichgewicht, fiel rückwärts wieder in die Grube und riss mich mit sich. Er schlug mit einem widerlich dumpfen Geräusch auf dem harten Boden auf, und fast im gleichen Moment prallte ich auf ihn. Ich hörte ihn in der Dunkelheit keuchen. Hatte er sich das Rückgrat gebrochen? Oder würde er sich gleich wieder aufrappeln und mich wieder wie eine leblose Puppe schütteln? Pemberton schleuderte mich mit einer Kraft, die ich ihm nicht zugetraut hätte, von sich, und ich flog, mit dem Gesicht nach unten, in eine Ecke der Grube. Wie eine Raupe wand und schlängelte ich mich verzweifelt wieder auf, aber es war zu spät: Pemberton packte mich grob am Arm und zog mich in Richtung Treppe. Es war beinahe zu einfach: Er ging in die Hocke, hob die Taschenlampe auf und streckte die Hand nach den Stufen aus. Ich hatte gedacht, die Spritze sei auf den Boden gefallen, aber ich musste wohl die Flasche gehört haben, denn kurz darauf sah ich aus dem Augenwinkel die Spritze in seiner Hand, und dann spürte ich einen Stich im Nacken. Mein einziger Gedanke war der, Zeit zu gewinnen. »Sie haben Professor Twining ermordet, stimmt’s?«, keuchte ich. »Sie und Bonepenny.« Damit schien ich ihn kalt zu erwischt zu haben, denn ich spürte, wie sich sein Griff lockerte. »Wie kommst du denn darauf?«, keuchte er mir ins Ohr. »Es war Bonepenny da oben auf dem Dach«, sagte ich. »Bonepenny hat Vale! gerufen. Er hat Mr Twinings Stimme nachgemacht. Und Sie haben Mr Twining durch das Loch hinabgestoßen.« Pemberton atmete laut schnaufend durch die Nase ein. »Hat dir das Bonepenny erzählt?« »Ich habe die Robe und das Barett gefunden«, erwiderte ich. »Unter den Ziegeln. Da bin ich ganz von allein draufgekommen.« »Du bist ein sehr kluges Mädchen«, sagte er, fast bedauernd. »Und jetzt, nachdem Sie Bonepenny ermordet haben, gehören die Briefmarken Ihnen. Jedenfalls dann, wenn Sie wüssten, wo sie sind.« Das schien ihn wütend zu machen. Er drückte meinen Arm fester zusammen und bohrte mir wieder den Daumen in den Oberarmmuskel. Ich schrie vor Schmerz laut auf. »Fünf Worte, Flavia«, zischte er: »Wo sind meine verdammten Briefmarken?« In der langen Stille, die darauf folgte, und unter einem beinahe betäubenden Schmerz, suchte mein Verstand sein Heil in der Flucht. Wird das Flavias Ende sein?, fragte ich mich. Wenn ja, wachte Harriet über mich? Vielleicht saß sie in diesem Augenblick auf einer Wolke, ließ die Füße über den Rand baumeln und sagte: »Aber nein, Flavia! Tu das nicht! Sag das nicht! Vorsicht, Flavia! Gefahr!« Falls es so sein sollte, konnte ich sie leider nicht hören. Vielleicht war ich ja doch viel weiter von Harriet entfernt als Feely Es war schon sehr traurig, dass ich von Harriets drei Kindern das einzige war, das keine richtige Erinnerung an sie hatte. Feely hatte wie ein Geizkragen acht Jahre Mutterliebe erfahren und gehortet. Und Daffy behauptete steif und fest, sie könne sich, obwohl sie bei Harriets Verschwinden noch nicht einmal drei Jahre alt gewesen war, noch sehr genau an eine schlanke, lachende junge Frau erinnern, die ihr ein gestärktes Kleid angezogen, ein Hütchen aufgesetzt und sie dann auf eine Decke auf der sonnenüberfluteten Wiese gesetzt habe, woraufhin sie mit einer Klappkamera ein Foto von ihr gemacht und ihr anschließend eine saure Gurke gegeben habe. Der nächste Stich holte mich in die Wirklichkeit zurück. Die Nadel hatte fast meinen Hirnstamm erreicht. »Die Rächer von Ulster. Wo sind sie?« Ich zeigte mit dem Finger in die Ecke der Grube, wo das Taschentuch zusammengeknüllt im Dunkeln lag. Als der Strahl von Pembertons Taschenlampe in die besagte Richtung tanzte, schaute ich weg, und dann richtete ich den Blick nach oben, so wie es angeblich die Heiligen von früher getan haben, wenn sie auf himmlische Errettung hofften. Ich hörte es, bevor ich es sah. Es war eine dumpfes, wirbelndes Geräusch, als flatterte draußen vor dem Schuppen ein riesenhafter mechanischer Pterodaktylus herum. Kurz darauf krachte es fürchterlich, und ein Regen aus Glassplittern prasselte auf uns herab. Der Raum über uns, oberhalb des Grubenrandes, explodierte in grell gleißendem, gelbem Licht, durch das Dampfwolken hindurchwehten wie kleine, schnaufende Seelen der Verstorbenen. Ich stand da wie angewurzelt und starrte die eigenartig vertraute Erscheinung an, die bebend und ratternd über der Grube hockte. Ich bin übergeschnappt, dachte ich. Ich bin völlig verrückt geworden. Direkt über meinem Kopf befand sich, zitternd wie ein lebendiges Wesen, der Unterboden von Harriets Rolls-Royce. Ehe ich auch nur blinzeln konnte, hörte ich, wie seine Türen aufgingen und Füße über mir auf den Garagenboden traten. Pemberton machte einen Satz zur Treppe und kroch wie eine in die Enge getriebene Ratte hinauf. Oben angekommen, versuchte er verzweifelt, sich zwischen Grubenrand und vorderem Stoßdämpfer des Phantom durchzuquetschen. Eine körperlose Hand erschien, packte ihn am Kragen und zog ihn aus der Grube heraus wie einen Fisch aus einem Teich. Seine Schuhe verschwanden im Licht über mir, und ich hörte eine Stimme - Doggers Stimme! - sagen: »Entschuldigen Sie, das war mein Ellenbogen.« Ein widerlich knirschendes Geräusch ertönte, dann plumpste etwas über mir auf den Boden wie ein Sack Steckrüben. Ich war immer noch völlig benommen, als die Erscheinung wie aus dem Nichts vor mir auftauchte. Sie war ganz weiß, schob sich ohne Mühe durch den schmalen Spalt zwischen Chrom und Beton und stieg dann flatternd in die Grube herab. Als das Wesen seine Arme um mich warf und an meiner Schulter zu schluchzen anfing, spürte ich, dass sein dünner Körper wie ein Blatt zitterte. »Dummes kleines Ding! Du dummes kleines Ding!«, weinte es wieder und wieder und drückte seine rauen roten Lippen gegen meinen Hals. »Feely!« Ich war völlig erstaunt. »Du machst dir ja dein bestes Kleid ganz dreckig!« Außerhalb der Garage, in der Cow Lane, ging es zu wie in einem Wachtraum: Feely kniete heulend vor mir und hatte die Arme fest um mich geschlungen. Einen Augenblick lang Und dann schienen sämtliche Bewohner von Bishop’s Lacey plötzlich wie von Zauberhand aufzutauchen, kamen langsam aus der Dunkelheit auf uns zu, gluckten wie bei einer Dorfversammlung in der von Taschenlampen beschienenen Szene rings um das Loch zusammen, das dort klaffte, wo sich einmal die Tür zur Garage befunden hatte. Sie erzählten einander, was sie gerade getan hatten, als das entsetzlich laute Krachen das ganze Dorf aufgeschreckt hatte. Es war wie eine Szene aus dem Musical Brigadoon, wenn das Dorf alle hundert Jahre für jeweils nur einen Tag zum Leben erwacht. Harriets Phantom, dessen herrlicher Kühlergrill, nachdem er als Rammbock missbraucht worden war, ziemlich perforiert aussah, stand jetzt still vor sich hindampfend vor der Garage und ließ Wasser durch ein Leck auf den staubigen Boden rinnen. Einige der kräftigeren Dorfbewohner, darunter auch Tully Stoker, wie mir auffiel, hatten den schweren Wagen rückwärts herausgeschoben, damit Feely und ich aus der Grube stiegen und in das Licht seiner unbarmherzig grellen großen runden Scheinwerfer treten konnten. Feely war jetzt wieder auf den Beinen, klammerte sich aber immer noch an mir fest wie eine Napfschnecke an einem Kriegsschiff und plapperte aufgeregt vor sich hin. »Wir sind ihm gefolgt, weißt du, Dogger wusste, dass du noch nicht nach Hause gekommen warst, und als er jemanden ums Haus herumschleichen sah …« In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so viele aufeinanderfolgende Worte an mich gerichtet, und ich kostete jedes einzelne davon aus. »Er hat natürlich die Polizei angerufen, dann hat er gesagt, wenn wir diesen Mann verfolgen … wenn wir die Scheinwerfer Der gute alte leise Roller, dachte ich. Trotzdem würde Vater wohl sehr wütend werden, wenn er den Schaden sah. Miss Mountjoy stand ein wenig abseits, zog sich den Wollschal fest um die Schultern und starrte missbilligend auf den zersplitterten Höhleneingang, der einmal das Tor zur Garage gewesen war. Ihre Miene erweckte den Eindruck, als sei eine derartig rücksichtslose Entweihung von Bibliothekseigentum mehr als nur ein Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich suchte ihren Blick, aber sie schaute ängstlich in Richtung ihres Häuschens, als hätte sie für einen Abend schon genug Aufregung gehabt und wollte sich deshalb allmählich wieder auf den Heimweg machen. Auch Mrs Mullet war da, mit einem kleinen dicken Rollmops von einem Mann, der sie sichtlich im Zaum hielt. Das musste Alf, ihr Mann, sein, und er war ganz und gar nicht der Spargeltarzan, als den ich ihn mir immer vorgestellt hatte. Wäre sie allein da gewesen, hätte sich Mrs M garantiert nach vorne gedrängelt, die Arme um mich geworfen und laut geweint, aber Alf schien ein instinktsicheres Gefühl dafür zu haben, dass öffentliche Zurschaustellungen von Vertrautheit in dieser Situation nicht angebracht waren. Als ich sie kurz anlächelte, tupfte sie mit der Fingerspitze an einem Auge herum. In diesem Moment erschien Dr. Darby am Ort des Geschehens, und zwar wie immer so, als wäre er gerade bei einem kleinen Abendspaziergang. Trotz seines lässigen Auftretens fiel mir sofort auf, dass er seine schwarze Arzttasche dabeihatte. Seine Praxis mit angeschlossenem Wohnhaus lag gleich um die Ecke auf der Hauptstraße, weshalb auch er das splitternde Holz und das berstende Glas gehört haben musste. Jetzt betrachtete er mich aufmerksam von Kopf bis Fuß. »Alles klar, Flavia?«, fragte er und beugte sich kurz vor, um sich meine Augen genauer anzusehen. »Alles bestens, Dr. Darby, danke der Nachfrage«, sagte ich freundlich. »Und bei Ihnen?« Er griff nach seinen Gletschereisbonbons. Noch ehe die Papiertüte halb aus seiner Tasche heraus war, lief mir der Speichel im Mund zusammen wie bei einem Hund: Nach der stundenlangen Gefangenschaft mit Knebel hatte ich einen absolut widerlichen Geschmack im Mund. Dr. Darby kramte kurz in seinen Bonbons herum, wählte sorgfältig das seiner Meinung nach verlockendste aus und warf es sich in den Mund. Kurz darauf befand er sich schon wieder auf dem Heimweg. Der kleine Menschenauflauf bildete eine Gasse für ein Automobil, das aus der Hauptstraße in die Cow Lane einbog. Als es neben der Steinmauer abrupt zum Stehen kam, strahlten seine Scheinwerfer zwei Gestalten an, die gemeinsam unter einer Eiche standen: Mary und Ned. Sie kamen nicht näher, sondern grinsten mich nur verlegen an. Ob Feely sie schon gesehen hatte? Wahrscheinlich nicht, denn sie plapperte immer noch tränenreich auf mich ein und erzählte mir von der Rettungsaktion. Falls sie die beiden entdeckte, würde ich womöglich schon bald die Schiedsrichterin bei einem Faustkampf sein und bis zu den Knien in ausgerissenen Haaren stehen. Daffy hatte mir einmal gesagt, dass immer dann, wenn es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung kommt, normalerweise die Tochter des Gutsbesitzers den ersten Schlag anbringt, und niemand weiß besser als ich, dass Feely durchaus das Zeug dazu hat. Trotzdem sage ich nicht ohne Stolz, dass ich trotz der Umstände die Geistesgegenwart und den Mut aufbrachte, Ned heimlich mit erhobenem Daumen meinen Glückwunsch zu signalisieren. Eine Tür im Fond des Vauxhall ging auf, und Inspektor Hewitt kletterte heraus. Zur gleichen Zeit entfalteten sich die Sergeant Woolmer ging mit raschen Schritten auf Dogger zu, der Pemberton mit einem komplizierten und schmerzhaft aussehenden Griff festhielt, bei dem Pemberton aussah wie ein nach vorne gebeugter Atlas, der das Gewicht der Welt auf seinen Schultern trägt. »Ich übernehme ihn, Sir«, sagte Sergeant Woolmer, und kurz darauf glaubte ich das Klicken vernickelter Handschellen zu hören. Dogger sah zu, wie Pemberton auf das Polizeiauto zuschlurfte, dann drehte er sich um und kam langsam auf mich zu. Bevor er mich erreicht hatte, flüsterte mir Feely noch aufgeregt ins Ohr: »Dogger ist auf die Idee gekommen, den Royce mit der Traktorbatterie anzulassen. Vergiss nicht, dich bei ihm dafür zu bedanken.« Dann gab sie meine Hand frei und ließ von mir ab. Dogger stand vor mir und ließ die Hände ein wenig hilflos herunterhängen. Hätte er einen Hut gehabt, er hätte ihn bestimmt in den Händen gedreht. Da standen wir also und sahen einander an. Ich wollte nicht damit anfangen, ihm wegen der Batterie zu danken. Ich wollte lieber gleich die richtigen Worte finden: denkwürdige Worte, über die man noch einige Jahre in ganz Bishop’s Lacey sprechen würde. Eine dunkle Silhouette, die sich vor die Scheinwerfer des Vauxhall schob, lenkte meine Aufmerksamkeit jedoch ab, denn sie warf ihren Schatten über mich und Dogger. Dort stand eine vertraute Gestalt wie ein Scherenschnitt im grellen Licht: Vater. Langsam, beinahe schüchtern setzte er sich in Bewegung, kam auf mich zu. Als er erkannte, dass Dogger neben mir stand, blieb er stehen, als wäre ihm gerade etwas absolut Lebenswichtiges Miss Cool, die Postmeisterin, nickte mir freundlich zu, hielt sich aber zurück, als sei ich irgendwie eine andere Flavia als diejenige, die - war das erst vor zwei Tagen gewesen? - in ihrem Laden für einen Shilling Sixpence Süßigkeiten gekauft hatte. »Feely«, sagte ich und drehte mich zu ihr um. »Würdest du mir einen Gefallen tun? Geh doch mal rasch in die Grube und bring mir mein Taschentuch. Pass aber auf, dass du auch das mitbringst, was darin eingewickelt ist. Dein Kleid ist sowieso schon schmutzig. Sei doch bitte so gut.« Feelys Unterkiefer klappte ungefähr einen Meter herunter, und ich befürchtete schon, dass sie mir gleich ins Gesicht schlagen würde. Ihr ganzes Gesicht wurde so rot wie ihre Lippen, aber dann machte sie plötzlich auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Dunkelheit der Garage. Ich wandte mich wieder an Dogger, um meine schon bald als Klassiker weitererzählten Worte an ihn zu richten, aber er war schneller als ich. »Meine liebe Miss Flavia«, sagte er leise, »es sieht ganz so aus, als sollte es doch noch ein ganz reizender Abend werden, findest du nicht?«  27 Inspektor Hewitt stand in meinem Labor, drehte sich langsam um die eigene Achse und ließ dabei den Blick wie den Strahl aus einem Leuchtturm über die wissenschaftlichen Geräte, die Vitrinen und Schränkchen mit ihren Chemikalien schweifen. Als er einen kompletten Kreis beschrieben hatte, hielt er inne, dann vollführte er die gleiche Bewegung noch einmal in die andere Richtung. »Außerordentlich!«, sagte er und zog das Wort dabei in die Länge. »Ganz außerordentlich!« Ein Strahl angenehm warmen Sonnenlichts fiel durch die hohen Flügelfenster herein und ließ ein Becherglas mit einer roten Flüssigkeit aufleuchten, die kurz vor dem Kochen war. Ich dekantierte die Hälfte der Substanz in eine Porzellantasse und reichte sie dem Inspektor. Er betrachtete sie misstrauisch. »Es ist Tee«, sagte ich. »Assam von Fortnum und Mason. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass er aufgewärmt ist.« »Bei uns auf dem Revier gibt’s nur Aufgewärmten«, sagte er. »Ich gebe mich mit nichts anderem mehr zufrieden.« Vorsichtig nippend, schritt er langsam durch den Raum und sah sich die chemischen Apparaturen mit professionellem Interesse an. Er nahm ein oder zwei Gefäße aus dem Regal und hielt sie gegen das Licht, dann bückte er sich und schaute durch das Okular meines Leitz. Ich merkte deutlich, dass er Schwierigkeiten hatte, auf den Punkt zu kommen. »Wunderschönes Porzellan«, sagte er schließlich und hob »Ziemlich frühes Spode«, sagte ich. »Albert Einstein und George Bernard Shaw haben schon aus genau dieser Tasse getrunken, als sie meinen Großonkel Tarquin besuchten. Natürlich nicht beide gleichzeitig.« »Da fragt man sich doch, was die beiden voneinander gehalten hätten«, sagte Inspektor Hewitt und warf mir einen kurzen Blick zu. »Allerdings.« Ich erwiderte seinen Blick. Der Inspektor nahm noch einen kleinen Schluck Tee. Er wirkte irgendwie ruhelos, als wollte er noch etwas loswerden, fände aber nicht den richtigen Einstieg. »Das war ein kniffliger Fall«, sagte er. »Sehr bizarr. Der Mann, dessen Leiche du gefunden hast, war ein völlig Fremder. Jedenfalls sah es so aus. Wir wussten lediglich, dass er aus Norwegen kam.« »Die Schnepfe«, sagte ich. »Wie bitte?« »Die tote Schnepfe vor unserer Küchentür. Zwergschnepfen gibt es in England erst im Herbst. Sie musste von Norwegen hierhergebracht worden sein. In einer Pastete. So sind Sie draufgekommen, stimmt’s?« Der Inspektor sah mich verwirrt an. »Nein«, sagte er dann. »Bonepenny trug ein Paar neuer Schuhe mit dem Firmenzeichen eines Schuhmachers aus Stavanger.« »Ach«, sagte ich. »Von dort aus konnten wir seine Spur ziemlich leicht verfolgen.« Während er sprach, malte Inspektor Hewitts Hand eine Landkarte in die Luft. »Durch unsere Ermittlungen sowohl hier als auch im Ausland wussten wir, dass er mit dem Schiff von Stavanger nach Aha! Genau so, wie ich vermutet hatte. »Genau«, sagte ich. »Und Pemberton - oder sollte ich besser sagen: Bob Stanley? - ist ihm gefolgt, aber nur bis Doddingsley. Dort hat er sich im Fröhlichen Kutscher ein Zimmer genommen.« Eine Augenbraue des Inspektors schnellte nach oben wie eine aufgeschreckte Kobra. »Oha«, sagte er. »Woher weißt du das denn?« »Ich habe im Fröhlichen Kutscher angerufen und mit Mr Cleaver gesprochen.« »Ist das alles?« »Sie haben das beide gemeinsam ausgeheckt, genau wie den Mord an Mr Twining.« »Stanley streitet das ab«, sagte er. »Er behauptet, nichts damit zu tun zu haben. Unschuldig wie ein Lamm und so weiter.« »Aber er hat mir in der Garage gesagt, dass er Bonepenny umgebracht hat! Außerdem hat er mehr oder weniger zugegeben, dass meine Theorie stimmt: Mr Twinings Selbstmord war nur Augenwischerei, eine Illusion.« »Na, das werden wir ja sehen. Wir sind da dran, aber es wird noch eine Weile dauern, obwohl ich sagen muss, dass dein Vater uns sehr dabei geholfen hat. Er hat uns jetzt die ganze Geschichte erzählt, wie es zum Tod des armen Twining kam. Ich wünschte nur, er hätte sich früher zu einer Kooperation mit uns entschlossen. Damit hätten wir uns einiges …« Er hielt inne. Dann fügte er hinzu: »Tut mir leid, ich habe nur spekuliert.« »Meine Entführung«, sagte ich. Ich musste den Inspektor bewundern, wie schnell er das Thema wechseln konnte. »Zurück zur Gegenwart«, sagte er. »Mal sehen, ob ich das »Sie sind schon immer Komplizen gewesen. Bonepenny hat Briefmarken gestohlen und Stanley hat sie im Ausland an skrupellose Sammler verkauft. Aber irgendwie haben sie es nie geschafft, die beiden Rächer von Ulster zu verkaufen. Die waren einfach zu bekannt. Und da die letzte sogar dem König gestohlen worden war, wäre es für einen Sammler viel zu riskant gewesen, sie in seiner Sammlung zu haben.« »Interessant«, sagte der Inspektor. »Und weiter?« »Sie hatten vor, Vater zu erpressen, aber zwischenzeitlich müssen sie irgendwie über Kreuz gekommen sein. Bonepenny kam aus Stavanger, um die Erpressung durchzuführen, und irgendwann ist Stanley klar geworden, dass er ihm folgen und ihn auf Buckshaw ermorden, die Briefmarken an sich nehmen und das Land wieder verlassen konnte. Ganz einfach. Und alle hätten Vater für den Schuldigen gehalten. Wie es ja auch gekommen ist«, fügte ich hinzu und schaute den Inspektor vorwurfsvoll an. Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus. »Hör mal, Flavia«, sagte er schließlich, »mir ist ja nicht viel anderes übrig geblieben, oder? Es gab keine anderen brauchbaren Verdächtigen.« »Und ich?«, fragte ich. »Ich war schließlich am Tatort.« Ich zeigte mit einer Handbewegung auf die Flaschen mit den Chemikalien an den Wänden. »Außerdem kenne ich mich mit Giften aus. Man könnte mich durchaus als sehr gefährliche Person einstufen.« »Hmm«, machte der Inspektor. »Ein interessantes Argument. Und du bist tatsächlich zum Todeszeitpunkt an der besagten Stelle gewesen. Wenn nicht alles so gelaufen wäre, wie es gelaufen ist, könnte jetzt ebenso gut dein Hals in der Schlinge stecken.« Daran hatte ich nicht gedacht. Ich bekam eine Gänsehaut. Der Inspektor redete weiter. »Dagegen spricht jedoch deine Körpergröße, der Mangel eines echten Motivs und die Tatsache, dass du dich nicht gerade rar gemacht hast. Normalerweise macht ein Mörder einen weiten Bogen um die Polizei, wohingegen du … na ja, da kommt einem am ehesten das Wörtchen ›allgegenwärtig‹ in den Sinn. Was sagst du dazu?« »Stanley hat Bonepenny in unserem Garten aufgelauert. Bonepenny war Diabetiker und …« »Ah«, sagte der Inspektor fast murmelnd. »Insulin! Wir haben nicht daran gedacht, das zu überprüfen.« »Nein«, sagte ich, »nicht Insulin: Tetrachlorkohlenstoff. Bonepenny ist daran gestorben, dass man ihm Tetrachlorkohlenstoff in den Hirnstamm injiziert hat. Stanley hat eine Flasche von dem Zeug aus der Apotheke in Doddingsley mitgebracht. Ich habe das Etikett von Johns, dem Apotheker, auf der Flasche gesehen, als Stanley in der Grube die Spritze damit gefüllt hat. Wahrscheinlich haben Sie sie längst unter dem ganzen Müll dort gefunden.« Man konnte es seinem Gesicht ansehen, dass dem nicht so war. »Dann muss sie ins Abflussrohr gerollt sein«, sagte ich. »Da ist so ein altes Rohr, das bis runter zum Fluss führt. Jemand muss sie dort nur rausfischen.« Der arme Sergeant Graves!, dachte ich. »Die Spritze hat Stanley aus der Tasche in Bonepennys Zimmer im Dreizehn Erpel gestohlen«, fügte ich ohne nachzudenken hinzu. Verdammt! Der Inspektor schlug sofort zu. »Woher weißt du, was sich in Bonepennys Zimmer befand?«, fragte er in scharfem Ton. »Äh … dazu komme ich noch«, sagte ich. »Später. Stanley glaubte, dass Sie niemals irgendwelche Spuren von Tetrachlorkohlenstoff in Bonepennys Gehirn entdecken würden. Zum Inspektor Hewitt zog sein Notizbuch heraus und kritzelte einige Worte hinein, zu denen, wie ich vermutete, auch der Begriff Tetrachlorkohlenstoff gehörte. »Ich wusste gleich, dass es Tetrakohle ist, denn Bonepenny hat mir den letzten Rest davon mit seinem Todeshauch ins Gesicht geblasen«, sagte ich, rümpfte die Nase und machte ein entsprechendes Gesicht dazu. Wenn man bei einem Inspektor sagen konnte, dass er ganz weiß im Gesicht wurde, dann wurde Inspektor Hewitt in diesem Moment ganz weiß im Gesicht. »Bist du dir da sicher?« »Aber klar. Bei Tetrachlorkohlenstoff kenne ich mich ganz gut aus.« »Willst du mir damit sagen, dass Bonepenny noch lebte, als du ihn gefunden hast?« »Gerade noch«, antwortete ich. »Er ist fast im gleichen Moment … ähm … dahingeschieden.« Es folgte wieder eine lange, gruftartige Stille. »Kommen Sie«, sagte ich, »ich zeige Ihnen, wie es gemacht wurde.« Ich nahm einen gelben Bleistift in die Hand, spitzte ihn gut an und ging in die Ecke, wo das Skelett an seinen Drähten baumelte. »Mein Großonkel Tarquin hat es von dem Zoologen Frank Buckland bekommen«, sagte ich und strich zärtlich über den Schädel. »Ich habe ihn Yorick getauft.« Ich verriet dem Inspektor nicht, dass Buckland, in hohem Alter, Tar dieses Geschenk in Anbetracht seiner zu erwartenden großen Zukunft geschenkt hatte. »Der leuchtenden Zukunft der Wissenschaft«, hatte Buckland auf seine Karte geschrieben. Ich hielt die Bleistiftspitze ans obere Ende der Wirbelsäule, schob den Stift langsam unter den Schädel und wiederholte dabei Pembertons Worte in der Garage: »›Ein bisschen schräg ansetzen … dann durch splenius capitus und semispinalis capitis hinein, das Band zwischen Atlas und Axis anpieken, und dann die Nadel vorsichtig über das …« »Vielen Dank, Flavia«, sagte der Inspektor abrupt. »Das reicht schon. Bist du ganz sicher, dass er das gesagt hat?« »Genau das waren seine Worte«, antwortete ich. »Ich musste in Gray’s Anatomie für Medizinstudenten nachschlagen. In der Kinderenzyklopädie sind zwar viele Bildtafeln, aber nicht annähernd so viele Einzelheiten verzeichnet.« Inspektor Hewitt rieb sich das Kinn. »Dr. Darby findet bestimmt die Einstichstelle in Bonepennys Nacken«, sagte ich hilfsbereit. »Wenn er weiß, wo er nachsehen muss. Er könnte auch die Nebenhöhlen untersuchen. Tetrachlorkohlenstoff ist luftbeständig und dürfte, da der Mann ja nicht mehr geatmet hat, dort noch nachzuweisen sein. - Und außerdem«, fügte ich hinzu, »könnten Sie ihm sagen, dass Bonepenny, kurz bevor er sich zu seinem Spaziergang nach Buckshaw aufgemacht hat, im Dreizehn Erpel noch was getrunken hat.« Der Inspektor sah immer noch verwirrt aus. »Die Wirkung von Tetrachlorkohlenstoff wird durch Alkohol intensiviert«, erklärte ich. »Und«, fragte er mit einem lässigen Lächeln, »hast du auch eine plausible Erklärung dafür, weshalb sich das Zeug immer noch in seinen Nebenhöhlen befinden sollte? Ich bin zwar kein Chemiker, aber soweit ich weiß, verflüchtigt sich Tetrachlorkohlenstoff sehr schnell.« Ich hatte eine plausible Erklärung dafür, aber die wollte ich nicht unbedingt publik machen, schon gar nicht gegenüber der Polizei. Bonepenny hatte einen besonders üblen SchnupfenVale ins Gesicht hauchte, an mich weitergegeben hatte. Herzlichen Dank auch, Horace, dachte ich. Ich vermutete, dass Bonepennys verstopfte Nasenhöhlen sehr wohl den injizierten Tetrachlorkohlenstoff, der in Wasser und demzufolge auch in Rotz unlöslich ist, aufgespeichert haben konnten. Obendrein hatte auch der Schnupfen das Einsaugen von Luft behindert. »Nein«, sagte ich. »Aber Sie könnten ja veranlassen, dass das Labor in London den Test durchführt, der in der Britischen Pharmakopöe vorgeschlagen wird.« »Ich müsste lügen, wenn ich mich an den so aus dem Stegreif erinnern sollte«, sagte Inspektor Hewitt. »Eine sehr hübsche Prozedur«, sagte ich. »Man überprüft damit den Grenzwert von freiem Chlor, wenn Jod aus Kadmiumjodid gelöst wird. Damit sind Sie doch sicher vertraut. Ich würde Ihnen anbieten, es selbst durchzuführen, aber ich glaube nicht, dass Scotland Yard damit einverstanden wäre, Teile von Bonepennys Gehirn einer Elfjährigen auszuhändigen.« Inspektor Hewitt wollte gar nicht mehr aufhören, mich anzustarren. »Na schön«, sagte er schließlich. »Dann werfen wir jetzt mal einen Blick drauf.« »Worauf denn?«, fragte ich und setzte meine gekränkte Unschuldsmiene auf. »Auf das, was du getan hast. Schauen wir es uns mal an.« »Aber … ich habe überhaupt nichts getan«, sagte ich. »Ich …« »Verkauf mich nicht für dumm, Flavia. Niemand, der jemals das Vergnügen hatte, deine Bekanntschaft zu machen, würde jemals daran zweifeln, dass du deine Hausaufgaben gemacht hast.« Ich grinste verlegen. »Es ist hier drüben«, sagte ich und ging zu einem Ecktisch, auf dem ein Glasbehälter stand, der mit einem feuchten Geschirrhandtuch zugedeckt war. Ich zog das Tuch weg. »Herr im Himmel!«, entfuhr es dem Inspektor. »Was im Namen des …« Er starrte den rosig grauen Klumpen an, der ruhig in dem Behälter schwamm. »Das ist ein Stück Gehirn«, sagte ich. »Hab ich aus der Speisekammer geklaut. Mrs Mullet hat es gestern bei Carnforth gekauft. Für unser heutiges Abendessen. Sie wird bestimmt sehr wütend auf mich sein.« »Und du hast …?«, fragte er und wedelte mit der Hand. »Ja, ganz genau. Ich habe zwei einhalb Kubikzentimeter Tetrachlorkohlenstoff injiziert. Genauso viel, wie in Bonepennys Spritze passte. Das menschliche Gehirn wiegt im Durchschnitt drei Pfund«, fuhr ich fort, »das des Mannes vielleicht ein bisschen mehr. Ich habe deshalb noch mal extra 150 Gramm abgeschnitten.« »Woher weißt du das denn?«, fragte der Inspektor. »Das steht in einem von Arthur Mees Büchern. Im Kinderlexikon, glaube ich.« »Und du hast dieses … Gehirn auf die Nachweisbarkeit von Tetrachlorkohlenstoff hin getestet?« »Ja. Aber erst fünfzehn Stunden, nachdem ich es eingespritzt hatte. Ungefähr so viel Zeit müsste zwischen dem Zeitpunkt, an dem es in Bonepennys Gehirn gespritzt wurde, und der Autopsie vergangen sein.« »Und?« »Immer noch ganz deutlich nachzuweisen«, sagte ich. »Ein Kinderspiel. Selbstverständlich habe ich P-Amino-Dimethylanilin benutzt. Das ist ein ziemlich neuer Test, aber sehr elegant. Stand ungefähr vor fünf Jahren in der Fachzeitschrift The Analyst. Ziehen Sie sich einen Hocker her, dann zeig ich’s Ihnen.« »Ich glaube, das bringt eh nichts.« Inspektor Hewitt kicherte. »Bringt nichts? Natürlich bringt es was. Ich habe es schon einmal gemacht.« »Ich meine damit, dass du mich hier nicht mit deinem Laborkram durcheinanderbringen und dich ganz bequem um die Briefmarke herumdrücken kannst. Letztendlich geht es doch allein darum, oder nicht?« Er hatte mich in die Enge getrieben. Eigentlich hatte ich vorgehabt, den Rächer von Ulster überhaupt nicht zu erwähnen und die Briefmarke klammheimlich Vater zu geben. Wem konnte sie denn sonst etwas nützen? »Hör mal, ich weiß, dass du sie hast«, sagte er. »Wir haben Dr. Kissing im Haus Krähenwinkel einen Besuch abgestattet.« Ich versuchte, ein skeptisches Gesicht zu machen. »Und Bob Stanley, dein Mr Pemberton, hat uns gesagt, dass du sie ihm gestohlen hast.« Ich ihm gestohlen? Wie kam er denn darauf? Was für eine Unverfrorenheit! »Sie gehört dem König!«, protestierte ich. »Bonepenny hat sie bei einer Ausstellung in London gestohlen.« »Wem sie auch gehören mag, es handelt sich jedenfalls um Diebesgut, und meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass es dem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben wird. Ich muss nur wissen, wie es in deinen Besitz gekommen ist.« Der Teufel sollte den Mann holen! Jetzt konnte ich mich nicht mehr herausreden. Jetzt musste ich mein unbefugtes Eindringen im Dreizehn Erpel gestehen. »Wir können ja ein Geschäft machen«, sagte ich. Inspektor Hewitt lachte laut auf. »Es gibt Zeiten, Miss de Luce«, sagte er, »da verdient man »Und welche Zeit haben wir jetzt gerade?«, fragte ich. Huuu! Jetzt sieh dich aber vor, Flave! Er drohte mir mit dem Zeigefinger. »Ich bin ganz Ohr«, sagte er. »Also, ich habe nachgedacht«, sagte ich. »In der letzten Zeit hat sich das Leben Vater gegenüber nicht besonders nett verhalten. Zuerst tauchen Sie auf Buckshaw auf, und ehe er sich versieht, beschuldigen Sie ihn, einen Mord begangen zu haben.« »Langsam … langsam«, sagte der Inspektor. »Darüber haben wir bereits gesprochen. Er wurde des Mordes beschuldigt, weil er es zugegeben hat.« Im Ernst? Das war mir neu. »Kaum hatte er den Mord zugegeben, kam Flavia anspaziert. Ich hatte mehr Beichten abzunehmen als die Heilige Mutter Gottes in Lourdes an einem Samstagabend.« »Ich wollte ihn nur schützen«, sagte ich. »Zu dem Zeitpunkt dachte ich, dass er es vielleicht tatsächlich gewesen ist.« »Und wen wollte er schützen?«, fragte Inspektor Hewitt und musterte mich eindringlich. Die Antwort lautete natürlich: Dogger. Das hatte Vater gemeint, als er sagte: »Das habe ich befürchtet«, nachdem ich ihm erzählt hatte, dass auch Dogger den Streit mit Bonepenny in seinem Arbeitszimmer mit angehört hatte. Vater hatte gedacht, Dogger hätte den Mann umgebracht, so viel war klar. Aber warum? Hätte Dogger es allein aus Treue meinem Vater gegenüber getan oder bei einem seiner eigenartigen Anfälle? Nein, Dogger ließen wir am besten aus der Sache heraus. Das war das Wenigste, was ich für ihn tun konnte. »Vielleicht mich«, log ich. »Vater dachte, ich hätte Bonepennymich zu schützen.« »Glaubst du das wirklich?«, fragte der Inspektor. »Es wäre jedenfalls ein feiner Zug von ihm«, antwortete ich. »Da bin ich sicher«, sagte der Inspektor. »Ganz bestimmt hat er sich vor dich gestellt. Na schön, dann zurück zu der Briefmarke. Ich hab sie nämlich noch nicht vergessen.« »Also, wie schon gesagt, ich würde sehr gern etwas für Vater tun; etwas, das ihn glücklich macht, selbst wenn es nur für ein paar Stunden ist. Ich würde ihm gern den Rächer von Ulster geben, wenn auch nur für einen oder zwei Tage. Wenn Sie mir das erlauben, erzähle ich Ihnen alles, was ich weiß. Versprochen.« Der Inspektor schlenderte zum Bücherregal, zog einen gebundenen Band der Tätigkeitsberichte der Chemischen Gesellschaft von 1907 heraus und blies den Staub vom Rücken. Dann blätterte er gelangweilt durch die Seiten, als suchte er darin das, was er als Nächstes sagen wollte. »Weißt du«, sagte er schließlich, »es gibt nichts, was Antigone, meine Frau, mehr verabscheut, als einkaufen zu gehen. Sie hat mir einmal erzählt, dass sie sich lieber einen Zahn plombieren lässt, als eine halbe Stunde beim Kauf einer Hammelkeule zu vergeuden. Trotzdem muss sie einkaufen gehen, ob sie will oder nicht. Es ist ihr Schicksal, sagt sie. Um die Schmerzen ein bisschen zu betäuben, kauft sie manchmal ein kleines gelbes Heftchen namens Du und deine Sterne. Ich muss zugeben, dass ich bis jetzt des Öfteren, wenn sie mir daraus beim Frühstück vorgelesen hat, die Nase darüber gerümpft habe, aber heute Morgen sagte mein Horoskop, und jetzt zitiere ich wörtlich: ›Ihre Geduld wird auf eine äußerst harte Probe gestellt werden.‹ Glaubst du wirklich, dass ich diese Hefte bisher falsch beurteilt habe, Flavia?« »Bitte!«, sagte ich und gab dem Wort den notwendigen Nachdruck. »Vierundzwanzig Stunden«, sagte er. »Keine Minute länger.« Und plötzlich sprudelte es nur so aus mir heraus, ich plapperte von der toten Zwergschnepfe, von Mrs Mullets eigentlich doch ziemlich unschuldigem (wenn auch ungenießbarem) Schmandkuchen, ich erzählte, wie ich Bonepennys Zimmer im Gasthaus durchsucht und die Briefmarken gefunden, wie ich Miss Mountjoy und Dr. Kissing besucht hatte, von meinen Begegnungen mit Pemberton auf der Insel im Park und auf dem Friedhof, und von meiner Gefangenschaft in der Garage. Das Einzige, was ich nicht erzählte, war, dass ich Feelys Lippenstift mit einem Extrakt aus Giftefeu präpariert h atte. Warum den Inspektor mit unnötigen Einzelheiten verwirren? Während ich redete, kritzelte er gelegentlich in sein kleines schwarzes Notizbuch, dessen Seiten, wie mir auffiel, mit jeder Menge Pfeilen und kryptischen Zeichen bedeckt waren. Sie sahen aus, als wären sie von einer alchimistischen Formel aus dem Mittelalter inspiriert worden. »Komme ich da drin auch vor?«, fragte ich ihn und zeigte mit dem Finger auf das Buch. »Allerdings.« »Darf ich mal sehen? Nur ganz kurz?« Inspektor Hewitt klappte sein Buch zu. »Nein«, sagte er. »Das ist ein streng vertrauliches Polizeidokument.« »Schreiben Sie meinen Namen richtig aus oder bin ich da nur durch eines dieser Symbole repräsentiert?« »Du hast ein Symbol. Eins extra für dich«, sagte er und schob das Buch in seine Tasche. »Tja, ich glaube, ich muss mich wieder auf den Weg machen.« Er gab mir die Hand und schüttelte sie kräftig. »Auf Wiedersehen, Flavia«, sagte er. »Es war … ein ziemliches Erlebnis.« Er ging zur Tür und machte sie auf. »Inspektor …« Er blieb stehen und drehte sich um. »Was ist es für eins? Mein Symbol, meine ich.« »Es ist ein P«, antwortete er. »Ein großes P.« »Ein P?«, fragte ich verdutzt. »Wofür steht denn das P?« »Ach«, erwiderte er, »das bleibt am besten der Fantasie überlassen.« Daffy lag im Salon auf dem Teppich und las Der Gefangene von Zenda. »Weißt du eigentlich, dass du beim Lesen die Lippen bewegst?«, fragte ich sie. Sie ignorierte mich. Also beschloss ich, mein Leben aufs Spiel zu setzen. »Apropos Lippen«, sagte ich. »Wo ist Feely eigentlich?« »Beim Arzt«, sagte sie. »Sie hat irgendeine Allergie. Muss mit irgendwas in Kontakt gekommen sein.« Aha! Also war mein Experiment doch noch von Erfolg gekrönt worden! Niemand würde je dahinterkommen. Sobald ich einen Augenblick für mich hatte, würde ich es in meinem Notizbuch vermerken: Dienstag, 6. Juni 1950, 13.20 Uhr. Erfolg! Ausbruch wie erwartet! Der Gerechtigkeit ist Genüge getan! Ich schnaubte leise vor mich hin. Daffy musste es gehört haben, denn sie rollte sich herum und setzte sich auf. »Glaub ja nicht, dass du einfach so davonkommst«, sagte sie leise. »Hä?« Verwirrte Unschuld war meine Spezialität. »Was für einen Hexentrank hast du in ihren Lippenstift gemischt?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst«, sagte ich. »Sieh dich bloß mal im Spiegel an«, sagte Daffy. »Und pass auf, dass er nicht zerspringt.« Ich drehte mich um und ging langsam zum Kamin, wo ein beschlagenes Überbleibsel aus dem Regency betrübt über dem Sims hing und das Zimmer widerspiegelte. Ich beugte mich näher heran und musterte mein Spiegelbild. Zuerst sah ich lediglich mein gewöhnliches brillantes Ich, meine hellblauen Augen, meinen blassen Teint, aber als ich länger hinschaute, fielen mir weitere Einzelheiten an dem übel zugerichteten quecksilbrigen Abbild meiner selbst auf. Da war ein Fleck an meinem Hals. Ein feurig roter Fleck! An der Stelle, an der Feely mich geküsst hatte! Ich stieß einen gequälten Schrei aus. »Feely hat gesagt, sie hätte dir alles heimgezahlt, kaum dass sie fünf Sekunden in der Grube gewesen ist.« Noch ehe Daffy sich wieder auf den Bauch gerollt und ihrer blöden Mantel-und-Degen-Geschichte zugewandt hatte, hatte mein neuer Plan Gestalt angenommen. Einmal, als ich ungefähr neun war, führte ich Tagebuch darüber, wie es war, eine de Luce zu sein, oder zumindest diese eine besondere de Luce. Ich dachte viel darüber nach, wie ich mich dabei fühlte und kam schließlich zu dem Schluss, dass Flavia de Luce zu sein in etwa so war wie ein Sublimat zu sein: wie der schwarze kristalline Rest, den die violetten Joddämpfe auf dem kalten Glas eines Reagenzglases zurücklassen. Damals hielt ich das für die perfekte Beschreibung, und während der vergangenen zwei Jahre ist nichts passiert, was mich dazu gebracht hätte, meine Meinung zu ändern. Wie bereits gesagt, den de Luces fehlt etwas. Irgendeine chemische Verbindung oder auch der Mangel daran fesselt ihre Zungen, sobald sie Gefahr laufen, Zuneigung zu jemandem zu Den Beweis dafür hatte Feely geliefert, als sie mir mein Tagebuch stahl, das Metallschloss mit einem Büchsenöffner aus der Küche aufbrach und dann laut daraus vorlas, wobei sie sich in den Kleidern, die sie der Vogelscheuche unseres Nachbarn gestohlen hatte, oben auf die große Treppe stellte. Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich mich Vaters Arbeitszimmer näherte. Davor blieb ich stehen, weil ich nicht genau wusste, ob ich meinen Plan wirklich umsetzen wollte. Dann klopfte ich unsicher an die Tür. Es dauerte sehr lange, bis Vaters Stimme »Herein« sagte. Ich drehte den Türknauf und trat ein. Vater saß am Tisch neben dem Fenster und schaute kurz von seinem Vergrößerungsglas auf, dann wandte er sich wieder der Betrachtung einer magentaroten Marke zu. »Darf ich was sagen?«, fragte ich, wobei mir bewusst wurde, dass es eine merkwürdige Frage war. Trotzdem schienen mir diese Worte die einzig richtigen zu sein. Vater legte das Glas auf den Tisch, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Er sah müde aus. Ich fasste in meine Tasche und zog ein Stück blaues Schreibpapier heraus, in das ich den Rächer von Ulster eingeschlagen hatte. Ganz langsam, wie ein Bittsteller, ging ich auf ihn zu, legte das Papier auf den Schreibtisch und trat wieder zurück. Vater faltete es auf. »Herr der Gerechten!«, sagte er. »Das ist ja A A!« Er setzte die Brille wieder auf, nahm seine Juwelierlupe zur Hand und betrachtete die Briefmarke ganz genau. Jetzt, dachte ich, bekomme ich meine Belohnung. Ich konzentrierte »Wo hast du die her?«, fragte er schließlich mit dieser sanften Stimme, die den Zuhörer wie einen Schmetterling auf eine Nadel spießt. »Gefunden«, antwortete ich. Vaters Blick war militärisch, unerbittlich. »Bonepenny muss sie verloren haben«, sagte ich. »Sie ist für dich.« Vater studierte mein Gesicht, wie ein Astronom eine Supernova studiert. »Das ist sehr anständig von dir, Flavia«, sagte er schließlich mit einiger Anstrengung. Und gab mir den Rächer von Ulster wieder zurück. »Aber du musst sie seinem rechtmäßigen Eigentümer zurückgeben.« »König Georg?« Vater nickte. Ich fand, dass er dabei ein bisschen traurig aussah. »Ich weiß nicht, wie die Marke in deinen Besitz gekommen ist, und ich möchte es auch nicht wissen. Nachdem du allein so weit gekommen bist, solltest du es auch allein zu Ende bringen.« »Inspektor Hewitt will, dass ich sie ihm gebe.« Vater schüttelte den Kopf. »Das ist nett von ihm«, sagte er, »aber auch typisch Behörde. Nein, Flavia, die gute alte AA hier ist schon durch zu viele Hände gegangen, einige davon waren sauber, die meisten leider schmutzig. Du musst dafür sorgen, dass sich die deinen als die würdigsten von allen erweisen.« »Aber wie schreibt man denn dem König?« »Ich zweifle nicht daran, dass du Mittel und Wege finden wirst«, sagte Vater. »Und mach bitte die Tür zu, wenn du gehst.« »Miss Flavia«, sagte er, lüftete den Hut und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Wie adressiert man eigentlich einen Brief an den König?«, fragte ich. Dogger lehnte die Schaufel vorsichtig ans Gewächshaus. »Theoretisch oder tatsächlich?« »Tatsächlich.« »Hmmm«, machte er. »Ich glaube, da schaue ich besser irgendwo nach.« »Halt«, sagte ich. »Mrs Mullets Hundert Alltagsfragen und Antworten für den anspruchsvollen Haushalt. Sie hat das Buch in der Speisekammer.« »Sie ist eben zum Einkaufen ins Dorf gegangen«, sagte Dogger. »Wenn wir uns beeilen, kommen wir vielleicht mit dem Leben davon.« Kurz darauf drängten wir uns in die Speisekammer. »Hier ist es«, sagte ich aufgeregt, als ich das Buch in meinen Händen aufklappte. »Aber warte … das hier ist schon vor sechzig Jahren erschienen. Stimmen die Angaben da überhaupt noch?« »Aber sicher«, meinte Dogger. »Im Königshaus ändern sich die Dinge nicht so schnell wie bei unsereinem. Ist wohl auch besser so.« Der Salon war leer. Daffy und Feely trieben sich irgendwo anders herum, wo sie höchstwahrscheinlich ihren nächsten Angriff planten. Ich fand ein anständiges Blatt Papier in einer Schublade, tauchte die Feder ins Tintenfass und schrieb mir die Anrede aus Mrs Mullets fettfleckigem Buch ab, wobei ich versuchte, so schön wie möglich zu schreiben: Königliche Hoheit, Euer allergnädigste Majestät, Anbei findet Ihr einen Gegenstand von beträchtlichem Wert, der Eurer Majestät gehört und in diesem Jahr gestohlen wurde. Wie er in meine Hände geraten ist (eine hübsche Redewendung, fand ich), ist weiter un wichtig, aber ich kann Eurer Majestät versichern, dass der Verbrecher festgenommen wurde. »Gefasst«, sagte Dogger, der mir über die Schulter schaute. Ich verbesserte es. »Was noch?« »Nichts«, sagte Dogger. »Nur noch unterschreiben. Könige bevorzugen Knappheit.« Ganz vorsichtig, um ja keinen Flecken auf das Papier zu machen, schrieb ich das Briefende ab: Ich verbleibe in tiefster Verehrung als Euer Majestät treueste Untertanin Flavia de Luce (Miss) »Perfekt«, sagte Dogger. Ich faltete den Brief sorgfältig und fuhr die Falte extra mit dem Daumen nach. Dann schob ich ihn in einen von Vaters besten Umschlägen und schrieb die Adresse drauf: Seine Königliche Hoheit König Georg VI. Buckingham Palace, London S.W.I. England »Soll ich noch ›vertraulich‹ dazu schreiben?« »Gute Idee«, meinte Dogger. Eine Woche später, als ich gerade meine nackten Füße im Wasser des künstlichen Sees kühlte und meine Notizen zu Koniin, dem bekanntesten Alkaloid, noch einmal durchging, tauchte Dogger plötzlich auf und wedelte mir mit etwas in seiner Hand zu. »Miss Flavia!«, rief er und kam zur Insel herübergewatet, ohne sich die Stiefel auszuziehen. Seine Hosenbeine waren klatschnass, aber obwohl er triefend wie Poseidon vor mir stand, war sein Grinsen so sonnig wie der Sommernachmittag. Er reichte mir einen Umschlag, so weich und weiß wie Eiderdaunen. »Soll ich ihn aufmachen?«, fragte ich. »Ich glaube, er ist an dich adressiert.« Dogger zuckte zusammen, als ich den Umschlag aufriss und ein einzelnes Blatt cremeweißes Papier herauszog, das zusammengefaltet darin gelegen hatte. Sehr verehrte Miss de Luce, ich bin Ihnen überaus dankbar für Ihre jüngst erfolgte Benachrichtigung und die Rückerstattung des kostbaren Gegenstandes, den sie enthielt, und der, wie Ihnen sicher lich nicht unbekannt ist, eine bemerkenswerte Rolle nicht nur in der Geschichte meiner eigenen Familie, sondern auch in der Geschichte Englands gespielt hat. Bitte nehmen Sie meinen tief empfundenen Dank ent gegen. Die Unterschrift lautete einfach nur »Georg«. DANKSAGUNG Immer wenn ich ein neues Buch aufschlage, blättere ich zuerst zur Danksagung, denn sie verschafft mir eine Art Luftbild des gesamten Werkes: eine in größerem Maßstab gezeichnete Landkarte, die ein bisschen von der weiteren Umgebung abbildet, in der das Buch geschrieben wurde, und mir zeigt, wo es herkommt und wie es entstanden ist. Noch nie ist ein Werk schon bei seiner Entstehung freundlicher gehegt und gepflegt worden als dieses, und mit übergroßer Freude möchte ich meine Dankbarkeit gegenüber der Crime Writers’ Association und der Jury ausdrücken, die dem Buch den Debut Dagger Award zugesprochen haben: Philip Golden, Vorsitzender des CWA, Margaret Murphy, Emma Hargrave, Bill Massey, Sara Menguc, Keshini Naidoo und Sarah Turner. Zusätzlicher und ganz besonderer Dank gebührt Margaret Murphy, die nicht nur dem Debut Dagger Awards Committee vorsaß, sondern am Tag der Preisverleihung von ihrem eigenen vollgepackten Zeitplan noch etwas abgezwackt hat, um einen orientierungslosen Fremden persönlich in London willkommen zu heißen. Ich bedanke mich auch bei Louise Penny, selbst Gewinnerin des Dagger, deren herzliche Großzügigkeit und mutmachende Hilfsbereitschaft in dem Leuchtturm veranschaulicht ist, zu dem ihre Website für angehende Schriftsteller geworden ist. Louise weiß, wie man etwas von dem, was einem selbst zuteil geworden ist, wieder »zurückgibt«. Abgesehen davon Ich danke meiner Agentin Denise Bukowski dafür, dass sie über den Atlantik geflogen ist, um dabei zu sein, und dafür, dass sie mich, trotz meines Jetlag, rechtzeitig zur Kirche gebracht hat. Und noch einmal Bill Massey von Orion Books, der aufgrund einer Hand voll Seiten genügend Zuversicht hatte, das Buch und die ganze Serie ins Programm zu nehmen - und dafür, dass er mich zum ehemaligen »Bucket of Blood« in Covent Garden mitgenommen hat, dem Ort, an dem der Dichter und Kritiker John Dryden in einer kleinen Passage von Raufbolden überfallen wurde. Niemand war je mit einem besseren Lektor als Bill gesegnet. Er ist ein wahrer Bruder im Geiste! Ich danke Kate Miciak und Molly Boyle von Bantam Dell in New York sowie Kristin Cochrane von Doubleday, Kanada, für ihr frühes Vertrauen und ihre Ermutigungen. Robyn Karney, Korrektorin bei Orion Books, für ihre ausgezeichneten und scharfsinnigen Vorschläge. Und Emma Wallace und Genevieve Pegg, ebenfalls von Orion Books, für ihren überaus freundlichen Empfang. Dem hilfsbereiten und freundlichen Personal des British Postal Museum and Archive im Freeling House, Phoenix Place, London, für die freundliche Beantwortung meiner Fragen und dafür, dass sie mir Zugang zu Materialien in Zusammenhang mit der Geschichte der Penny Black gewährt haben. Meinen langjährigen Freunden und Krimikennern aus Saskatoon: Mary Gilliland sowie Allan und Janice Cushon, die mir das edwardianische Gegenstück des Internet an die Hand gaben: eine vollständige Ausgabe der Encyclopaedia Brittanica von 1911, die zweifellos der Traum eines jeden Kriminalschriftstellers sein dürfte. David Whiteside von der Bukowski Agency für seine treuen Meinen guten Freunden Dr. John Harland und Janet Harland, die mich auf jedem Schritt mit vielen nützlichen und oft brillanten Vorschlägen begleitet haben. Ohne ihren Enthusiasmus wäre dieses Buch ein weniger gutes Buch geworden, und es hätte auch viel weniger Spaß gemacht, es zu schreiben. Alle diese liebenswürdigen Menschen haben mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden; sollten sich trotzdem irgendwelche Fehler eingeschlichen haben, bin allein ich dafür verantwortlich. Schließlich und endlich erlaube ich - in Liebe und mit ewigem Dank an meine Frau Shirley, die mich dazu gedrängt, nein, darauf bestanden hat - Flavia und der Familie de Luce, sich endlich aus diesem Berg von Notizen zu erheben, in dem sie schon viel zu lange geschmachtet haben.